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Körper, Sexualität und Geschlechterhierarchie

Im Dokument Mit Eroberungen leben (Seite 48-54)

ln ihrer Erzählung "Ein Schritt nach Gomorrha" schil-dert lngeborg Bachmann die Begegnung zweier Frauen. Charlotte ist verheiratet und eine bekannte Pianistin. Eines Nachts, während ihr Mann auf Rei-sen ist, bleibt nach einem Empfang mit vielen Gä-sten eine junge Frau zurück: Mara, die einfach nicht wegzuschicken ist. Charlotte läßt sich zunächst wi-derstrebend auf das Zusammensein ein, geht dann aber den Phantasien nach, die sich ihr durch den Schritt aus ihrem gewohnten Leben hinaus eröffnen:

"Sie war frei. Nichts mehr erschien ihr unmöglich.

Wieso sollte sie nicht mit einem Wesen von gleicher Beschaffenheit zu leben beginnen?" (Bachmann 1982: 198) Aber als Charlotte sich auszumalen ver-sucht, wie ein neues, anderes Leben aussehen könnte, zeigen ihre Wünsche und Vorstellungen doch wieder nur das alte hierarchische Muster:

Charlotte würde sich Mara unterwerfen, so wie sie sich bisher ihrem Mann unterworfen hatte: "Ich will mein Geschöpf, und ich werde es mir machen."

(a.a.O.: 205) Als Mara nach Zärtlichkeiten verlangt, versagt Charlottes Vorstellungsvermögen gänzlich.

"Charlotte dachte: wie aber kann ich Mara berüh-ren?" (a.a.O.: 194) "Sie suchte in ihren Gefühlen nach einer Anweisung, in ihren Händen nach einem Instinkt, in ihrem Kopf nach einer Kundgebung. Sie blieb ohne Anweisung." (a.a.O.: 196) Mara verhält sich so wie Charlotte sonst ihrem Mann gegenüber, verführerisch und verlangend, zugleich aber passiv und abwartend. ln die aktive Rolle gedrängt, hat Charlotte keine Vorstellung davon, wie sie handeln könnte, wie sie Zärtlichkeit geben, sexuelle Wün-sche ausdrücken sollte.

"Ich bin in kein Bild hineingeboren, dachte Char-lotte. Darum ist mir nach Abbruch zumute." Charlot-te weiß nicht weiCharlot-ter, weil sie keine Bilder im Kopf und keine Anweisungen im Körper findet für eine Liebesbeziehung zwischen zwei Wesen von glei-cher Beschaffenheit. Ihre Phantasien und Hand-lungsmöglichkeiten versagen in dem Moment, als sie einen Schritt aus dem traditionellen hierarchi-schen und polarisierenden Muster hinausgehen möchte, in dem Dominanz und Aktivität dem Mann, Unterwerfung und Passivität der Frau zugeteilt sind.

Schließlich lehnt Charlotte eine weitere Annäherung zwischen Mara und sich ab, weil sie keine hierarchi-sche Beziehung will, nicht als männliche und nicht als weibliche Dominanz: "Nicht das Reich der Män-ner und nicht das der Weiber. Nicht dies, nicht je-nes." (a.a.O.: 212)

lngeborg Bachmann schrieb diese Erzählung in den fünfziger Jahren.

Zwei Jahrzehnte später sah sich auch die Frau-enforschung mit dem Problem konfrontiert, daß das

weibliche Begehren bisher vor allem darauf gerich-tet war, begehrt zu werden, Objekt männlichen Be-gehrens zu sein. Zwar hieß es schon Anfang der siebziger Jahre im Song einer Frauenband: "Frauen, zerreißt eure Ketten, ... Schluß mit dem Objektsein in Betten!", doch, wie Barbara Sichtermann in einem 1982 erschienenen und immer noch aktuellen Auf-satz feststellt, bringt die feministische Theorie wenig dazu vor, wie denn die Frau zum Subjekt ihrer Se-xualität werden könnte. "Wie kommen die Frauen, die ,befreiten Objekte', dazu, selbst Objekte zu bil-den? Können sie es? Versuchen sie es? Dürfen sie?

