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1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

1.1.3 Komorbidität

Neben ADHS können zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Bei bis zu zwei Drittel aller Kinder mit ADHS werden komorbide Störungen diagnostiziert (Biederman, Newcorn & Sprich, 1991; Jensen, Martin & Cantwell, 1997). Laut Döpfner, Frölich und Kollegen (2000) zählen zu den häufigsten Komorbiditäten oppositionelle Verhaltensstörun-gen, aggressive oder dissoziale Störungen des Sozialverhaltens, depressive StörunVerhaltensstörun-gen, Angststörungen, Lernstörungen und Teilleistungsdefizite sowie Tic-Störungen.

1.1.3.1 Aggression bzw. Störung des Sozialverhaltens

In klinischen Stichproben weisen bis zu 50% aller Kinder mit ADHS zusätzlich eine oppositionelle Störung auf, die sich in aktivem Widersetzen gegenüber Anweisungen von Erwachsenen äußert. Ungefähr 30 bis 50% zeigen eine Störung des Sozialverhaltens mit aggressiven oder dissozialen Verhaltensauffälligkeiten (Döpfner, 2002; Döpfner et al., 1999).

Es gibt Geschlechtsunterschiede bezüglich der Entwicklung einer Komorbidität mit diesen Störungen. Mädchen mit ADHS haben ein geringeres Risiko, eine Störung des Sozialverhal-tens oder eine Störung des oppositionellen TrotzverhalSozialverhal-tens zu entwickeln als Jungen mit ADHS (Biederman et al., 2002; Jensen et al., 1997).

Scheithauer und Petermann (2002) beschreiben, dass ADHS-auffällige Kinder aufgrund ihrer erhöhten Impulsivität über eine deutlich geringere Frustrationstoleranz verfügten, die sich durch Wutausbrüche äußere. Nach einer Studie von Zalecki & Hinshaw (2004) stieß dieses aggressive Verhalten bei Gleichaltrigen auf Ablehnung und wurde negativ bewertet.

Die Kombination von ADHS und einer Störung des Sozialverhaltens spielt eine bedeu-tende Rolle bei der Entwicklung von weiteren Störungen. Flory und Lynam (2003) stellten in einem Überblick über die Literatur fest, dass bei einer Komorbidität von ADHS und einer Störung des Sozialverhaltens das Risiko für Substanzmissbrauch höher sei, als wenn beide Störungen alleine aufträten. Laut einer Studie von Treuting und Hinshaw (2001) berichteten aggressive Jungen mit ADHS über mehr depressive Symptome als nicht-aggressive Jungen mit ADHS. Diese hatten wiederum mehr depressive Symptome als die Kontrollgruppe.

Zudem zeigten aggressive Jungen mit ADHS einen niedrigeren Grad an Selbstwertgefühl als nicht-aggressive Jungen mit ADHS und Jungen aus der Kontrollgruppe. Modestin, Matutat und Würmle (2001) schlossen aus ihrer Studie, dass die Störung des Sozialverhaltens als Mediator bei Verbindungen zwischen ADHS und psychoaktivem Substanzmissbrauch diene.

Mit ihrer Familienstudie trugen Biederman, Munir und Knee (1987) zur Klärung des genetischen Beitrags bei der Entwicklung dieser beiden Störungen bei. Die Forscher zeigten, dass das familiäre Risiko für antisoziale Störungen unter Verwandten von Kindern mit ADHS mit komorbider Störung des Sozialverhaltens höher ist als unter Verwandten von Kindern ohne Störung.

Aufgrund der hohen Überschneidungen von aggressiven Störungen und ADHS besteht in der Forschung Unklarheit, ob eine Differenzierung in zwei Diagnosegruppen Sinn macht.

Es lässt sich jedoch belegen, dass in diesen zwei Gruppen tatsächlich voneinander abgrenzbare Verhaltensmuster zu finden sind. Werry, Elkind und Reeves (1987) beispielswei-se bestätigten in ihrer Untersuchung, dass die Jungen-Mädchen Relation bei ADHS

wesentlich extremer war als bei Störungen des Sozialverhaltens. Außerdem zeigte sich bei Patienten, die ausschließlich ADHS aufweisen, ein günstigerer Verlauf als bei Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens, unabhängig von einer komorbiden ADHS (Modestin et al., 2001). Trotzdem wird über einen abgegrenzten aggressiven ADHS-Subtypus diskutiert, welcher ADHS und Störung des Sozialverhaltens vereint (Biederman et al., 1991; Biederman, Faraone & Lapey, 1992; Jensen et al., 1997). Insgesamt gibt es Hinweise, dass diejenigen ADHS-Kinder mit einer komorbid aggressiven Verhaltensstörung den ungünstigsten Verlauf aufweisen und stärker psychisch gestört sind. Zudem ist das Potenzial für die Remission einer Störung des Sozialverhaltens verringert (Anderson et al., 1987; Döpfner, 2002; Hinshaw, 1987; Werry et al., 1987).

