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Kanonen, Rotuli und Textsammlungen als Medien höfischer Repräsentation

Im Dokument Repräsentation und Erinnerung (Seite 91-126)

eine umfassende literaturgeschichtliche Darstel-lung als ZielvorstelDarstel-lung (Stichwort: ‚konstruieren‘), sondern verfuhr in erster Linie philologisch-prak-tisch (Stichwort: ‚arbeiten‘) mit einer ganzen Reihe von bis heute (und sicher noch lange Zeit) maßgeblichen Editionen vor allem spätmittelalter-licher Texte.

Frischen theoretischen Wind brachte Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine Bewegung, die sich „New Philology“ nannte und mit Nach-druck an die Prozesshaftigkeit mittelalterlicher Texte erinnerte (Stichworte: variance, mouvance).

Mit ihr wurde die „Materialität der Kommuni-kation“ erneut und auf prononcierte Weise ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt7. Ein ausführliches Referat dieser Debatte und der Bemühungen um eine material philology kann an dieser Stelle mit Verweis auf die umfangreiche Forschungsdiskussion unterbleiben8.

Kurz zusammengefasst die Quintessenz: ‚Über-lieferung‘ ist über die skizzierten forschungsge-schichtlichen Stationen zu einem Grundbegriff literaturwissenschaftlicher Forschung geworden.

Wir fassen unter diesem Terminus in einem wei-ten Sinne jede Form der Tradierung von kulturel-lem Wissen und näherhin dieses Wissen selbst9. Überlieferung ist somit die „Gesamtheit der einer Gemeinschaft aus der Vergangenheit überkomme-nen Wissensbestände, in der Literaturwissenschaft insbesondere die schriftlichen und mündlichen Textzeugnisse“10.

Die eingangs herangezogenen Postulate Kuhns möchten, wie dargelegt, ein Konzept für die germanistische Mediävistik und ihre Literatur-geschichtsschreibung insgesamt bieten. In seinen Worten haben wir im Hinblick auf die Überlie-ferung deutschsprachiger Texte gerade einmal unsere phänomenologischen Hausaufgaben

gemacht, also erst einen relativ kleinen Teil an heuristischer Erschließungsarbeit geleistet. Dabei sind die Fragen, die Kuhn unter die Begriffe Typo-logie und Literaturgeschichte fasst, noch kaum berührt, geschweige denn erschöpfend behandelt.

Zentral für die Frage, um die es mir im Folgenden vornehmlich geht, ist der Status von Schrift und Manuskripten allgemein, der sich aus diesem neu konturierten Begriff von Überlieferung ergibt.

Denn Handschriften sind, das hat nicht zuletzt die überlieferungsgeschichtliche Methode Kurt Ruhs eindrucksvoll belegt, viel mehr als bloße

‚Texttransporter‘11. Nigel F. Palmer bringt diesen durchaus neuen Aspekt folgendermaßen auf den Punkt: „Die Handschrift gilt nicht mehr allein als Textzeuge, als Vertreter der ursprünglichen Niederschrift eines Werks oder als Träger von Varianten im textkritischen Sinne, sondern sie hat einen eigenen Platz in der Literaturgeschichte er-halten.“12 Sie ist somit als eine „Größe sui generis“

aufzufassen13. Oder nochmals anders gewendet:

Handschriften stellen in diesem Verständnis viel mehr als Textträger dar, wie es Michael Cursch-mann formuliert hat, sondern sind geradezu als

„Kulturträger“14 zu verstehen und zu interpretie-ren. Dabei hat die „Berücksichtigung der Über-lieferung als Dokumente eines weit zu fassenden Gebrauchs [...] längst auch den Umgang mit Texten der höfischen Literatur verändert.“15 Eckart Conrad Lutz hat die wesentlichen Stichworte mit ihren notwendigen Beschreibungsebenen zuletzt in aller Klarheit benannt: „Vor allem sollten jedoch konsequent die handschriftliche Überlieferung und der zeitgenössische Umgang mit ihr zum Aus-gangspunkt und zur Grundlage aller Überlegun-gen gemacht werden. Es sollte versucht werden, auf diese Weise Theorie und Praxis, genaue Beob-achtung der Materialität der Überlieferung und

