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Konsequenzen für die Tafelstudie

eine zeitdiagnostische Perspektive

4 K ONSEQUENZEN FLEXIBLEN Ü BERFLUSSES

4.2 Konsequenzen für die Tafelstudie

Im vorliegenden Kapitel ging es darum, neuere, von den reichen Überflussge-sellschaften ausgehende Entwicklungen zu erläutern, auf die sich die Tafeln selbst beziehen und auf die sie sich zugleich soziologisch reflektiert beziehen lassen. Dafür war es vor allem notwendig, zweifellos vorhandene Armut und Ausgrenzungen zum ebenso vorhandenen (Konsum-)Überfluss und dessen sozia-len und ökologischen Konsequenzen in Beziehung zu setzen. Armut und Aus-grenzung widersprechen einer Überflussperspektive nicht, durch die vielmehr ein Erkenntnis fördernder Blick auf diese Phänomene eröffnet werden kann.

Bereits in der Einleitung (I 3) wurde dargelegt, dass eine Mangelperspektive auf die Tafelarbeit der Sache nicht gerecht wird (vgl. Lorenz 2011). Die zeitdiagnos-tischen Überlegungen liefern weitere gute Gründe dafür: Zum einen bieten sie ein Verständnis von Quasi-Mangel an, der Entscheidungen zugunsten der Über-flussmehrung statt verbesserter Teilhabemöglichkeiten (und ökologischer Ver-träglichkeit) legitimieren lässt. Sie lassen zum anderen in der Überfluss-Begriff-lichkeit (Wahl, Gestaltung) eine eigene Deutung der Ausgrenzungsproblematik zu (keine Wahl haben, Festlegung auf Notwendigkeit); diese expliziert selbst Integrationsanforderungen, die über die bloße ¾1RWZHQGLJNHLWVYHUVRUJXQJ½ KLQ-aus weisen, nämlich Wahlmöglichkeiten in der Lebensgestaltung vorsehen.

Die Überflussgesellschaften haben Armut nicht überwunden und sogar neue-re Ausgneue-renzungsprobleme hervorgebracht. Was in den bisherigen Analysen zu Armut und Ausgrenzung aber kaum systematisch berücksichtigt wird, ist die so bedeutsame Rolle des Konsums. Sicherlich wird der Art und Weise des Kon-sums seit Bourdieu in Ungleichheitsuntersuchungen immer wieder nachgegan-gen.31 Was vor dem Hintergrund von Ausgrenzungsproblemen aber besonders interessieren muss, ist die Bedeutung des Konsumentenstatus selbst. Neben (nicht statt) der Arbeitslosigkeit, so könnte man sagen, bedarf es einer genaueren Berücksichtigung von ¾.RQVXPORVLJNHLW½DOVDXVJUHQ]XQJVUHOHYDQW'LH(PSLULH

31 Auch in der neueren US-amerikanischen Forschung zu Effekten des Wandels der Wohlfahrtspolitik wurden unter anderem Einflüsse auf das Konsumverhalten unter-sucht. Einen Einblick gibt Blank (2009: 41ff.). In Deutschland hat jüngst Bosch (2010) eine Studie vorgelegt, die sich mit »Konsum und Exklusion« befasst. Im Vor-dergrund steht dabei die Inklusionsbedeutung von (Konsum-¾'LQJHQ½.

(Kapitel V) wird dazu Anregungen und Einsichten liefern. Sie wird außerdem zu klären haben, wie sich das Tafel-Engagement dazu verhält (u.a. Kapitel IV 5.1) und welche Effekte es für den Konsumentenstatus der Tafelnutzenden hat. Über den Konsum im engeren Sinne hinaus kann die Heuristik des Wählens (können/

müssen) und des Keine-Wahl-habens Anhaltspunkte dafür liefern, den Ausgren-zungen empirisch nachzugehen. Außerdem wirft sie die Frage auf, welche Wahloptionen in der Lebensgestaltung den Tafelnutzenden durch Tafeln und Sponsoren eröffnet werden (können und sollen).