1.1.3.2 Akademische Leistungsfähigkeit bzw. Lernstörung

In klinischen Stichproben werden Lernstörungen und Schulleistungsdefizite bei Kindern mit ADHS in stark ausgeprägter Form bei etwa 10% bis 25% diagnostiziert (Biederman et al., 1991). Bei Mädchen mit ADHS treten seltener Lernstörungen auf und sie haben weniger Probleme in der Schule und in der Freizeit (Biederman et al., 2002). ADHS-Kinder sind schlechter in der Schule, Aufmerksamkeitsdefizite können ihre Lernleistung beeinträchtigen.

Faraone und Kollegen (1993) zeigten in ihrer Studie, dass Kinder mit ADHS häufiger Klassen wiederholten, in spezielle Klassen versetzt wurden und Nachhilfe erhielten. Döpfner (2002) beschreibt, dass mit zunehmendem Alter auch Sekundärstörungen wie ein vermindertes Selbstwertgefühl und schulische Misserfolgserfahrungen auftreten und eine Abnahme der schulischen Leistungsmotivation und somit Leistungsdefizite verursachten könnten.

Mayes, Calhoun und Crowell (2000) fanden heraus, dass ADHS-Kinder mit einer ko-morbiden Lernstörung größere Lernprobleme hatten als Kinder, die unter einer reinen Lernstörung litten. Außerdem hatten sie mehr Aufmerksamkeitsprobleme als Kinder mit einer reinen ADHS. Semrud-Clikeman und Schafer (2000) stellten in ihrer Studie fest, dass ADHS-Kinder mit einer komorbiden Lernstörung ein hohes Maß an sozialem Distress und ein geringes Maß an sozialer Kompetenz erlebten. Diese sozialen Probleme zogen sich bis ins Jugend- und spätere Erwachsenenalter hinein und äußerten sich dann in Psychopathologie und sozialem Versagen.

Obwohl Lernstörungen relativ häufig komorbid mit ADHS auftreten, sind diese beiden Störungen nicht zwingend aneinander gekoppelt. Einige Kinder mit ADHS zeigen adäquate Leistungen und nicht alle Kinder mit Lernstörungen weisen eine ADHS auf. Zudem treten schlechte akademische Leistungen bei ADHS auch ohne komorbide Lernstörung auf (Barkley, 1998). Dies spricht für eine mögliche Unabhängigkeit dieser beiden Störungen.

Dagegen können sie jedoch auch bei manchen Personen überlappen (Interagency Committee on Learning Disablilities, 1987, zitiert in Biederman et al., 1991).

1.1.3.3 Weitere komorbide Störungen

Zwischen 10 und 40% aller Kinder mit ADHS haben zusätzlich eine affektive, vor allem eine depressive Störung (Biederman et al., 1991; Döpfner, Frölich et al., 2000; Jensen et al., 1997), wobei Mädchen ein geringeres Risiko für eine komorbide Major Depression haben als Jungen mit ADHS (Biederman et al., 2002). 20-25% aller Kinder mit ADHS weisen eine komorbide Angststörung auf (Biederman et al., 1991; Döpfner, Frölich et al., 2000; Jensen et al., 1997). Da normalerweise externale Auffälligkeiten eines Kindes im Vordergrund stehen, bereitet die Diagnose komorbider Angststörungen oftmals Schwierigkeiten. Obwohl es Hinweise für eine unabhängige genetische Vererbung von ADHS und Angststörungen gibt, zeigt ihr gemeinsames Auftreten qualitative Unterschiede in Bezug auf das Ansprechen auf Behandlungen und Behandlungsergebnisse. Jensen und Kollegen (1997) schlugen aufgrund dessen eine zusätzliche Kategorie vor: ADHS, ängstlicher Subtypus.

Bei bis zu 30% aller Kinder und Jugendlichen mit ADHS treten Tic-Störungen oder das Tourette-Syndrom auf. Borderline-Persönlichkeitsstörungen sind ebenfalls bei ADHS-Patienten in erhöhtem Maße vertreten (Biederman et al. 1991; Döpfner, Frölich et al., 2000).