Wollen sie?" (Sichtermann 1983: 71, Hervorhebung i.O.) Frauen sind, so Sichtermann, beim Bilden von Objekten durch eine "historische Schwäche behin-dert" (ebd: 72). Es fällt ihnen schwer sich selbst in

"ein aktives Verhältnis zur Weit zu setzen" (ebd:71 ), die Weit zu ergreifen und zu begreifen, etwas aktiv anzueignen und festzuhalten ebenso wie etwas los-zulassen, abzutrennen und wegzustoßen. Indem Sichtermann über die Folgen dieser Schwierigkeiten für die Liebe nachdenkt, geht es ihr ebenso wenig wie jener Charlotte in Bachmanns Erzählung um ei-ne Neuauflage von Herrschaftsstrukturen. Sichter-mann denkt nicht an eine Umkehrung des Ge-schlechterverhältnisses, so daß nun die Frauen Männer zum Objekt machen, bezwingen und unter-werfen würden, sondern es geht um ein wechselsei-tiges Spiel von Aktivität und Passivität, von Zug-reifen und Hingeben, von Begehren und Sich-Begehren-Lassen. Dazu hätten beide, Frauen wie Männer, etwas Neues zu entdecken und einzuüben:

jeweils den Anteil an Verhaltensmustern und Gefüh-len, der durch die Polarisierung der Geschlechts-charaktere abgespalten und nur einem Geschlecht zugesprochen war.

Die mit biologistischen Argumenten begründete Vorstellung, die Frau sei passiv, der Mann sei aktiv, hat die historische Schwäche der Frau im aktiven Umgang mit der Weit massiv gefördert. Denn die Polarisierung der Geschlechtscharaktere ist nicht nur eine Ideologie, die in den Köpfen sitzt und durch Umdenken zu überwinden wäre, sondern ist, wie Eberhard Schorsch (1988: 21) betont, "ein Phantas-ma": etwas, das sich im Unbewußten, und das heißt auch: im Körper, eingeschrieben hat. Demnach ist die Behinderung der Frau, aktiv mit der Weit umzu-gehen und Objekte zu bilden, nicht nur eine histori-sche, sondern auch eine wirklich körperliche Schwä-che.

Eine Szene in lngeborg Bachmanns Erzählung macht diese Schwäche sehr anschaulich: Als Char-lotte es hinnimmt, daß Mara sie küßt, ist sie über-rascht über die "Küsse, die der kleine Mund gab"

(a.a.O.: 195). Sie erinnert sich daran, wie sie als Kind manchmal ihre Katze geküßt hatte: "( ... ) auf die Schnauze, das feuchte, kühle, zarte Etwas( ... )

So ähnlich feucht, zart, ungewohnt waren die Lip-pen des Mädchens. An die Katze mußte Charlotte denken und die Zähne zusammenpressen. Und zu-gleich versuchte sie doch zu bemerken, wie diese ungewohnten Lippen sich anfühlten.

So also waren ihre eigenen Lippen, so ähnlich be-gegneten sie einem Mann, schmal, fast wider-standslos, fast ohne Muskel eine kleine Schnau-ze, nicht ernst zu nehmen." (a.a.O.: 196)

Küsse "fast ohne Muskel" entsprachen dem Phan-tasma der Weiblichkeit: Sanft, zart und schwach sol-len sie sein, ohne verlangende, fordernde, drängen-de odrängen-der gar saugendrängen-de Muskelaktivität. Und hier ist sicher nicht nur an die oralen Küsse zu denken, son-dern auch an andere körperliche Ausdrucksformen weiblichen Begehrens. Charlotte also sucht wohl deshalb vergebens nach einem Instinkt, nach einer Kundgebung dazu, wie sie Mara berühren soll, weil ihre Muskeln zu schwach und zu wenig geübt darin sind, aktiv und kraftvoll ihr Begehren zu äußern.

