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5.5 Varietätenspektrum und Registervariation

5.5.2 Binnendialektale Variation

Ein anderer Aspekt sprachlicher Variation betrifft die diaphasische und diastra-tische Variation innerhalb des dialektalen Sprachgebrauchsspektrums.171 In den metasprachlichen Äusserungen aus dem 19. Jahrhundert wird diesen For-men binnendialektaler Variation in der Regel nur am Rande Rechnung getra-gen. Eine erste Differenzierung innerhalb des dialektalen Diasystems betrifft die stilistische Unterscheidung zwischen qualitätsarmer und qualitätsvoller Mund-art. Sie kommt in verschiedenen metasprachlichen Äusserungen zum Ausdruck, die vor einer ‚gemeinen‘, ‚pöbelhaften‘ Verwendung des Dialekts warnen. Wer etwas auf sich hielt, war bemüht, einen allzu ‚groben‘ Dialekt zu vermeiden und stattdessen eine ‚kultivierte‘, ‚gehobene‘, ‚sittliche‘ Ausdrucksweise zu gebrau-chen. So unterscheidet 1828 bereits der Basler Theologe und Kirchenhistoriker

lich dem Hochdeutschen zuzuordnende Varietäten, die jedoch durch mehr oder weniger starke dialektale Interferenzen gekennzeichnet sind.

166 Mihm 1998: 289.

167 Vgl. Pfyffer 1858: 212.

168 Vgl. Scherr 1845: 14; Seiler 1879: XII; [Anonym.] 1895a: 102; Schmid 1899: 18.

169 Es dürfte zugleich einer der frühsten Belege für diese Wortschöpfung sein: „Unsere Mund-art (Volkssprache) […] macht sich beim Lesen der Schriftsprache und bei unsern Versuchen, uns rein deutsch auszudrücken, über Gebühr […] geltend […] Durch diese Gewohnheit ist es dazu gebracht, daß wir eigentlich drei verschiedene Sprachen sprechen, lesen, singen und nur zu oft auch schreiben; den Dialekt nämlich, die Schriftsprache und ein durch die Mundart entstelltesSchweizerhochdeutsch, wie ich es nennen möchte. Das Uebeltönende und Ungemä-ße der letztern Sprech- und Leseweise liegt am Tage, und es ist Sache der Schule, die üble Gewohnheit auszumerzen.“ (Kettiger 1853: 27, Herv. E. R.).

170 Vgl. z. B. Hilty 1892: 712; Blümner 1892; Niedermann 1905.

171 Auf die diatopische Variation, also auf die sprachmateriellen Unterschiede innerhalb der hoch- und höchstalemannischen Sprachlandschaft soll an dieser Stelle nicht eingegangen wer-den.

Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874) innerhalb der Basler Mundart die „Sprache des gemeinen Lebens“ von der „feinern [dialektalen, E. R.] Umgangsspra-che“.172

Ein wohl einmaliges historisches Zeugnis in dieser Hinsicht sind hand-schriftliche Notizen des Zürcher Juristen Johann Rudolf Spillmann (1817–1879) zu einem „Unterricht in der Volkssprache“. Damit wollte er seine künftige Frau (notabeneselbst eine Zürcherin) von „den wüsten, groben Ausartungen der Zü-richerischen Volkssprache, die Du dir angewöhnt hast“ und die ihr „ganzes weibliches Wesen“ ‚verunstalteten‘, befreien.173Freilich beabsichtigte er aus-drücklich nicht, ihr Hochdeutsch beizubringen, sondern vielmehr, ihr ein geho-benes Register der Volkssprache anzugewöhnen: „Absolute Unwichtigkeiten, Verkehrtheiten, Plumpheiten, Grobhölzigkeiten soll man auch in der Volksspra-che nicht mitmaVolksspra-chen, sondern das Wüste, Breite u.[nd] Schwerfällige vermei-den.“174

Die stilistische Unterscheidung in einen allgemeinen und einen gehobenen Dialekt impliziert auch der Verfasser einer Anstandslehre von 1850, wenn er festhält, die Kinder sollten entweder an „gutes Deutsch oder an die gewöhnli-che Mutterspragewöhnli-che [d. h. den Dialekt, E. R.], jedoch mit Vermeidung unartiger, gemeiner Ausdrücke“ gewöhnt werden; letztlich gehe es darum, den Kindern

„eine gefällige Form desjenigen, was sie sagen wollen, geläufig zu machen“.175 1868 machte ein Lehrer imBerner Schul-Blatteine ähnliche Unterscheidung. Er sah die Aufgabe seines Berufsstandes darin, beim Gebrauch des Dialekts im Unterricht „alle gemeinen und lächerlichen Ausdrücke“ zu vermeiden; der Leh-rer selbst solle sich zudem „auch außer der Schule nur der edlern mundartli-chen Sprachformen bedienen“.176Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts un-terschied Renward Brandstetter in der Luzerner Mundart unter anderem einen

„derben“, einen „gewöhnlichen“ und einen „höflichen“ Stil.177

172Hagenbach 1828: 116; s. dazu auch u. Kap. 8.1.