theoriebetonte Bemühungen um mittelalterliche Textualität zu verbinden. Es ging [sc. im Rahmen des von Lutz verfolgten Tagungsprojekts] also besonders darum, die neueren Erkenntnisse der Forschung zur mittelalterlichen Handschriften-kultur für die Diskussion eines historisch begrün-deten Verständnisses mittelalterlicher Textlichkeit fruchtbar zu machen; die erweiterte Kenntnis der Kodikologie, der Paläographie, der Interpunktion, die Erschließung des spezifischen Erscheinungs-bildes der Handschriften und ihres Gebrauchs, der Mise en page und Mise en texte und deren Bedeutung für die Wahrnehmung des Textes wie des Buches, den Einblick in die Buchproduk-tion, die IllustraBuchproduk-tion, in die Konstruktion von Bibliotheken, in die funktionsbezogene Verbin-dung von Heterogenem wie in die BilVerbin-dung jeder Art von Text-Ensembles, Text-Bild-Gefügen und Text-Bild-Verhältnissen.“

Wenn man unter Handschrift nicht nur das klassische Tradierungsmedium von Schrift, nämlich den Codex versteht, sondern auf dieser Ebene für das Mittelalter distinkte Medien der Text fixierung mit jeweils genau zu beschreiben-den und zu differenzierenbeschreiben-den Funktionen fasst, kann dies für die Analyse und Interpretation deutschsprachiger Texte des Mittelalters eine weiterführende Perspektive ergeben, die in einer sinnvollen Verbindung von ‚Arbeit‘ und ‚Konst-ruktion‘, von ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ ins Zentrum des literatur- und kulturwissenschaftlichen Fachdiskurses führt – der vorliegende Beitrag möchte selbst ein Beispiel für eine produktive Verbindung dieser beiden elementaren Kompo-nenten philologischen Arbeitens sein. Es lässt sich zeigen, so meine These, dass sich Modi der Aufzeichnung immer in eine Beziehung zum Auf-gezeichneten selbst stellen lassen. Schrift ist somit

nicht nur ein situationsabstrakter, graphischer Code, sondern immer eingebunden in konkrete

„Existenzräume“. Beide Facetten – Schrift und ihre Existenzräume – sind immer in einem spannungsreichen Miteinander zu sehen und zu bewerten16. Überlieferung ist diesem Verständnis nach ebenfalls keine abstrakte Eigenschaft, die je-dem Text durch das Faktum von schriftgestützter Tradierung per se zukommt, sondern ein Plural-etantum, das sich in vielfältiger Weise funktional ausdifferenzieren lässt hinsichtlich des immer neu zu beschreibenden und neu zu interpretie-renden Verhältnisses von Text und Textträger, vom Text zu anderen Texten und vom Text zu seinen Kontexten17. Daraus lassen sich in einigen Fällen Hypothesen bilden, was Gebrauchs- und Verwendungszusammenhänge von Handschriften im Mittelalter angeht, über die wir selten genug konkrete Aussagen treffen können und für die wir auf Metaaussagen der Texte selbst sowie auf sekundäre Quellen zu ihrer primären und sekun-dären Rezeption angewiesen sind18.

Dass ein solcher Zugriff bereits auf einer heu-ristischen Ebene weiterführend sein kann, zeigt ein oberflächlicher Blick in die Registerbände der zweiten Auflage des „Verfasserlexikons“19. Band 12 enthält ein alphabetisch nach Bibliotheks-orten sortiertes Handschriftenregister, Band 13 ein Register der D rucke sowie der „Sonstigen Textzeugen“. Ich zähle nur auf, was dort verzeich-net ist: Epitaphien, Gebäudeinschriften, Gemälde auf Leinwand, Geschütze, Holzschnittblätter, Holzschüsseln, Karten, Kupferstiche, Minnekäst-chen, Tafelbilder, Textilien und Wandgemälde20. Der „Handschriftencensus“ und das „Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts“ differenzieren auf der elementaren Ebene der „Überlieferungsform“

lediglich zwischen Codex/Fragment eines Codex und Rolle/Fragment einer Rolle; sie operieren also mit einem eng gewählten Begriff von „Hand-schrift“21.