Denn was im Körper als muskulärer Bewegungsab-lauf nicht eingespielt ist, kann auch als Handlungs-anweisung nicht abgerufen werden. Was der Körper nicht eingeübt und gespeichert hat, kann er auch der Phantasie nicht als umsetzbare Vorstellung anbie-ten.

Nun stimmt es nicht ganz, daß Frauen nie geübt haben, ihr Begehren kraftvoll, aktiv und fordernd zu äußern. Sehen wir einem Säugling zu, während er an der Brust trinkt, so ist bei Mädchen wie bei Jun-gen eine höchst aktive Muskeltätigkeit zu beobach-ten. Dabei kommen nicht nur die Mund-, Gesichts-und Halsmuskeln zum Einsatz, auch die Bauch- Gesichts-und Beckenmuskeln unterstützen das Saugen, und die Bewegungswelle des Anspannens und Loslassens ist bis in Arme und Beine, bis in die Finger und Ze-hen zu verfolgen. Ähnliche Bewegungswellen, die den gesamten Körper rhythmisch durchlaufen, sind beim Erwachsenen, wie Wilhelm Reich beschreibt, Kennzeichen eines Orgasmusreflexes, wenn er nicht durch psychische und körperliche Sperren behindert wird (Reich 1987: 249).

Doch wird die Möglichkeit oft schon früh gestört, Lust und Befriedigung mit allen Muskelfasern zu er-leben, so daß sie im ganzen Körper lebendig blei-ben. Zum Beispiel beobachtete Elena Belotti, daß manche Mütter beim Stillen das aktive Saugen je nach Geschlecht des Kindes unterschiedlich wahr-nehmen und entsprechend verschieden reagieren.

Kraftvolles Nuckeln wird beim männlichen Säugling eher toleriert, denn es stimmt ja mit der kulturellen Erwartung überein, daß aus ihm später ein Mensch mit einem "energischen Sexualtrieb" werden soll, wie es Sigmund Freud einmal formulierte. Das gleiche kraftvolle Nuckeln einer kleinen Tochter empfinden manche Mütter dagegen als gierig und unschicklich.

Dann versuchen sie, wie Belotti bei einigen Müttern beobachtete, durch kurze Unterbrechungen des Saugens, durch Entziehen der Brust oder der Fla-sche also, das kraftvolle Verhalten abzuschwächen.

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So läßt sich schon beim kleinen Mädchen errei-chen,

"daß es seinen Impuls kontrollierte und den Sauger bzw. die Brustwarze nur noch mit großer Vorsicht zwischen die Lippen nahm, und nach und nach lö-ste kontrolliertes Saugen die energischen Bewe-gungen ab, bis schließlich das Baby seine Sicher-heit und seine Kraft verloren hatte" (Belotti 1975:

28}.

Was Belotti hier beschreibt, wäre, mit lngeborg Bachmann gesagt, eine frühe Einübung in einen Kuß "fast ohne Muskel".

ln der frühen Sozialisation wird die Fähigkeit, Be-wegungsimpulse den ganzen Körper durchlaufen zu lassen, häufig dadurch gestört, daß Kinder genötigt werden, Wut und Angst zu unterdrücken. Das veran-laßt sie, den Atem anzuhalten, wenn sie Aggressio-nen oder auch "Lustempfindungen im Bauch oder in den Genitalien verspüren und Angst davor haben"

(Reich a.a.O.: 232). Um Wut, Angst und Lust nicht fühlen zu müssen, wird die Bauchdecke ange-spannt, und die Gesäßmuskeln werden eingezogen.

Eine von Wilhelm Reichs Patientinnen sagte dazu:

"Ich mache den Bauch tot, dann spüre ich nichts mehr" (ebd.).