173Spillmann 1844/1845: 11. Das Manuskript befindet sich in der Bibliothek des Schweizeri-schen Idiotikons, Zürich. Ich danke Christoph Landolt, Redaktor beimSchweizerischen Idioti-kon, dafür, dass er mir den Text vermittelt hat. Die Transkription des Textes erfolgte durch Felix Landolt, Zürich, der auch die biographischen Angaben zu Johann Rudolf Spillmann und seiner Verlobten, Katharina ‚Gaton‘ Scheuchzer, recherchiert hat; auch ihm bin ich zu Dank verpflichtet.

174Ebd. Zu Spillmanns Manuskript im Kontext eines am Hochdeutschen orientierten Mund-artideals s. u. Kap. 8.1.2.

175Nägeli 1850: 163.

176Grütter 1869: 201.

177Als weitere nennt er den „humoristischen“, den „euphemistischen“, den „kosenden“ und den „poetischen“ Stil (vgl. Brandstetter 1904: 5–6 mit entsprechenden Beispielen).

Die heuristischen Kategorien einer gemeinen und einer feineren Realisie-rung des Dialekts, die in der Sprachwirklichkeit als Extrempole einer Skala von

‚gemein‘ bis ‚fein‘ zu veranschlagen sind, sind im gesamten Jahrhundert doku-mentiert und haben neben einer stilistischen auch eine soziale Dimension. So schien gerade die ‚bessere‘ Gesellschaft eine vermeintlich kultiviertere Form des Dialekts anzustreben und sich damit auch sprachlich von den breiteren Bevöl-kerungskreisen abheben zu wollen. Neben der Vermeidung von als zu grob oder gemein empfundenen Ausdrücken178 wird als Merkmal des Sprachgebrauchs der Gebildeten vor allem die Verwendung von hochdeutschen Transferenzen hervorgehoben.179In der ersten Jahrhunderthälfte finden sich wiederholt Hin-weise darauf, dass sich die Gebildeten in diesem Sinne anders ausdrückten als die bildungsferne Bevölkerung.180Auch am Übergang zum 20. Jahrhundert wird dieser schichtenspezifische Dialektgebrauch beobachtet.181 Albert Bachmann fasst zu Beginn des Jahrhunderts diese stilistischen Unterschiede pointiert zu-sammen: „[D]er Gebildetere meidet gewisse Ausdrücke und Wendungen, die

178 Ein schönes Beispiel dafür liefert der Aargauer Bezirksschullehrer Joseph Victor Hürbin (1831–1915), der nicht ganz wertneutral feststellt, dass „viele in kokettierenden Instituten la-ckierte Mütter täglich auf der Lauer [liegen], um ihren Kindern solch rohe, bäurische Ausdrü-cke vor dem Munde wegzufangen, wenn jene zufälliger Weise eine solche im Verkehre mit weniger geschminkten Kameraden gehört und sich in ihrer Natürlichkeit au[f]gepfropft hät-ten“. Diese Leute hielten es für „eine Todsünde gegen den besseren gesellschaftlichen Ton“, zu sagen: „Ghei mer dänes Buech nit abe!“ Stattdessen klinge es „solchen feinfelligen Ohren weit angenehmer“, wenn man sage:„Faell mer dänes Buech nit abe!“(Hürbin 1867: 24, Kursi-vierungen i. O. in Antiqua).

179 Vgl. dazu auch Kap. 5.6.1. Während dieser durch hochdeutsches Lehngut ‚kultivierte‘ und

‚verbesserte‘ Dialekt in der ersten Jahrhunderthälfte grundsätzlich als Zeichen des Fortschritts begrüsst wurde, wird die Sprechweise der Gebildeten in der zweiten Jahrhunderthälfte als

‚Mischsprache‘ und ‚Zwitterding‘ abgelehnt (s. u. Kap. 8.2.2).