Ich möchte im Folgenden das Potential des dargestellten Verständnisses von Überlieferung an drei möglichst unterschiedlichen B eispielen vorstellen, die in den weiten Kontext höfischer Repräsentation im Hoch- und Spätmittelalter gehören. Zeitlich gehe ich gegenchronologisch vor, von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zurück bis in die Zeit um 1200. Meine Beispiele lassen sich vereinfacht auf die folgenden Schlag-worte bringen: (1) Kanoneninschrift, (2) Gerollte Schrift und (3) Textsammlungen.

(1) Mein erstes Beispiel führt uns zunächst in den Bereich der spätmittelalterlichen Waffen- und Rüstungsherstellung, und zwar nach Nürnberg um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Dort waren die Brüder Hans und Hermann Widerstein als Büch-senmeister und Gießer tätig, Hans ab 1447 offiziell von der Stadt mit dem Amt des Büchsenmeisters bestallt, Hermann ab 144922. Ihre Tätigkeit übten die Brüder offenbar mit einigem Erfolg aus, denn beide hatten sich so große Verdienste um die Herstellung der Nürnberger Bela gerungsartillerie erworben, dass auch andere auf die beiden Brüder aufmerksam wurden. So steht Hans in der ersten Hälfte der 1460er Jahre im Dienst des nieder-bayerischen Herzogs Ludwig IX. in Landshut und ist ab 1467 „Püxenmeister zu Hettingen“

für Erzherzog Sigmund von Tirol. Er stirbt kurz nach 147323. Sein (sicher jüngerer) Bruder Her-mann wird trotz vertraglicher Verpflichtungen gegenüber dem Nürnberger Rat von Erzherzog Sigmund von Tirol abgeworben. Die Nürnberger wollen das verhindern, was allerdings fehlschlägt,

„weil Sigmund mit einem Handelsboykott gegen Nürnberger Waren in Tirol drohte.“24 Handfeste

„diplomatische Verwicklungen“25 also, die beinahe in einem Eklat mit konkreten wirtschaftlichen Konsequenzen für die Reichsstadt Nürnberg münden. Die Aktion ist am Ende aber offensicht-lich ohne Folgen geblieben, jedenfalls wissen wir nichts von solchen. Hermann kehrt nach kurz-fristigen Diensten für Konrad von Freiburg und für Ludwig IX. von Bayern-Landshut unter neuen Voraussetzungen zurück nach Nürnberg: „Ein Jahr später [d.h. ungefähr zwischen 1470 und 1475]

war Hermann zurück, arbeitete dann aber für die Stadt nur noch bei doppeltem Lohn und gegen die Zusicherung, auch weiterhin auswärtige Aufträge, darunter wie sein Bruder auch für Kurfürst Fried-rich, annehmen zu können.“26 Darüber hinaus wurde Hermann aufgrund der für seinen Beruf sicher dringend nötigen Unabhängigkeit nach den Angaben Schmidtchens nie Bürger Nürnbergs27. 1489 richtet sich Hermann mit einer Supplikation, die eine maßgebliche Quelle zu seiner Biographie darstellt, an den Nürnberger Rat. Er wird in den 1490er Jahren gestorben sein28.

Was hat das mit meinem Thema zu tun? Wir wissen in drei Einzelfällen Näheres über die Geschütze, die Hermann angefertigt hat, da sich hier die Inschriften, die auf einzelnen Kanonen angebracht waren, erhalten haben. Die Geschütze selbst sind verloren. Die inschriftlichen Texte hat der Nürnberger Archivar Franz Heinrich (1827–1905) veröffentlicht, wobei Heinrich nichts über seine konkrete Textgrundlage sagt, etwa ob er die Texte direkt von den (damals noch erhalte-nen?) Kanonen kannte, oder ob ihm die Inschrif-ten vermittelt durch Abschrift bekannt geworden sind. Ich vermute eher Letzteres, da sich zu einem Geschütz eine Herstellungsnotiz erhalten hat, die

Heinrich zitiert und die an dieser Stelle wiederge-geben sei:29

Item Meister Herman Widerstein hat die buchsen gossen.

Item bey jc zenntner wigt die buchs.

Item xv werckschuch ist sie lanng vnnd scheust ein stein vonn iij zentner.

Item j zentner vmb ix gld. angedingt.

Item der zeug vnd pock geuellt vnnder xxvj gld.

nit, da man die buchsen mit hebt vnd legt.

viiijcxlvj gld. kost die büchs der bock vnd wagen.