Die Annahme einer flexibilisierten Überflussgesellschaft nimmt sowohl den ausgedehnten (Konsum-)Überfluss als auch neuere Ausgrenzungen konzeptio-nell auf und sieht sie im Zusammenhang. Die Tafeln finden darin ihren gesell-schaftlichen Ort zwischen auseinander strebenden gesellgesell-schaftlichen Entwick-lungstendenzen, pointiert: zwischen ¾Konsumismus½ und ¾hEHUIOVVLJNHLW½ )OH-xibler Überfluss, so wurde herausgestellt, ist eine Gestaltungsaufgabe. In diesem Sinne erscheinen die Tafeln als eine gesellschaftliche Gestaltungsoption im flex-iblen Überfluss ± als eine neuere Form des Umgangs mit Überfluss, die zugleich den Zugang zum Überfluss zu erweitern anstrebt. Die gegenwartsdiagnostischen Analysen konnten genauer herausarbeiten, was in der Einleitung (I 2) bereits als Aufgabe formuliert wurde: Die Tafeln erscheinen gerade dort, wo die resultie-renden Spannungen gegenläufiger Entwicklungstrends am größten sind und die auseinander tretenden Entwicklungsrichtungen eine Konfliktlinie hervorbringen.

Analytisch verläuft die Konfliktlinie zwischen der Generierung immer weiterer Wahloptionen, mit sozial wie ökologisch problematischen Konsequenzen, einer-seits und dem Ausschluss von Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten anderereiner-seits.

Tafeln geben durch ihre Aktivitäten dieser gesellschaftlichen Verwerfungslinie eine Gestalt und bieten eine neue Verbindung an. Wie diese trennende Verbin-dung oder verbindende Trennung gestaltet wird, ist Gegenstand der empirischen Analysen.

Die Empirie wird eine relative Distanz zu den theoretischen Konzepten wah-ren. Die theoretischen Deutungen bieten Anregungen und analytische Unter-scheidungen, dürfen aber die Empirie nicht dominieren. Im Vordergrund stehen deshalb zunächst die empirischen Analysen, die im Schlusskapitel in Bezug auf die zeitdiagnostischen Überlegungen diskutiert werden.

In dieser Studie wird empirisch das Zusammenwirken, GLH¾9HUQHW]XQJHQ½, von Überfluss und Ausgrenzungen ausgehend von den Aktivitäten der Lebensmittel-Tafeln rekonstruiert. Es wird deshalb darum gehen, die Zusammenhänge von der Bereitstellung der Überschüsse durch Unternehmen, über die engagierte Samm-lung und wohltätige VerteiSamm-lung durch die Tafeln bis zu den Nutzenden dieser Unterstützungsangebote zu analysieren. Um dies zu realisieren, wird einem Ansatz gefolgt, der als prozedurale Methodologie entwickelt wurde (Lorenz 2007b, 2008, 2009a, Lorenz/Groß 2010a, b) und es erlaubt, die beteiligten hete-rogenen Akteursgruppen und ihre Aktivitäten ± in der methodischen Begrifflich-keit ± zu ¾YHUVDPPHOQ½Da die methodologischen Grundlagen und deren for-schungspraktische Umsetzung sich in den zitierten Aufsätzen dargelegt finden und ihre Ausführungen zudem weit über die Erfordernisse dieser Studie hinaus-führen würden, werden an dieser Stelle nur einige Grundlagen skizziert (1).

Bei den empirischen Untersuchungen werden die genannten Akteursgruppen im Vordergrund stehen und es kommen im Wesentlichen ± prozedural-metho-dologisch gerahmte ± fallrekonstruktive Mittel zum Einsatz. Der methodologi-sche Anspruch geht allerdings darüber hinaus, nämlich dahin, auch die materiale 9HUELQGXQJVOHLVWXQJ GHU ¾'LQJH½ EHUFNVLFKWLJHQ ]X N|QQHQ VLQG HV GRFK GLH Lebensmittel selbst, an denen ausgerichtet die Praxis der Tafeln organisiert wird, GLH LQVRIHUQ GLHVH 3UD[LV WUDJHQ XQG GLH $NWHXUH ¾YHUQHW]HQ½ )RUVFKXQJVSUDk-tisch wird das in dieser Studie nur demonstrativ und exkursorisch eingeholt (2).

Die ± im Folgenden nur angedeutete ± methodologische Fundierung versteht sich insofern als programmatische Begründung eines Forschungsansatzes, mit dem sich auch ¾'LQJH½-Analysen realisieren lassen, wie sie heute in den Kultur- und Sozialwissenschaften auf verbreitetes Interesse stoßen. Im Exkurs jedenfalls wird vorgeführt, wie mit den fallrekonstruktiven Mitteln die Einbeziehung der

¾'LQJH½ GDV KHL‰W GHU /HEHQVPLWWHOEHUVFKVVH GHU UlXPOLFKHQ 6LWXLHUXQJ XQG der technischen Infrastruktur der Tafelarbeit, umzusetzen ist. Insofern dafür das

Beispiel einer Tafelgründung herangezogen wird, können daran bereits erste empirische Erkenntnisse in der Tafelanalyse gewonnen werden. Im Anschluss wird die Datenauswahl für die folgenden empirischen Analysen kommentiert (3).

