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Kleiderordnungen und Landesbeschreibungen

Annäherungen an die „Tracht“

II. Ordnungen und Inszenierungen

1. Kleiderordnungen und Landesbeschreibungen

Kleiderordnungen

Unter Kleiderordnungen hat man hier jene obrigkeitlichen Erlasse und Gebote zu verstehen, die seit dem Mittelalter von Stadt- und Territorialre-gierungen erlassen wurden.69 Sie wiesen der Bevölkerung nach Ständen aufgeteilt einen je eigenen Kleidungsrahmen zu. Die historische Kleidungs-forschung zieht diese Quellengruppe heran, um sich über die rechtlich-administrativen Bedingungen historischer Kleidung zu vergewissern und deren Einfluss auf die Kleidungspraxis zu prüfen. Meist stellt sich dabei heraus, dass die Kleiderordnungen für die Erforschung der Kleidung unterer Bevölkerungsschichten nur einen geringen Informationsgehalt haben.70 Sie enthalten in der Regel zwar in Form des Ausschlusses alles, was hauptsäch-lich an Materialien diesen Schichten nicht erlaubt war, im Sinne einer posi-tiven Formulierung aber meist nur Wertangaben, die nicht überschritten werden durften, und die Festlegung auf einheimische Materialien. Ebenso enthalten sie manchmal die für die Überschreitung angesetzten Sanktionen.

Informationen zur tatsächlich getragenen Kleidung kann man von ihnen kaum erwarten. Dafür waren sie ein viel zu träges Medium. Sie konnten immer nur auf die modischen Veränderungen der Gesellschaft reagieren und ihre Forderungen jeweils wieder anpassen.

Kleiderordnungen können für die Forschung nutzbar gemacht werden, wenn man sie nicht als direkte Quelle betrachtet, wie es die Kostümfor-schung versucht hat, sondern sie danach befragt, welche Interessen an der Kleidung unterer Bevölkerungsschichten in ihnen abgebildet werden. Als Teil der Policeyordnungen des Alten Reichs geben sie die ordnungspoliti-schen Vorstellungen ihrer Zeit wieder. Die in ihnen formulierten vestimen-tären Vorstellungen sagen möglicherweise etwas aus über die Rolle, die Kleidung bei der Herstellung oder Wahrung gesellschaftlicher Ordnungen spielen kann. Allerdings tun sie dies nur aus der Perspektive der Obrigkeit.71

69 Kleiderordnungen sind uns zwar schon aus der Antike bekannt, aber erst die frühneuzeit-lichen Herrschaften haben versucht, damit eine systematische Ordnungspolitik zu betrei-ben. Innerhalb dieses Vorgangs stellen sie etwas Neues dar, auch wenn ihr Regelungsge-genstand nicht neu ist.

70 So hat Christoph Daxelmüller im gleichen Zusammenhang wie oben darauf hingewiesen, dass diese Quellengattung für die Erforschung unterer Schichten weitgehend unergiebig sei. Christoph Daxelmüller: Quellenkritische Anmerkungen zur Trachtenforschung am Beispiel Franken. S. 227f.

71 In diesem Sinne sind die Policeyordnungen insgesamt einzuschätzen. Achim Landwehr stellt dazu aus Sicht der historischen Implementationsforschung fest: „Bei der Untersu-chung obrigkeitlicher, anspruchsetzender Normen gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass

Dennoch wird ihnen in der Kleidungsforschung oft im Sinne einer longue durée, einer im kulturellen Gedächtnis verankerten Dauer, eine lang andau-ernde Wirkung zugeschrieben.

Der Frage, ob es eine solche Wirkung auf die Kleidungspraxis gegeben hat, wird diese Arbeit, soweit es das Material zulässt, in ihrem zweiten Hauptteil an Hand der Besitzverzeichnisse nachgehen. Die zeitliche Diffe-renz zwischen der letzten württembergischen Kleiderordnung von 171272 und dem Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ist im Sinne einer longue durée kein Widerspruch. Es wird zu prüfen sein, von welcher Wirkungsdau-er so lange zurückreichende Ordnungen gewesen sein könnten. Im Sinne einer Geschichte des Interesses an ländlicher Kleidung soll hier die würt-tembergische Kleidungsgesetzgebung nachgezeichnet und auf ihre vesti-mentären Ordnungsvorstellungen hin befragt werden.