Bei der Kanone, um die es hier geht, handelt es sich demnach um ein sehr großes und teures Geschütz von 100 Zentner Gewicht, von über vier Meter Länge (ein Nürnberger Werkschuh entspricht in etwa 27,85 cm) und konnte Steine von 300 Kilo abschießen. Für den Zentner Bronze hat Hermann neun Gulden bezahlt, zeug vnd pock, um die Kanone zu bewegen, kosteten 26 Gulden, die Anfertigung der Kanone selbst somit 911 Gulden, da als Gesamtpreis 946 Gulden angegeben werden.

Auf dieser Kanone stand nun folgende Inschrift:30 Els von Nürmberg so haist man mich.

aldo so ward gemacht ich

vnd hat mich im selbs auss erkoren

von Nürmberg (so! lies: Würtemb.) Vlrich geboren.

zw trost dem edeln herren mein 5 macht mich hermann Widerstein.

Heinrich schlägt als Datierung für die Els von Nürnberg „ca. 1479“ vor und macht durch Kon-jektur aus der Zuschreibung an einen Nürnberger Auftraggeber mit Namen Ulrich den Herzog Ulrich von Württemberg31. Sowohl Heinrichs Datierung als auch seine Zuschreibung an einen Württemberger oder Nürnberger Ulrich als Auf-traggeber sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar und erläuterungsbedürftig. Zwei Möglichkeiten

scheinen mir deshalb für die Frage nach dem Auftraggeber erwägenswert: Auf Grund der Namensgebung könnte es eine sinnvolle Option sein, das Geschütz einem Nürnberger Ratsmit-glied namens Ulrich zuzuschreiben, der dann hier als Auftraggeber genannt würde. In diesem wäre dann gleichfalls der in Vers 5 genannte edle herre zu sehen. Die topographische Zuschrei-bung im Namen der Kanone könnte dann im Kontext der oben angedeuteten Querelen um die Bindung der Brüder Widerstein an Nürn-berg geradezu eine affirmative Funktion gehabt haben (aldo so ward gemacht ich, V. 2). Ließe sich das als richtig erweisen, wäre die Konjektur Heinrichs hinfällig. Die andere (und wohl wahr-scheinlichere) Möglichkeit ist es, die Konjektur beim Wort zu nehmen und hinter dem Ulrich einen württembergischen Herrscher zu sehen.

In Frage kommt von der Chronologie her allein Graf Ulrich V., der Vielgeliebte (1413 –1480), an den Heinrich gedacht haben wird. Dieser Graf (nicht Herzog, wie Heinrich schreibt) war im Lauf seines Lebens an mehreren Kriegshandlun-gen beteiligt, die ihn als Auftraggeber von Ka-nonen wahrscheinlich machen, auch wenn sich ein positiver Nachweis nicht mehr führen lässt32. Nicht besonders naheliegend erscheint mir al-lerdings die Namens gebung „Els von Nürnberg“

für eine Kanone, die dezidiert württembergi-sche Interessen vertreten soll. Es ist der einzige belegbare Fall, in dem bei Kanonen der Brüder Widerstein überhaupt ein Ortsname vorkommt.

Zum Text der Inschrift selbst: Die extreme Häufung der Ich-Referenzen fällt auf, derer jeder Vers außer V. 4 eine enthält, doch ansonsten ist die Inschrift wenig spektakulär, eine Art ‚Zerti-fikat‘ aus dem Munde der Kanone selbst, in dem

Namen, Herkunft, Auftraggeber und Hersteller genannt werden.

Anders ist dies im Fall der zweiten Kanonen-inschrift, die Hermann Widerstein nach den Angaben von Hampe Ende der 1450er Jahre für Ludwig IX. von Bayern-Landshut angefertigt hat.

Auch dies geht aus dem Text selbst allerdings nicht hervor und lässt sich nur über eine vage bleibende Kontextualisierung erschließen33:

Nach meyner gestalt so haiss ich der narr.

wer mich ertzurnt der helt nit har.

ich prauch mich thummer vnuernunfft.

keiner frewet sich meiner zwkunfft,

wann ich kan hummen vnd sawssen, 5 den schelcken mit kolben laussen.