1 G

RUNDLAGEN

Die prozedurale Methodologie kombiniert bewährte Methoden fallrekonstrukti-ver Sozialforschung mit einem Netzwerkansatz, nämlich mit einer prozedural interpretierten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) in Gestalt des Verfahrensmo-dells, das Bruno Latour (2001) im »Parlament der Dinge« entwickelte. Der inne-re Zusammenhang des ¾parlamentarischen½ Modells mit den Entwicklungen der ANT ist zweifellos gegeben, wie ein Rückgang auf das ältere Phasen-Modell der Netzwerkkonstruktion von Michel Callon (2006 [1986]) zeigen kann (Lorenz 2008). Für eine prozedurale Methodologie ist freilich entscheidender, diese Modelle zu abstrahieren und als Verfahrensmodelle zu bestimmen. Stellenwert und Eignung eines prozeduralen Vorgehens erweisen sich in dem Maße, in dem sich wissenschaftliches Arbeiten als prozedurales verstehen lässt, in dem sich also Methoden als Verfahren verstehen lassen (Lorenz 2009a).

Zwar ist es völlig geläufig, begrifflich Methode und Verfahren synonym zu verwenden. Eine grundlegende Reflexion des wissenschaftlichen Arbeitens als verfahrensförmiges findet sich dagegen nicht. Ansetzen lässt sich in diesem Sin-ne mit Habermas (1992: 42, kursiv im Orig.), wenn er schreibt:

»Demgegenüber [d.h. gegenüber materialer Rationalität metaphysischen Denkens; S.L.]

vertrauen die modernen Erfahrungswissenschaften und eine autonom gewordene Moral nur noch der Rationalität ihres eigenen Vorgehens und ihres Verfahrens ± nämlich der Methode wissenschaftlicher Erkenntnis oder dem abstrakten Gesichtspunkt, unter dem moralische Einsichten möglich sind. Die Rationalität (...) hängt ab von der Vernünftigkeit der Prozeduren, nach denen man Probleme zu lösen versucht ± empirische und theoreti-sche in der Gemeinschaft der Fortheoreti-scher und im organisierten Wissenschaftsbetrieb, mora-lisch-praktische Probleme in der Gemeinschaft der Bürger eines demokratischen Staates und im Rechtssystem.«

Daran ist zu sehen, dass wissenschaftliches Arbeiten als methodisches grund-sätzlich verfahrensförmig verläuft. Dies ist die methodologische Basis allen (modernen, nachmetaphysischen) wissenschaftlichen Arbeitens. Aber nicht nur Erkennensprozesse müssen auf diese Weise vollzogen werden, sondern auch

Entscheidungs- und Legitimationsprozesse in Recht, Politik und Moral. Berück-sichtigt man zudem, dass solche Prozesse auch gesellschaftliche Verhältnisse ge-stalten und hervorbringen, dann dienen Verfahren nicht nur dem Erkennen und Legitimieren, sondern auch der Konstitution. Ganz in diesem Sinne werden üb-licherweise auch produktive Herstellungsprozesse als Verfahren aufgefasst (Her-stellungs-/Fertigungsverfahren). Für die Methodologisierung letzterer unterbrei-tet GDV¾SDUODPHQWDULVFKH½9HUIDKUHQVmodell Latours (2001) ± wie auch Sennetts (2008) »Handwerk« (vgl. Lorenz 2010b) ± wichtige Anregungen.

Verfahrensförmigkeit eröffnet einer prozeduraler Methodologie damit nicht nur Möglichkeiten inter-, sondern auch transdisziplinären Arbeitens. In dem Maße, in dem sich die zu untersuchende Wirklichkeit selbst als sich verfahrens-förmig konstituierende, legitimierende und erkennende auffassen lässt, bietet sich gewissermaßen eine geteilte Kooperationsbasis für wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Akteure. Für die Wissenschaft begründet sich darin der Anspruch einer Re-Konstruktionsmethodologie, das heißt die Analyse folgt den Konstruktionsprozessen der zu untersuchenden Wirklichkeit.