„Von unordentlicher und kostlicher Kleidung“

– Württembergische Kleiderordnungen

Herzog Ulrich (1487–1550) erließ im Jahr 1549 die erste Policeyordnung in Württemberg. Er reagierte damit auf die 1548 verabschiedete kaiserliche Reichspoliceyordnung. Diese war auf dem Reichstag in Augsburg beschlos-sen worden und enthielt – bei Androhung von Strafzahlung – die Verpflich-tung an die Reichsfürsten, sie binnen eines Jahres zu übernehmen und auf ihre jeweiligen Verhältnisse hin näher auszuführen.73 Zu den Gegenständen der Ordnung sollte auch der Bereich der Kleidung gehören („Von unor-dentlicher und kostlicher Kleidung“ überschrieben). Die Reichsordnung gab dafür die Rahmenbedingungen vor, regelte Genaueres aber nur für Adel, Doktoren, Grafen und Herren. Die übrigen Gesellschaftsschichten waren der Regelung durch die Territorialherren anheimgestellt.

Herzog Ulrich bzw. sein Großer Rat schaffte es auch binnen eines Jahres, seine eigene Policeyordnung folgen zu lassen. Das gelang vor allem

es sich dabei um Quellen aus herrschaftlicher Perspektive handelt, die über die Verhält-nisse in einem Dorf irgendwo in der Provinz keine Aussagen zulassen.“ Achim Lan d-wehr: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Le-onberg. Frankfurt/Main 2000, S. 32.

72 Es handelt sich um die letzte Fassung im Rahmen der Policeyordnungen. 1739 beruft sich ein Generalreskript „betreffs der Beförderung der Religiosität und Sittlichkeit“ des Her-zogs formelhaft nochmals auf die Einhaltung, der noch „in medio“ seienden Policeyor d-nung. Aber eine Konkretisierung findet nicht mehr statt. Vgl. A.L. Reyscher (Hg): Voll-ständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze Bd. 14. Tübingen 1841, S. 220–231, 17. Teil.

73 Über die Vorgänge der Findung und Verabschiedung der Reichspoliceyordnung siehe:

Ulrike Ludwig: Der Entstehungsprozess der Reichspoliceyordnung auf dem Reichstag von Augsburg 1547/48. In: Karl Härter: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Frank-furt 2000, S. 384–411, hier S. 406.

halb, weil man die Vorgaben der Reichsordnung beinahe 1:1 übernahm.

Den Bereich, den der Landesherr durch eigene Regelungen füllen sollte, nämlich den der Kleiderordnung für die bürgerlichen und bäuerlichen Ein-wohner des Landes, übernahm man kurzer Hand und ohne große Anpassung aus der vorherigen Reichspoliceyordnung von 1530. Hier war der Bereich der nicht-adligen und nicht-herrschaftlichen Bevölkerung im Gegensatz zu 1548 schon einmal ausführlich vom Reichstag bearbeitet worden. Insbeson-dere die Passage „Von Pauersleuten auf dem Lannd“ ist bis auf wenige kleine Abweichungen wörtlich aus der Reichsverordnung von 1530 über-nommen.74 Für die zwei darüber rangierenden Gruppen der „Burger und Einwoner in Stetten“ und der Kauf- und Gewerbeleute samt der städtischen Funktionsträger machte man sich schon mehr Mühe und veränderte den Text stärker, wenn auch die Vorlage immer wahrnehmbar bleibt. Die Best-immungen für die Landbewohner sind also nicht an die württembergischen Gegebenheiten angepasst worden. In seiner Vorrede zur Policeyordnung erörtert der Herzog diese Vorgänge und weist auf die aktive Übernahme auch indirekt hin („so haben wir die Policei ordnung mit fleiß besichtigen durchlesen und erwegen, Und befunden, das darin vil artickel begriffen, die wir hiervor in unser in truck ausgegangenen Landesordnung einverleibt, auch sonst in unsern verkündeten Mandaten zuhalten, oder zumeiden gebie-ten und verbiegebie-ten lassen“75). Dass er sich dabei aber auf den Wortlaut der Kleiderordnung von 1530 bezog, die eigentlich von der neuen abgelöst werden sollte, macht er nicht deutlich. Schon dieser Vorgang des Rückgriffs auf eine fast 20 Jahre alte Vorlage zeigt, dass sich in diesen Ordnungen keine zeitgemäße und schon gar keine regionalspezifische Kleidung abbil-den kann.

