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Kanzeldeutsch und Grossratsdeutsch als hochdeutsche Varietäten In einer ethnographischen Beschreibung des Kantons Zürich von 1834 wird

5.5 Varietätenspektrum und Registervariation

5.5.1 Kanzeldeutsch und Grossratsdeutsch als hochdeutsche Varietäten In einer ethnographischen Beschreibung des Kantons Zürich von 1834 wird

auf-gezählt, es gebe da und in anderen Kantonen „dreierlei Teutsch“, nämlich „die Volkssprache, das reine Teutsch und eine sogeheißene Kanzel- oder Geschäfts-sprache, die von den meisten Predigern oder Geschäftsleuten, doch nur in ihrer amtlichen Stellung, oft auch gegen Teutsche […] geredet wird“.147 Dieselben drei Sprachformen unterscheidet ein Schweizer Pfarrer bereits 1819: „Es ver-steht sich, daß ich auf der Treppe in einem Alltagsrock nicht die Kanzel-, noch weniger die Büchersprache, sondern den Provinzial-Dialekt redete, wie wenn alles meine Hausgenossen wären.“148Und auch 1824 wird die Kanzelsprache

145 Diese strikte Trennung der Varietäten kennzeichnet bis heute die Sprachsituation der deutschen Schweiz, während sich die übrigen deutschsprachigen Regionen durch andere Dia-lekt-Standard-Konstellationen auszeichnen. In der Interaktionssituation äussert sich dieser Unterschied darin, dass es in der Deutschschweiz zu Code-Switchingkommt, während für Deutschland und Österreich dasCode-Shifting(bzw.:Code-Gliding) in einem Dialekt-Standard-Kontinuum charakteristisch ist, das im kontinuierlichen Übergang von einer standardnäheren zu einer dialektnäheren Sprechweise (oder umgekehrt) besteht (vgl. Auer 1986: passim; zu einer Typologie verschiedener Dialekt-Standard-Konstellationen sowie zu den grundsätzlichen historischen Entwicklungsmöglichkeiten vgl. Auer 2005, 2011). Diesen für Diglossiesituationen typischen Varietätengebrauch bestätigt für die Deutschschweiz auch die Auswertung der Zürcher Dialektdramatik von 1870 bis 1930, die im Dialektgespräch zwar Formen des Code-Switching, nicht aber des Code-Shifting feststellt (vgl. Lötscher 1997).

146 Nicht Gegenstand dieses Kapitels sind die sprachsystematischen Unterschiede der ver-schiedenen hoch- und höchstalemannischen Dialekte der Schweiz. Einen guten Überblick da-rüber geben u. a. Lötscher 1983: 137–184; Wiesinger 1983: 834–835; Hotzenköcherle 1984; Haas 2000a: 57–74.

147 Meyer von Knonau 1834: 127, 1844/1846: Bd. 2, 2.

148 Der Gemeinnützige Schweizer 3 (1819): 104.

als eine dritte Sprache charakterisiert, die „weder Hochdeutsch noch Schweizer-deutsch“149sei.

Worum aber handelt es sich bei dieser ‚dritten Sprache‘, die die zeitgenössi-schen Beobachter zwizeitgenössi-schen dem Dialekt und der normnahen Standardvarietät einordnen? Walter Haas äusserte die Vermutung, es könnte sich dabei um eine Form des Dialekt-Standard-Kontinuums handeln, das durch Code-Shifting von der einen in die andere Varietät charakterisiert ist.150Dass es im frühen 19. Jahr-hundert vorkam, dass gesprochener Dialekt und gesprochenes Hochdeutsch

„viel freier ineinander über[gingen]“,151als man sich das heute vorstellen kann, ist nicht prinzipiell auszuschliessen. Die sprachgeschichtliche Entwicklung und die Tatsache, dass dieses sprachliche Verhalten keine metasprachlichen Erwäh-nungen findet und auch in der Dialektliteratur nur ein einzelnes Beispiel be-kannt ist,152legen jedoch nahe, dass unter Autochthonen ein solches Hinüber-gleiten vom Dialekt zur Standardvarietät selbst damals nicht gebräuchlich war.

Auch die These, es handle sich bei diesem Sprachgebrauch um die viel zitierte

‚Kanzelsprache‘, scheint mir problematisch. Die verfügbaren Metakommentare legen vielmehr nahe, dass es sich bei der Kanzelsprache um eine stark dialektal gefärbte Variante des Hochdeutschen handelte.

Wie der Begriff besagt, war die Kanzelsprache zunächst die Sprache, in der gepredigt wurde. Ihr säkulares Pendent war das ‚Grossratsdeutsch‘.153Für zeit-genössische Beobachter hatten die beiden Sprachlagen grosse Ähnlichkeit, wie etwa folgende Erläuterungen des Juristen und Wahlschweizers Eduard Osen-brüggen Ende der 1860er Jahre belegen:

149Hardmeyer 1824: 11.