Ein solcher methodologischer Ansatz muss in zweierlei Hinsicht präzisiert werden: zum einen bedarf es eines umfassenden und damit abstrakten Verfah-rensverständnisses (a), zum anderen der Konkretisierung sowie der Möglichkei-ten einer forschungspraktischen Umsetzung (b).

Zu a) Zunächst zur Entwicklung eines allgemeinen Verfahrensmodells, das davon profitieren konnte, dass in den Bereichen von Recht und Politik, in denen Verfahrensreflexionen üblich sind, theoretische Vorarbeit geleistet wurde (Lo-renz 2009a, vgl. Habermas 1994, Luhmann 1997a). Im Zuge der historischen Positivierung des Rechts bieten Verfahren Möglichkeiten, Entscheidungen zu finden und zu legitimieren, ohne sich auf transzendente Letztbezüge stützen zu können. Damit ist freilich in Recht und Politik nur beschrieben, was gesamtge-sellschaftlich als Modernisierung oder Enttraditionalisierung erfahren wird und sich in analoger Weise in den Wissenschaften niederschlägt; auch hier gibt es keine Letztbegründung. Strukturell ist so wenig verwunderlich, dass es hier ebenso verfahrensförmige Operationen sind, die zu Entscheidungen bezie-hungsweise zu Erkenntnissen führen. Erweitert man also die vor allem an Legi-timierung interessierten Arbeiten aus Recht und Politik um erkennende und konstitutive Aspekte, lässt sich ein allgemeines Verfahrensmodell skizzieren.

Dessen allgemeine Funktion ist es, Unbestimmtheit in Bestimmungen zu transfe-rieren ± seien es nun Rohstoffe in Produkte, Streitfragen in Urteile oder wissen-schaftliche Fragen in Erkenntnisse. Sie müssen dabei in Situationen komplexer Offenheit ohne Letztbezugspunkte auskommen können. Sie stehen somit vor einer doppelt widersprüchlichen Aufgabe: Zum einen müssen sie einen

Über-gang von Unbestimmtheit in Bestimmung gestalten, ohne dabei aber die Unbe-stimmtheit letztgültig aufzuheben, also neue Letztbezüge zu etablieren; sie sollen einen Umgang mit Ungewissheit ermöglichen, diese aber nicht abschaffen. Zum anderen müssen sie Strukturvorgaben bieten, dürfen aber nicht determinieren; sie sollen Festlegungen ermöglichen, aber nicht erzwingen. Sie bieten Anhaltspunk-te dafür, wie man zu ¾Etwas½ kommt, legen aber nicht fest, was dies genau sei.

Verfahren müssen deshalb strukturiert sein, das heißt sie müssen es erlauben, Unbestimmtheit sukzessive ¾kleinzuarbeiten½ und können gerade deshalb zu

%HJLQQHLQHUVSH]LILVFKHQ9HUIDKUHQVJHVFKLFKWH¾LQGHU6DFKH½YLHOHVRIIHQODs-sen. Erforderlich ist ein schrittweises Prozedere mit einer Reihe von Verfahrens-aufgaben, die nach und nach abzuarbeiten sind. Damit werden die wichtigsten Verfahrensaufgaben sichtbar und zeigen in schematischer Skizze ein allgemeines Verfahrensmodell:

Unbestimmt- Offenheit Verhandlungen/ Festlegung Bestimmung heit (Bezugs- Selektionen (¾Etwas½)

problem)

Reflexiver Lernprozess

Abbildung: Allgemeines Verfahrensmodell

Die erste Aufgabe ist es, Offenheit für Neues zuzulassen. Die (vorläufig) letzte Aufgabe ist dann das Gegenteil dessen, nämlich die Festlegung auf eine Be-stimmung; Verfahren müssen zu etwas (einer Entscheidung, Konstituierung, Erkenntnis) führen. Dazwischen müssen Verhandlungen, Prüfungen, Selektionen schrittweise vollzogen werden. Schließlich sollen und können aber Verfahren die Offenheit gegenüber Komplexität dabei nicht endgültig beseitigen, sondern müssen sie bewahren. Deshalb ist es ihre vierte Aufgabe, einen reflexiven Rück-bezug von der festgelegten Bestimmung auf die Unbestimmtheit zu erhalten. Nur durch diese Dynamisierung kommt es zu rekursiven Lernprozessen, das heißt nur dadurch kann die Bestimmung zu einem späteren Zeitpunkt wieder anders ausfallen ± das Gerichtsurteil kann angefochten werden, Politiker müssen sich periodisch erneut der Wahl stellen, Gesetze können neu erlassen oder