Übersetzt man den altertümlichen Text, so erfährt man, dass der gesell-schaftlichen Schicht der Bauersleute auf dem Land keine anderen als inlän-dische, „in deutscher Nation“ gemachten Stoffe zur Verfügung stehen soll-ten und dass mit ihnen sparsam umzugehen sei. Männer durfsoll-ten lediglich für Hose und Wams einen etwas besseren Stoff wählen. Ihr Rock sollte nicht über sechs Falten breit sein und das Wams keine zu weiten Ärmel haben. Auf keinen Fall sollte die Kleidung zerschnitten und zerstückelt sein, das heißt, nach der für verschwenderisch und unanständig gehaltenen, heute noch als Landsknechtkleidung bekannten Art und Weise. Weiters sollte keine Auszier an der Kleidung sein aus Gold, Silber und Perlen oder Seide, keine ausgestickten Hemdkrägen, keine Straußenfedern und seidene Bändel.

74 Wortlaut der Reichspoliceyordnungen siehe: Neue Sammlung der Reichsabschiede, Teil I und II. Frankfurt/Main 1747, Neudruck Osnabrück 1967, S. 336ff und S. 593ff.

75 Text der Policeyordnung vom 30. Juni 1549 zitiert nach Reyscher. Bd. 12. Tübingen 1841, S. 148–167, hier S. 151.

Barette waren verboten, statt dessen sollten die Männer auf dem Land Hut und Kappe tragen. An diesen stofflichen Rahmen sollten auch Frauen und Kinder gebunden sein. An die Röcke sollten Frauen nicht mehr als einen Besatz anbringen dürfen. Gold, Silber, Perlen und Seide in jeder Form wa-ren mit einer Ausnahme verboten: unverheiratete Frauen konnten Haarband und Gürtel aus Seide tragen. Pelz war nur von Geißen, Lämmern und in ähnlich niederen Qualitäten und nur unverbrämt erlaubt.

Die württembergische Kleiderordnung von 1549 verbietet ausländische Produkte für die Kleidung der Landbewohner. Sie verlangt aber nicht, sich auf württembergische Produkte einzuschränken, weil sie beim Kopieren der Reichsordnung deren Verständnis von inländisch (= „in deutscher Nation gemacht“), das sich auf das gesamte Reichsgebiet bezog, übernahm. In den folgenden Ordnungen ist zwar nur noch von „inländisch“ die Rede, aber die topische Wiederholung dieser Forderung verliert durch ihre anfängliche Ungenauigkeit doch etwas von ihrer Strenge und ihrer Intention der Praxis-regulierung.

Die Kleiderordnung zielte mit ihren Geboten nicht nur auf den Ressour-cen schonenden Gebrauch, sondern sie setzte auch ein politisches Zeichen.

Sie verbot genau jene Kleidungszeichen, die im Bauernkrieg von 1525 Gegenstand der Forderung der Aufständischen waren und deren symboli-scher Gehalt noch in der (Nach-)Kriegsikonographie des Bauernkriegs nachvollziehbar ist.76 Durch das Verbot von Barett und Feder, volumenbil-dender Stoff-Fülle und Pelzverbrämung werden die Bauern nach dem verlo-renen Krieg symbolisch wieder „zusammengefaltet“. Die Kleiderzeichen der Ehrbarkeit wurden ihnen damit verweigert. Dass Herzog Ulrich diesen nun schon fast 25 Jahre zurückliegenden Konfliktstoff so unverändert über-nimmt, liegt entweder an dem Desinteresse, eigene Regelungen für das eigene Territorium zu treffen, oder ist ein anhaltender Entmachtungsvor-gang, der hier symbolisch weiter geführt wurde.