150Vgl. Haas 2000a: 82. Als Belege führt Haas (ebd.) eine Passage aus einem Werk des Zür-cher Schriftstellers Jakob Stutz aus dem Jahr 1836 an, die ein solches Sprachverhalten fingiert.

Bei diesem Auftritt gleitet ein ‚Fremder‘ in einem politischen Monolog sprachlich allmählich von Dialektnähe zu Standardnähe (vgl. Stutz 1836: 230–231) – die Herkunft des Fremden bleibt dabei allerdings offen.

151Haas 1980: 81.

152Auf schriftliche Nachfrage bestätigte mir Walter Haas, dass ihm keine weiteren Beispiele bekannt sind. Auch Lötscher 1997 dokumentiert in ihrer umfassenden Untersuchung zur Zür-cher Dialektdramatik im letzten Jahrhundertdrittel keine Beispiele dieser Art. Eine systemati-sche Analyse dialektliterarisystemati-scher Texte der Zeit könnte hier womöglich weiteren Aufschluss über Form und Gebrauch solcher Sprachkontaktmuster geben.

153Der Begriff spielt auf das (Zürcher) Kantonsparlament, den ‚Grossen Rat‘, an, in dem sich Redner dieser Sprechweise bedient haben sollen. Der Begriff, der zunächst eine hochdeutsche Lernervarietät bezeichnet, dürfte seit dem frühen 20. Jahrhundert eine Bedeutungsverschie-bung erfahren haben und zunehmend für einen dialektalen Stil mit vielen hochdeutschen Transferenzen gebräuchlich geworden sein. In diesem Sinne wird er etwa gebraucht von Rol-lier 1920: [1]. Vgl. zur Reflexion des Begriffs auch schon Schwarzenbach 1969: 285–286; Ris 1973: 30.

Die Züricher […] unterscheiden in neuerer Zeit Gutdeutsch (Hochdeutsch), Großenraths-Dütsch und Züridütsch. Früher hatten auch die Pfarrer auf der Kanzel – nach der Regel

„medium tenuere beati“ – ein dem Großenraths-Dütsch ähnliches Mittel-Idiom, Kanzel-Dütsch genannt. Das kräftige Züridütsch ist zwar die allgemeine Herzenssprache und im Verkehr der Züricher unter sich allein zulässig, aber im Gespräch mit Fremden aus Deutschland wird das Hochdeutsch verwendet, so gut es gehen kann, und da kommt denn das Großenraths-Dütsch auch außer dem Rathhause als Sprachform zur Anwendung bei denen, die nicht durch längeren Aufenthalt in Deutschland sich das Hochdeutsch ganz angeeignet haben.154

Weniger der Hinweis auf den Sprachgebrauch im Ratssaal, als der Hinweis auf den Umgang mit Fremden macht in diesem Zitat deutlich, dass es sich beim besagten ‚Mittel-Idiom‘ vor allem um einenVersuchvon wenig geübten Spreche-rinnen und Sprechern handelt, Hochdeutsch zu gebrauchen. Noch deutlicher wird dies in folgender Formulierung desselben Autors aus dem Jahr 1874: „Au-ßerhalb dem Rathhause kommt eine solche Mittelsprache auch oft zum Vor-schein, wenn Schweizer, die des Hochdeutschen nicht ganz Herr sind, im Ge-spräch mit Deutschen sich bestreben hochdeutsch zu sein.“155Und noch 1901 heisst es zur Sprache im Grossen Rat nicht ohne kritischen Unterton: „Im Zür-cher Kantonsrat werden die Verhandlungen schriftdeutsch geführt, oder we-nigstens in einer Sprache, die nicht Dialekt ist und die vom Bewusstsein beglei-tet ist, Schriftdeutsch zu sein.“156

Sprachstrukturelle Eigenschaften dieses ‚Mittel-Idioms‘ werden in den Me-takommentaren kaum thematisiert, vielmehr begnügt man sich in der Regel da-mit, diese Sprechweise lediglich zu erwähnen.157 Zur sprachlichen Ausgestal-tung wird 1834 immerhin festgestellt, dass man in dieser Ausdrucksweise „mit teutschen Worten in volkstümlicher Aussprache“158spreche. Ähnlich wird noch 1860 die Kanzelsprache im Kanton Glarus charakterisiert: „Die Geistlichen pre-digen zwar hochdeutsch, aber mit Glarner Zunge, mit Glarner Ton, und ihre Aussprache ist spezifisch verschieden von der eines geborenen Deutschen.

Aehnlich verhält es sich in allen Schweizer Kantonen.“159Vergleichsweise diffe-renziert beschreibt schliesslich ein deutscher Reisender die hochdeutsche Vari-ante, die er bei Schweizer Pfarrern beobachtete. In ihr würden die Pfarrer nicht nur auf die „groben und platten Provinzialismen und Idiotismen, welche der

154 Osenbrüggen 1867: 343.

155 Osenbrüggen 1874: 156.

156 Tappolet 1901: 18.

157 Eine sprachsystematische Rekonstruktion dieser Varietät(en), wie sie jüngst Wilcken 2015a für das ‚Missingsch‘ im niederdeutschen Sprachraum vorgelegt hat, steht noch aus.