aufgeho-ben werden und wissenschaftliche Erkenntnisse werden überprüft. Ergebnisse sind immer Zwischenergebnisse ± eine prinzipielle Aussage, denn das ¾ Zwi-VFKHQ½VROFKHU)HVWOHJXQJHQNDQQVLFKUHDOLWHUDOVlX‰HUVWDXVGDXHUQGHUZHLVHQ1 Man denke etwa an wissenschaftliche Paradigmen. Dieses Modell lässt sich mit Latours (2001¾SDUODPHQWDULVFKHm½9HUIDKUHQVNRQ]HSW]XHLQHPVLHEHQVWXILJHQ differenzieren.2

1 Dies entspricht dem Oevermannschen Verständnis des methodologischen Vorrangs der Krise vor der Routine, der Transformation vor der Reproduktion (Oevermann 2000: 72ff., 132ff.). Während im Alltag viele Routinen greifen und die zu neuer Strukturierung zwingende Krise eher den Ausnahmefall bildet, muss methodologisch MHGH6HTXHQ]VWHOOHGHU]XXQWHUVXFKHQGHQ3UD[LVDOV¾.ULVH½DOVRDOVHQWVFKHLGXQJVRf-fen und transformationsträchtig angesehen werden. Das sichert, dass mehr Optionen als nur die jeweils empirisch realisierte in den Blick kommen und damit zugleich, dass die Selektionskriterien in den Entscheidungsprozessen analysierbar werden. Die me-thodische Maxime der Akteur-Netzwerk-Theorie, follow the actors, verdeckt dies ten-denziell und vergibt sich so Rekonstruktionspotenziale. Im Latourschen Verfahrens-modell siFKHUQ GDJHJHQ ¾*HZDOWHQWHLOXQJ½ XQG ¾9HUODXIVNRQWUROOH½ GDVV DOWHUQDWLYH 2SWLRQHQ QLFKW ¾YHUVFKZLQGHQ½ VHOEVW ZHQQ VLH VLFK YRUOlXILJ QLFKW GXUFKVHW]HQ Auch bei Boltanski/Chiapello (2003: 150) findet sich ein vergleichbarer Problem- o-der Krisen-Fokus: ª'LHVH%HZlKUXQJVSUREHQVLQG«FKDUDNWHULVWLVFKHUZHLVHJHUDGH diejenigen Momente, in denen ein Projekt zu Ende geht und die Beteiligten nach einer neuen Beschäftigung Ausschau halten.« Der Ansatz von Boltanski/Chiapello lässt sich ebenfalls als ein prozeduraler rekonstruieren. Sie fragen nach Möglichkeiten der

»Handlungskoordination in Situationen der Rechtfertigung« und finden sie »in Ana-logie zu juristischen Prozessen« im »Prozess der Prüfung« (Potthast 2001: 552, 553) realisiert. Bei Boltanski/Chiapello (2003: 683, Anm. 74) heißt es schließlich entspre-chend: »Die Verrechtlichung stellt in der Polisordnung die höchste Entwicklungsstufe dar.«

2 Zentral sind die vier ersten Verfahrensschritte, die auch etwa dem Modell der Netz-werkkonstruktion Callons (2006) entsprechen (vgl. Lorenz 2008) und sich in der ein oder anderen Form auch in seinen späteren Schriften wieder finden bzw. aufzeigen lassen. So diskutiert Latour (2007b) in einem Aufsatz detaillierter sein Politikver-ständnis. Er unterscheidet dabei fünf Politikauffassungen, denen er jeweils bestimmte politische Theorien zuordnet. In seinem Verständnis sind dies alles Aspekte von dem, was er Kosmo- oder Ontopolitik nennt. Liest man den Text im hier vorgeschlagenen Sinne prozedural, sieht man zweierlei. Erstens steht Kosmopolitik für die ausgeführte grundsätzliche Prozeduralisierung ± Politik bedeutet auf dieser Ebene die Notwendig-keit des Operierens ohne transzendente Letztbezüge. Zweitens findet man auch hier