180 Die Dichotomie zwischen ‚Gebildeten‘ und ‚Ungebildeten‘ stellt die primäre gesellschaftli-che Binnenkategorisierung dar, die im Quellenkorpus in Bezug auf den Sprachgebrauch vorge-nommen wird. Ebenfalls oft unterschieden wird zwischen dem Sprachgebrauch in der Stadt und jenem auf dem Land, wobei sich die soziale und die geographische Kategorisierung oft-mals überschneiden und analytisch nicht genau unterschieden werden. Bereits Stalder impli-ziert Unterschiede im Dialektgebrauch der verschiedenen Gesellschaftsschichten, wenn er schreibt, dass „zwischen der Sprechart des höchsten Staatsbeamten und geringsten Taglöh-nersselten ein merklicher Unterschiedverspüret wird“ (Stalder 1819: 9, Herv. E. R.). 1823 stellt Ruckstuhl Unterschiede in der Aussprache von ‚Gebildeten‘ und ‚Landleuten‘ fest, wobei er jene der Gebildeten aufgrund ihrer „Reinheit und Klarheit“ deutlich präferiert (vgl. Ruckstuhl 1823: 7–8). Und um sich von den übrigen Bewohnern zu unterscheiden, sollen im Appenzell Gebildete 1835 die allzu „eigenthümliche Betonung“ der lokalen Aussprache bewusst vermie-den haben (vgl. Rüsch 1835: 72).

181 Vgl. Adolf Socin 1895: 11 für Basel; Brandstetter 1890: 210, 1901: 10 für Luzern.

der Ungebildetere ohne Scheu gebraucht, er mischt wohl auch mehr Schrift-sprachliches in seine Rede als dieser, aber im Wesentlichen, in Lauten und For-men besteht zwischen der Sprechweise Beider, sofern sie wenigstens aus dem gleichen Orte stammen, gewöhnlich kein Unterschied.“182Der in der ‚gebilde-ten‘ Sprechweise manifeste Anspruch auf einen ‚feineren Ton‘ (im Dialekt!) ist insofern auch als Ausdruck bürgerlichen Lebensgefühls und bürgerlicher Sprachkultur zu verstehen, als er auf einen gehobenen Konversationsstil ab-zielt, der sie vom ‚gemeinen‘ Sprachgebrauch breiterer Bevölkerungskreise un-terscheidet.

Über diese stilistische Zweiteilung des Dialekts hinaus ist von weiteren For-men soziolinguistischer Variation auszugehen.183So weist Roland Ris mit Rück-griff auf eine Arbeit von Heinrich Baumgartner darauf hin, dass es innerhalb der Stadt Bern im frühen 20. Jahrhundert vier Dialektausprägungen gegeben habe: (1) Die Sprache des Patriziats, die durch viele französische Transferenzen markiert ist, (2) die Sprache der alteingesessenen Burger (der alten, ehemals regimentsfähigen Geschlechter), (3) als Folge der Verstädterung: die Sprache der ländlichen Zuzüger und (4) die (Gruppen-)Sprache der städtischen Unter-schicht, das nach dem Stadtberner Matte-Quartier benannte ‚Matteneng-lisch‘.184 Für Luzern nennt Brandstetter im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhun-derts neben einer Sprechweise der „gebildeteren Klassen“ und einer anderen, die „allgemein im Gebrauche ist“, als dritte das „Luzernerische Rotwelsch“.185 Von ähnlichen soziolinguistischen Schichtungen des lokalen Dialekts ist auch in der übrigen Deutschschweiz auszugehen, insbesondere in den grösseren Städten.

Als spezielles dialektales Register muss schliesslich die sogenannte Redner-mundartgelten, für die es aus dem 19. Jahrhundert zahlreiche Beispiele gibt.186

182Bachmann 1908: 68.

183Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts interessierte sich die Dialektologie noch kaum für sprachliche Variation, die sie eher als Störfaktor bei der Rekonstruktion sprachinhä-renter Gesetze und ‚echter‘ Mundart auffasste. Sprachliche Unterschiede entgingen genauen Beobachtern jedoch nicht, weshalb Aspekte diastratischer Variation dennoch gelegentlich do-kumentiert sind (vgl. Brandstetter 1883: 212, 1890: 209–210, 1901: 9, 1904: 6–7; Socin 1895: 11 sowie Sonderegger 1962: 50 mit entsprechenden Hinweisen auf dialektologische Arbeiten, die sich allerdings auf das frühe 20. Jahrhundert beziehen).