Den Kanon der Möglichkeiten und Verbote muss man zum besseren Ver-ständnis in Bezug setzen zur nächsthöheren Gruppe und deren Möglichkei-ten. Herzog Ulrichs Ordnung unterscheidet, wie in der kaiserlichen vorge-geben, hier nur noch zwei weitere Abstufungen: Erstens die Bürger und Einwohner in den Städten und zweitens. die Kaufleute, Gewerbetreibende und Amtleute. Für sie werden jeweils weitere Differenzierungen von Er-laubtem und Verbotenem in noch größerer Ausführlichkeit dargestellt. Es wird dabei deutlich, dass den jeweils ständisch höher eingestuften Gruppen ein Teil von dem erlaubt wird, was den darunter rangierenden verwehrt

76 Vgl. Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ergänzte und aktualisierte Aufl. unter Beratung von Dorothea Dieren und Gretel Wagner. Berlin 1997, S. 182f.

wurde. Eine Besonderheit liegt dabei in der Gewährung von Ausnahmen für junge unverheiratete Personen. Ihnen wird jeweils eine kleine Überschrei-tung des gesetzten Rahmens bewilligt. Die Gründe dafür mögen vielfältig gewesen sein. Man mag sich eine Kanalisierung jugendlicher Innovations-potentiale genauso darunter vorgestellt haben wie die Erhöhung der Hei-ratsattraktivität durch das Anbringen besonderer Kleiderzeichen.

Hinter diesen Regelungsinitiativen steht der landesherrliche Wille, im Rahmen seiner ordnungspolitischen Möglichkeiten, damals „gute Policey“

genannt, seine Untertanen in vestimentär unterscheidbare Gruppen zu unter-teilen und ihnen dafür einen je eigenen materiellen Rahmen zu gestatten.

Das entspricht der damaligen Auffassung von Herrschaftsausübung durch Setzen von Normen und Gewähren von Privilegien und Gnaden77 sowie dem Wunsch nach sichtbaren Ordnungen, nach der Lesbarkeit der Welt.78

In den folgenden 160 Jahren haben die Herzöge von Württemberg ihre Policeyordnungen stetig erneuert und ihre Amtleute und Untertanen zur Umsetzung und Einhaltung angehalten.79 Den eindringlichen Worten nach, die sie dabei jeweils an diese Adressaten richteten, waren sie mit den Er-gebnissen nicht zufrieden. In den Texten lassen sich immer neue Argumen-tationsstrategien feststellen, um die Notwendigkeit der Durchführung der Policeyordnungen zu untermauern. Sie reichen von der Erfüllung des göttli-chen Willens bis zur Androhung von Strafmaßnahmen gegen Amtleute, die sich nicht um die Durchsetzung kümmerten. Einerseits lassen die in den Policeyordnungen geäußerten Vorwürfe zur mangelnden Umsetzung und zur Fortdauer der Missstände den Rückschluss zu, dass das Instrumentarium der „guten Policey“ nicht ausreichte, die angestrebte Sozialdisziplinierung durchzusetzen, andererseits ist es nach Martin Dinges80 gar nicht das erste und vor allem nicht das alleinige Ziel dieser Ordnungen gewesen. Sie sind demnach Ausdruck eines Prozesses der Verstaatlichung, der in der frühen

77 Vgl. dazu: Andrè Holenstein: Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände.

Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime. In: Klaus Härter (Hg): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft.

S. 146.

78 Ausführlich diskutiert wird der Begriff der „Lesbarkeit der Welt“ im Bezug auf die Kleidungsordnungen der frühen Neuzeit bei Martin Dinges: Von der „Lesbarkeit der Welt“ zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. In: Saeculum 44/1993, S. 90–112. Dinges greift dabei auf bewährte Erklärungsmodelle der Volkskunde zurück.

Die Formel von der „Lesbarkeit der Welt“ will hier, wie bei Dinges auch, nicht nur nach dem Modell von Hans Blumenberg (Ders.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1981) verstanden werden.

79 Bei Reyscher findet sich die erste (1549), dritte (1660) und fünfte (1712) Policeyordnung.

Dazwischen gab es noch weitere Verordnungen, nämlich 1621, 1641, 1664 und 1681.

Reyscher nahm bei den Kleiderordnungen nur die von 1549 und 1660 im Wortlaut auf.