158 Meyer von Knonau 1834: 127, 1844/1846: Bd. 2: 2.

159 Grube 1860: 128–129.

Würde ihrer Rede schaden würden“, verzichten, sondern auch grammatikalisch korrekte hochdeutsche Formen bilden – so in der Konjugation (‚gewesen sein‘

statt dialektal ‚g’si si‘) oder in der Pluralbildung (‚die Gemsen‘ statt ‚die Gem-scheni‘).160 Anders, als wenn sie „mit einem Fremden völlig hochdeutsch re-den“, würden Pfarrer in der Kanzelsprache „dem Ohr der Schweizer ungewohn-te hochdeutsche Diphthonge, wie ‚ei‘, ‚eu‘“ vermeiden und „‚Zit‘ statt ‚Zeit‘,

‚Früde‘ statt ‚Freude‘ u. dgl.“ sagen.161Diese detaillierteren Beobachtungen be-kräftigen die These, dass es sich beim Kanzel- bzw. Grossratsdeutsch um zwei hochdeutsche Varietäten mit starken dialektalen Interferenzen gehandelt haben muss. Ebenso bekräftigt wird die These durch die parodistische Wiedergabe des

„zürcherische[n] Kanzeldeutsch[s]“ eines Oberrichters von 1868, bei dem es sich offensichtlich um Hochdeutsch mit dialektalen Interferenzen handelt.162

Die Hintergründe für den Gebrauch dieser Sprachlage mögen im Einzelnen unterschiedlich gewesen sein. Im kirchlichen Kontext dürfte er weniger einer mangelhaften Hochdeutschkompetenz der Pfarrer selbst, als vielmehr dem pragmatischen Ziel der Verständnissicherung geschuldet gewesen sein. Zumin-dest fehlen – ganz im Gegensatz zum ‚nicht reinen‘ Gebrauch des Hochdeut-schen bei Lehrern – metasprachliche Zeugnisse, die den Grund der Kanzelspra-che in der mangelnden Sprachkompetenz der GeistliKanzelspra-chen orten. Gerade in ländlichen Gegenden hätte eine allzu standardnahe Realisierung der Predigt zum Preis ungenügenden Verstehens von Seiten der Gläubigen erkauft werden müssen.163Um dies zu verhindern, war es auch in den Augen zeitgenössischer Beobachter noch lange völlig akzeptabel, dass Prediger vom zeitgenössischen Ideal ‚reinen‘ Hochdeutschs abwichen.164

Bei der Anwendung ausserhalb der Kirche dürfte es sich indes um eine ei-gentliche Lernervarietät gehandelt haben.165 Ein solches „intendiertes

Hoch-160Kohl 1849b: 278–279.

161Ebd.: 279.

162Die Rede wird wie folgt imitiert: „Er thuet dann dergleichen, wie wann man im Kanton Zürich die Wahrheit nicht mehr sagen dürfte … Khm … Woll, die Worret darf man sagen, aber nur keine so verfluechten Lügen …“ (Locher 1868: 48–49).

163Vgl. Bronner 1844: 2; Kohl 1849b: 279.

164Vgl. z. B. Hardmeyer 1824: 15; [Anonym.] 1874c: 307. 1896 wird solchesrecipient designin der hochdeutschen Predigt hingegen nicht mehr goutiert und zwar mit der Begründung, es sei

„nicht nötig, sich im Kanzeldeutsch dem Dialekt einer Gegend völlig anzupassen“, denn „ein gutes Schriftdeutsch wird bei uns gewiss überall verstanden“ (Fischer 1896: 936–937).

165Mit ‚Lernervarietät‘ (i. S. voninterlanguage) bezeichne ich ein sprachliches System, das im Spracherwerbsprozess ein (Zwischen-)Produkt auf dem Weg zum vollständigen Erwerb einer Zielsprache darstellt (vgl. Riehl 2014: 87). In Fällen, in denen der Dialekt die Erstsprache und die Hoch- oder Standardsprache die Zweitsprache darstellen, ergeben sich dabei sprachliche Zwischenstufen mit Sprachmaterial aus beiden Varietäten. Oft handelt es sich dabei um

deut-deutsch“166 ist nicht nur in Parlamentsreden und im Umgang mit Nicht-Autochthonen, sondern auch in öffentlichen Reden167und für die Schule belegt, wo die dialektale Färbung des Hochdeutschen der Lehrerschaft zunehmend zum Anlass für puristische Sprachkritik wurde.168 In diesem Kontext nannte der Pädagoge Johannes Kettiger 1853 diese ‚dritte‘ Sprache Schweizerhoch-deutsch.169Während Kettiger damit deutlich eine Lernervarietät benannte, soll-te der Begriff erst späsoll-ter die schweizerische Variansoll-te des Standarddeutschen bezeichnen, die gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend an Akzeptanz ge-wann.170