184Vgl. Baumgartner 1940; Ris 1980b: 124–126.

185Vgl. Brandstetter 1890: 209–215.

186Den Begriff hat Schwarzenbach 1969: 285 für das 20. Jahrhundert vorgeschlagen. Ris 1973:

30 kritisiert den Begriff mit dem Argument, dass durchaus nicht alle Reden in der deutschen Schweiz in diesem stark hochdeutsch geprägten Stil realisiert würden. Dies trifft wohl auch für das 19. Jahrhundert zu, weshalb dieser spezifische Rednerstil auch für damals nur alseine mögliche Realisierung öffentlichen Redens gelten darf.

Es handelt sich dabei um eine Sprechweise, die offensichtlich vor allem in mundartlichen Vorträgen und Reden gepflegt wurde. Von Beobachtern wird die-se Ausdrucksweidie-se eindeutig dem dialektalen Bereich zugeordnet. Sie unter-scheidet sich aber dadurch vom alltäglichen Sprachgebrauch (auch der Gebilde-ten), dass sie noch einmal deutlich mehr hochdeutsche Transferenzen aufweist, die sich über die Lexik hinaus auch in grammatikalischen Transfereffekten ma-nifestieren. Das belegen einige Reden im Dialekt, die Scherr seiner RhetorikDer schweizerische Volksrednerals Beispiele mitgibt.187Der Anfang einer Bürgerrede vor einer Gemeindeversammlung im Kanton St. Gallen klingt dabei so:

Herr President!

Werthe Mitbörger!

Uesere löbleche Gmeind hät scho bi manche Alöße zeiget, daß sie d’Bitte ond d’Asueche, die en wohlthätige Zweck betreffid, nöd vo der Hand wist, vielmeh mit chrestlicher Näch-steliebe gern helft ond bistürt, […] ond so hoff i denn oh, i werr mine werthe Mitbörger nöd belestige, wenn i för ein vo üsere uglöcklichste Gmeindsgnosse e guets Wort i der Versammlig ilegg.188

Die Authentizität der Reden ist zwar quellenkritisch schwer zu beurteilen,189 dennoch vermitteln sie einen Eindruck davon, wie man sich diese Rednermund-art vorzustellen hat. Wie Ris zu Recht bemerkt, könnten bei der stark standard-sprachlichen Prägung der Rednermundart in besonderer Weise auch die Pro-duktionsbedingungen eine Rolle spielen, etwa dann, wenn beim Vortragen der Rede ein schriftsprachlich formuliertes Manuskriptad hocin den Dialekt umge-setzt wird.190

Mit der Unterscheidung zwischeneinfachemundgehobenem Stil,zwischen Dialektgebrauch der Gebildetenund desallgemeinen Volkessowie mit dem Hin-weis auf dieRednermundartsind nun einige grundsätzliche Aspekte der

binnen-187 Vgl. Scherr 1845: 258–278.

188 Ebd.: 256; „Herr Präsident! Werte Mitbürger! Unsere löbliche Gemeinde hat schon bei manchen Anlässen gezeigt, dass sie die Bitten und die Ansuchen, die einen wohltätigen Zweck betreffen, nicht von der Hand weist, vielmehr mit christlicher Nächstenliebe gerne hilft und beisteuert, […] und so hoffe ich denn auch, ich werde meine werten Mitbürger nicht belästigen, wenn ich für einen von unseren unglücklichsten Gemeindsgenossen ein gutes Wort in dieser Versammlung einlege.“ (Übers. E. R.).

189 Der aus Schwaben stammende Scherr behauptet zwar, seine Beispiele seien „von Män-nern besorgt werden [sic!], die mit der Mundart ihres Volkes genau bekannt sind, und die auch allgemeine Sprachbildung besitzen“, weshalb er nicht gewagt habe, „in ihrer Schrift etwas zu ändern“ (ebd.: 251). Zugleich versieht er die Rede im Berner Dialekt mit dem Hinweis „Freier bearbeitet als die andern Reden dieses Abschnittes“ (ebd.: 273), was letztlich eine Bearbeitung aller Reden durch seine Hand nicht ausschliesst, ja nahelegt.

190 Vgl. Ris 1973: 30.

dialektalen Variation rekonstruiert, von denen man durchaus annehmen darf, dass sie in der gesamten Deutschschweiz mehr oder weniger stark ausgeprägt waren.