80 Martin Dinges: Normsetzung als Praxis? In: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Gerhard Jaritz. Wien 1997, S. 39–54.

Neuzeit einsetzt und sich im Normierungswillen und in der steten Setzung von Normen durch die Obrigkeit zeigt. Es handelt sich bei den Policeyord-nungen und damit bei den KleiderordPoliceyord-nungen nicht so sehr um den Vorgang der Veränderung von Praxis der Sachkultur, sondern nach Dinges um einen Diskurs über Normen, Normabweichungen und die Optimierung staatlicher Verwaltung. Die Sozialdisziplinierung ist nur ein nachgeordnetes Ziel der

„guten Policey“. Die Veränderung der Praxis war demnach nachrangig, wenn auch durchaus intendiert. Die Formulierung von Policeyordnungen diente einer Verallgemeinerung staatlicher Normen und Handlungen.

Damit ist die Bedeutung von Kleiderordnungen aber noch nicht erschöpft.

Schon ihre prominente Stellung und ihr Umfang innerhalb der Verordnun-gen machen deutlich, wie sehr sie im Zentrum der Ordnungspolitik stan-den.81 Mit Hilfe der Kleidung sollte einer drohenden gesellschaftlichen Unübersichtlichkeit abgeholfen werden. Die größte Dichte der Verordnun-gen liegt bezeichnender Weise in der Zeit nach dem DreißigjähriVerordnun-gen Krieg.

Die für richtig gehaltene ständische Gliederung der Gesellschaft sollte durch eine vestimentäre Ordnung nach außen sichtbar gemacht werden und als ein dauerndes, staatlich oder kirchlich überwachtes Symbolsystem an den Kleiderzeichen deutlich ablesbar sein. Diese Vorstellung basierte auf der Funktion der Kleidung als gesellschaftliches Distinktionsmittel.82 Mit ihrer Hilfe können Unterschiede in Status, Geschlecht, Lebensalter und anderen Kategorien sichtbar gemacht werden, als Selbstverortung des Trä-gers, der Trägerin einerseits und andererseits durch das deutende Wahrneh-men der Anderen gleichzeitig als ein interdependentes System gesellschaft-licher Distinktion funktionierend. Allerdings enthält die Kleidung durch ihre prinzipielle Möglichkeit zum schnellen modischen Wechsel in sich die Eigenschaft der Bewegung, der Veränderung und Überschreitung. Genau diesen Charakter ignorierten die Kleiderordnungen immer wieder, wenn sie den Vorgang von Produktion und Rezeption des vestimentären Distinkti-onssystems auf eine länger gültige Lesart festlegen wollten. Auch die jährli-che Verkündung der Verordnung durch den Pfarrer, wie sie die Policeyord-nung von 166083 vorsah, trug möglicherweise eher dazu bei, durch genauere

81 Hier ist Landwehr, Policey im Alltag, S. 81, zu widersprechen, wenn er behauptet, dass die Luxusordnungen eher marginal und nur durch die Forschung überthematisiert seien.

Die Welt des Sichtbaren und damit die Erscheinung der Untertanen waren als Symbole innerer Ordnung ein zentrales Ziel der Policeyordnung.

82 Manche Kleiderordnungen gebrauchen das Wort „distinction“, um genau diese Funktion der Kleiderordnungen zur Unterscheidung der Stände deutlich zu machen.

83 „[…] Unsere Christlich und gnädigste Verordnung gleich alsobalden den nächsten Sonn-tag […] von den Canzeln, nach verrichter Morgen-Predigt, in versambleter Gemeind, wie herkommen von Wort zu Wort verständlich vor- und abgelesen: und mit solch öffentli-cher Publication, nicht nur allein für disesmal und Jahr also fürgegangen: sondern auch ins künfftig alle und jede Jahr zu gelegener Zeit dieselbe dergestalten fortgesetzt und

wie-Kenntnis der Möglichkeiten ranghöherer Klassen84 die Wünsche der unteren Stände anzuregen und die Bedingungen der Überschreitung vorzuführen, als dass sie zur Befolgung der Normen führte. Vielleicht führte sie zu einer Ausbildung ästhetischer Kompetenz, die sich erst später erfüllen konnte, denn die materielle Situation der unteren Bevölkerungsschichten vor allem in den Krisenzeiten des 16. und 17. Jahrhunderts erlaubte es nicht in großem Maß, sich der Kleidungszeichen der oberen Gruppen zu bedienen. Aller-dings ist die Geltung der Distinktionsfunktion nicht von den materiellen und materialen Möglichkeiten des Konsums abhängig, wenngleich sie in der Moderne dadurch potenziert wird.