Bleibt zu ergänzen, dass sich mit einer prozeduralen Rekonstruktionsmetho-dologie auch zeigen lässt, wo Verfahrensaufgaben (konstitutive, normative und erkennende) nicht erfüllt werden beziehungsweise wo sie aufgrund von Interes-sen- und Machtkonstellationen verkürzt, umgangen oder blockiert werden. Dar-aus resultiert ein kritisches Potenzial der prozeduralen Methodologie, denn man kann nun fragen: Werden die Verfahren eingehalten und die Aufgaben adäquat erfüllt? Konstituiert sich die ± wie immer geartete ± Versammlung auf ¾demo-kraWLVFKH½:HLVHXQGZDVKHL‰WGDVNRQNUHW",PHLQ]HOQHQ:LHRIIHQLVWGDV Verfahren beziehungsweise wird etwas/jemand ausgeschlossen? 2. Welche Prü-fungen kommen zum Einsatz, welche Verhandlungen werden geführt, welche Selektionen eingeschlagen? Sind sie angemessen, ausreichend? 3. Erfolgt eine Festlegung? Wie? 4. Inwiefern sind die Festlegungen Ausgangspunkt bezie-hungsweise Teil eines reflexiven Lernprozesses?

Zu b) Neben dem allgemeinen Verfahrensverständnis wurden Konkretisie-rungen gefordert. Denn Erkenntnisse bietet nicht das ebenso umfassende wie abstrakte Modell selbst, sondern der Bezug darauf bei der Bearbeitung konkreter Fragestellungen. Es sind deshalb viele Unterscheidungen von Verfahrenstypen denkbar, die sich problembezogen treffen lassen. Genannt wurde bereits die Unterscheidung in (je vorrangig) erkennende, legitimierende oder konstituieren-de Verfahren. Aber auch Luhmanns (1997a) Unterscheidung in programmieren-de und programmierte Verfahren kann hilfreiche Differenzierungen leisten (vgl.

Lorenz 2009a). In Latours (2001) Verfahrensmodell sind es die so genannten Berufsstände, die spezifische Verfahrenstypen mit besonderen Kompetenzen bearbeiten. Erkenntnisgewinne bieten also erst die konkretisierten Verfahren beziehungsweise deren ± gegebenenfalls komparative ± Rekonstruktion.

Die Latoursche Deutung der Berufsstände ermöglicht zudem eine Verbin-dung zur Forschungspraxis. Denn als Berufsstände treten sie nicht etwa als Spe-zialisten für bestimmte Verfahrensschritte auf, sondern verfügen über je beson-dere Kompetenzen, mit denen sie zu allen Verfahrensaufgaben beitragen.3 Die die vier ersten Verfahrensschritte seines Modells wieder. Sie stehen jeweils für ein ei-genes Politikverständnis bzw. einen bestimmten Aspekt von Politik. Die Differenz von vier Verfahrensschritten zu fünf Politikkonzepten ergibt sich daraus, dass die Po-litikverständnisse drei und vier eigene Varianten der Verfahrensaufgabe drei (Hierar- FKLHUHSUlVHQWLHUHQYJOlKQOLFK/DX[¶5HNRQVWUXNWLRQGHU/DWRXUVFKHQSROLWi-schen Theorie).

3 Daran wird noch einmal der doppelte Politikbegriff Latours deutlich (vgl. Fußnote ]XYRU 'DV ¾3DUODPHQW GHU 'LQJH½ VHtzt durch verschiedenste Akteure und Berufs-stände das »Kollektiv«, die »gemeinsame Welt« aus »menschlichen und

nicht-Kompetenzen der Wissenschaften zeigen deshalb an, wie sich wissenschaftlich zur Bearbeitung der Verfahrensaufgaben beitragen lässt, also: wie wissenschaft-lich zu arbeiten ist. An den Verfahrensaufgaben und wissenschaftwissenschaft-lichen Kompe-tenzen entlang lassen sich nun konkrete Forschungsmethoden deklinieren. Wäh-rend die ethnographisch inspirierte ANT hier vergleichsweise unbestimmt bleibt, liegen bewährte Methoden und Techniken fallrekonstruktiver Forschung vor, so dass es sich anbietet, innerhalb des entwickelten methodologischen Rahmens von den erprobten Forschungsmitteln und Erfahrungen zu profitieren. Mit der Zusammenführung von Verfahrensmodell, Latourscher politischer Ökologie und fallrekonstruktiver Forschungspraxis ± konkret orientiert an Grounded Theory (Strauss 1994, Strauss/Corbin 1996) und Objektiver Hermeneutik (Oevermann 2000, 2002) ± ist eine tragfähige Grundlage der hier angestrebten empirischen Analysen gegeben (vgl. Lorenz 2007b).