Auch hier bekommt die Kanone einen Namen, dieses Mal einen männlichen und vor allem einen sprechenden Namen, der zum Ausdruck bringt, dass sie ganz nach ihrer Art/Verfasstheit (gestalt, V. 1) mit thummer vnuernufft (V. 3) die Bösen (schelcken, V. 6) mit ihrer Keule (kolben, V. 6) stra-fen wird, was metaphorisch ins Bild des Beraubens der Haare (der helt nit har, V. 2) und des Lausens (laussen,V. 6) gefasst wird. Das ist sicher gutes altes heldenepisches Vokabular. Der im Beispiel der Els von Nürnberg noch recht nüchtern beschriebene Herkunftsausweis der Kanone fehlt hier vollstän-dig und beschränkt sich ausschließlich auf die Ebene des dreinschlagenden Narren. Wieder ist der gesamte Text aus der Perspektive der spre-chenden Kanone verfasst, auch hier wieder mit Betonung der pronominalen Deixis in jedem Vers außer in V. 6.

Die dritte und letzte erhaltene Inschrift – wie die bereits zitierten im Übrigen im vierhebigen Paarreimvers verfasst – enthält Informationen, aus denen Hersteller und Auftraggeber eindeutig

hervorgehen. Ich zitiere zunächst den vollständi-gen Text, der mit 16 Versen zugleich die umfang-reichste erhaltene deutschsprachige Kanonen-inschrift sein dürfte:

Ich haiss boss els nach meinem sitt.

doch wenn ich schlaff so peiss ich nit.

wer aber vmb mich werben thut, der hat nit syn noch clugen mut.

zu wem ich aber komen muss, 5

dem wurd sorgen nymer puss.

ich pin im fewr geflossen, dadurch zu disem werck gegossen vnd gentzlich gar worden rein.

mich macht Herman Widerstein. 10 ich dine einem kurfursten hochgeboren,

der mich zum ernst hat auserkoren:

pflaltzgraue [!] friderich ist sein nam.

den rawbern ist er gram.

er liess selber giessen mich. 15 die ander ist gestalt als ich.

Hermann Widerstein hat die ‚böse Els‘ demnach für Kurfürst Friedrich den Siegreichen (1425 –1476) angefertigt (V. 10 und V. 13). Der Kurfürst ist es hier, der den ‚Räubern‘ (V. 14) feindlich gegenüber-steht, nicht die Kanone selbst (wie im Falle des Narren), die für den Ernstfall im Dienst Friedrichs bereitsteht (V. 12 und V. 11). Ausführlich schildert die Kanone hier auch die Geschichte ihrer eigenen Herstellung (V. 7– 9). Der erste Abschnitt des Textes (V. 1– 6) ist gewissermaßen ein weibliches Komplement zu dem Narren aus dem zweiten Text, hier nun mit deutlichem Anklang an Voka-bular aus der Liebesdichtung, wobei die Rollen von vornherein klar verteilt sind. Die Els trägt das Epitheton ‚böse‘ (V. 1), ist immerhin friedlich, wenn man sie schlafen lässt, wirft aber denen Un-verstand vor (der hat nit syn noch clugen mut, V. 4),

die sich um sie bemühen (werben, V. 3)34. Subtile Allusionen an Vokabular und Vorstellungen, die aus dem Minnesang bekannt sind, ziehen sich aber auch durch die weiteren Verse des Textes: Aus dem Herstellungsprozess geht die Els als rein (V. 9) her-vor, eines der zentralen Attribute der Frau in der Liebesdichtung. Wie im Fall des Narren ist es aber nun die Els, die jemandem dient, nämlich dem kurfursten hochgeborn (V. 11), der sie auserwählt hat (auserkorn, V. 12), nicht als Objekt seiner Liebe freilich, sondern zum ernst (V. 12). Das klassische Dienstmodell des Minnesang wird hier also zum einen von der Rollenkonstellation her auf den Kopf gestellt (Geschütz dient adligem Fürst vs.