Achim Landwehr regt in seiner Arbeit über „Policey im Alltag“ an, das Verhältnis von Norm und Praxis eher unter dem Gesichtspunkt des Um-gangs mit den Normen zu betrachten als nach deren direkten Umsetzungen zu fragen, da diese weder durchführbar noch intendiert waren.85 Denn der Vorgang von Normsetzung und Normumsetzung sei anders als beim Kon-zept der Sozialdisziplinierung ein eher zyklischer, der sich durch Aktion und Reaktion aller Beteiligter bewege. In Anlehnung daran ist zu fragen, ob es nicht zu den Policeyordnungen auch konkurrierende, bereits bestehende oder sich parallel dazu entwickelnde Systeme des angemessenen Verhaltens gab. Sie enthielten möglicherweise auch andere Distinktionsfunktionen als die Policeyordnungen. Die in der Literatur geschilderten Konflikte zeigen, dass es zu Kollisionen zwischen hergebrachten Verhaltensweisen und den neuen Ordnungen kam.86 Die Policeyordnungen versuchten also, in einem durchaus nicht ungeregelten Bereich eine Normsetzung durch den Staat derhohlet werde.“ Zitiert nach Reyscher, Bd. 13. Tübingen 1842, S. 424. Das war kein württembergischer Sonderfall, sondern der durchaus übliche Weg der Verbreitung, wie schon bei Eisenbart belegt. Liselotte Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums.

Göttingen 1962, S. 45.

84 Diese Begrifflichkeit hier historisch richtig einzusetzen, ist schwierig, denn die frühen Kleiderordnungen bedienen sich noch nicht einer so abstrahierenden Beschreibung der Gesellschaftseinteilung, sondern benennen konkret die Betreffenden („die Bauern auf dem Land“ oder die „Bürger in den Städten“). Erst die Policeyordnungen von 1681 und 1712 sprechen von „Classen“, führen aber jeweils aus, welche Gruppen zu welchen Klas-sen gehören.

85 Landwehr: Policey im Alltag, S. 3, besonders jedoch Kapitel 4 und 8.

86 Landwehr führt einige Fälle dieser Art vor, behandelt aber keine Konflikte aus dem Bereich des „Kleiderluxus“. Medick dagegen belegt seine These von der „Kultur des An-sehens“ mit einem Fall nicht angemessener Kleidung vom Anfang des 19. Jahrhunderts.

Es handelt sich aber nicht um einen Konflikt auf der Grundlage der herzoglichen Kleider-ordnung, sondern sozusagen sekundärer, administrativer Richtlinien der Verwaltung vor Ort. Siehe: Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Göttingen 1996, S. 391ff.

durchzuführen und den Staat als Definitionsmacht des allgemeinen Wohls zu etablieren.

Das allgemeine Wohl als der Zweck der „guten Policey“ wurde unterlegt mit wirtschaftlichen Argumenten. Die Einhaltung der vorgegebenen Regeln sollte zu einem mäßigen Umgang mit den vorhandenen Mitteln führen.

Regelmäßig beschreiben die Kleiderordnungen einen Zustand übermäßigen Konsums,87 der insbesondere auch durch den Gebrauch von Waren aus dem Ausland hervorgerufen werde. Wenn die Kleiderordnungen die unteren Stände auf inländische Produkte festlegten und für die oberen Stände ver-suchten, bestimmte Produktgruppen nur in abgestufter Wertigkeit zuzulas-sen, so lässt sich daran das Vordringen merkantilen Denkens im System der

„guten Policey“ beobachten. War der Merkantilismus der Kleiderordnungen in der frühen Neuzeit noch verwoben in Argumente der Ständetrennung und

„guten Policey“ beobachten. War der Merkantilismus der Kleiderordnungen in der frühen Neuzeit noch verwoben in Argumente der Ständetrennung und