Mann dient adliger Frau), zum anderen wird es durch die Angabe der Namen konkretisiert. Ein weiterer Schritt wird im Text dadurch vollzogen, dass die Trennung von Schöpfer, der mit der typischen me fecit-Formel eingeführt wird (mich macht Herman Widerstein, V. 10), und Auftrag-geber durch die starke Betonung der Rolle Fried-richs, der sie selbst habe gießen lassen (er liess selber giessen mich, V. 15), zumindest im Ansatz verwischt wird. Worauf sich der Schlussvers die ander ist gestalt als ich („die andere sieht genauso aus wie ich“, V. 16) bezieht, bleibt unklar. Hampe vermutet, dass der Vers sich an eine „Zwillings-schwester dieser ‚bösen Else‘ [richtet], ein zweites ganz gleiches Geschütz, das ebenfalls für Kurfürst Friedrich und seine Kriege von Meister Hermann gegossen sein mag.“35 Liest man auch diesen Schlussvers vor dem Hintergrund des Minnesang, erhält der Vers durch die Einführung der ‚Zwil-lingsschwester‘ nachgerade einen parodistischen Zug. Denn diese steht – das bleibt freilich ungesagt – gleichermaßen im Dienst des Kurfürsten und ist somit eine, vielleicht die härteste Konkurrentin der bösen Else in der Bemühung um die Gunst

des Kurfürsten. Nicht zuletzt dieser letzte Punkt deutet darauf hin, dass Minnesang nicht der ein-zige literarische Referenzpunkt ist, auf den sich die Inschrift beziehen lässt: Als narratives Muster ist hier natürlich an die gefährliche Brautwerbung zu denken, die hinter dem Stichwort werben und der

„explosiven“ Schönen, die einem herausragenden Herrscher gegeben werden soll, steht36.

Die Tatsache, dass Geschütze Namen bekom-men, ist mit Blick auf die Tradition berühmter namentragender Waffen keine mittelalterliche Besonderheit an sich37. Übrigens sind auch zu an-deren Geschützen der Brüder Widerstein Namen überliefert, die sogar in verschiedenen Nürnberger Stadtchroniken erwähnt werden38.

Alle drei Inschriften sind besondere Beispiele für sprechende Gegenstände im Mittelalter, wie sie in der Literatur bisweilen vorkommen, am prominentesten das sprechende Buch oder der sprechende Brief39. Hier werden nun Kanonen Texte in den Mund gelegt, und es ist möglich, sich anhand von Vergleichsbeispielen eine recht konkrete Vorstellung von der Art und Position der Inschrift auf einem Geschütz zu machen40. Das ist eine methodisch wichtige Frage, denn in dem Abdruck von Heinrich (und in meinem eigenen oben stehenden selbstverständlich auch) sind die Inschriften vollständig aus ihrem ursprünglichen Überlieferungskontext genommen.

Versuchen wir den Kontext dem Ansatz nach zu rekonstruieren: Die Inschriften werden in der Regel auf der gut sichtbaren Oberseite des Kano-nenlaufs angebracht (ob vorne an der Mündung, in der Mitte oder hinten kann variieren, auch eine Verteilung über das ganze Geschütz kommt vor) und sind häufig mit Ornamenten versehen41. Bei den Inschriften selbst handelt es sich wohl meist um aus dem Material der Kanone gegossene

Tafeln mit ‚erhabener‘, gut sichtbarer und lesbarer Schrift42. Text und Textträger stehen in diesen Fäl-len also in einem sehr engen Verhältnis, sie „ver-schmelzen“ geradezu miteinander. Dazu kommt als ein weiterer Aspekt die Tatsache, dass es sich bei der Kanoneninschrift um lokomobile Texte handelt, die vor den Toren der feindlichen Städte positioniert werden konnten (im Unterschied zu lokostatischen Inschriften an Häusern etwa)43. Wer sind schließlich die primären Rezipienten, zu denen die Kanone spricht? Ich denke, dass nicht zuletzt hier die repräsentative Funktion der

Tafeln mit ‚erhabener‘, gut sichtbarer und lesbarer Schrift42. Text und Textträger stehen in diesen Fäl-len also in einem sehr engen Verhältnis, sie „ver-schmelzen“ geradezu miteinander. Dazu kommt als ein weiterer Aspekt die Tatsache, dass es sich bei der Kanoneninschrift um lokomobile Texte handelt, die vor den Toren der feindlichen Städte positioniert werden konnten (im Unterschied zu lokostatischen Inschriften an Häusern etwa)43. Wer sind schließlich die primären Rezipienten, zu denen die Kanone spricht? Ich denke, dass nicht zuletzt hier die repräsentative Funktion der

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