Ein solches "totes Becken" oder zumindest ein Becken fast ohne Muskel ist in unserer Gesellschaft keine Seltenheit. Wie groß der Bedarf an der Wie-derbelebung der Beckenmuskulatur ist, zeigt z.B.

das wachsende Angebot an Kursen zur Schwanger-schaftsgymnastik. Auch für Frauen mit Harninkonti-nenz, Senkungs- und Menstruationsbeschwerden gibt es inzwischen Gymnastikkurse. Schwangere und kranke Frauen lernen dabei, das zu schwache oder verkümmerte Muskelgeflecht im Bereich der Vagina, der Blase, des Anus und der Innenseite der Oberschenkel zu stärken, zu aktivieren oder auch überhaupt wieder zu entdecken. Die Erschlaffung der Beckenbodenmuskeln ist also kein vereinzeltes und zufälliges Phänomen, sondern ein Leiden, das in tiefem Zusammenhang mit dem Weiblichkeitsbild unserer Gesellschaft steht.

Die praktischen Übungen, wie sie in solchen Kur-sen gemacht werden, übernehmen zur Aktivierung der Beckenmuskulatur viele Elemente aus dem orientalischen und afrikanischen Tanz. Das erfordert nicht nur ein wirkli~h anstrengendes Krafttraining, sondern auch die Uberwindung psychischer Hem-mungen. Denn diese Tanzformen präsentieren eine Art der weiblichen Erotik, die sehr anders ist als das europäische Ideal. Als ich 1979 im Senegal zum er-sten Mal afrikanische Frauen tanzen sah, wußte ich vor Verlegenheit kaum, wo ich hinsehen sollte. Ähn-lich geht es mir noch heute zuweilen bei orientali-schen Tänzerinnen.

Denn was Bauchtanz genannt wird, ist ein Tanz des Beckens, eines höchst lebendigen Beckens, das aus sich selbst heraus, nur von den Beckenmuskeln getragen und bewegt, dem Rhythmus der Musik folgt. Beim orientalischen und afrikanischen Tanz bleibt der Körperschwerpunkt im Becken. Die Füße stehen nicht parallel, sondern leicht nach außen und

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treten flach und fest auf dem Boden auf. So entsteht ein erdverbundener Eindruck. Außerdem sind, was für europäische Frauen verpönt ist, die Knie geöff-net und die Bauchmuskulatur ist völlig entspannt, so daß das Bauchinnere sich durch sein Eigengewicht vorwölbt.

Diese Körperhaltung läßt den Beckenbodenmus-keln volle Bewegungsfreiheit, sie allein bringen den Bauch zum Tanzen, ohne daß etwa Beine oder Rük-kenmuskeln aktiv werden müssen. Nun unterliegen die Beckenbodenmuskeln zwar der willkürlichen Kontrolle, sie sind aber auch imstande, sich reflex-haft zu bewegen, zu rollen, zu zucken und zu be-ben, während wir von Sinnen geraten - im Orgas-mus. Ich denke, hier liegt der Grund für die Verlegenheit und Irritation europäischer Zuschaue-rinnen und Zuschauer: daß wir zuweilen nicht mehr erkennen können, ob die Bewegungen der Tänzerin noch kontrolliert dem Rhythmus folgen oder in un-willkürliche orgastische Bewegungen übergehen.

Der europäische Tanz, wie er sich in der Renais-sance entwickelte, gründete in einer andern Vorstel-lung über das Verhältnis von Mensch und Weit, und er prägte und festigte dies neue Menschenbild zu-gleich, wie Rudolf zur Lippe in seiner Arbeit "Natur-beherrschung am Menschen" (1974) ausführlich dargelegt hat. Durch eine "hohe Haltung" (ebd:

I, 222) sollte der Eindruck der Schwerelosigkeit er-zeugt werden, die die Überwindung der Erdgebun-denheit sichtbar machen sollte. Die Körperhaltung hat also der Erdanziehung entgegen in die Höhe zu weisen, wozu eine Verlagerung des Körperschwer-punkts von der unwillkürlichen Mitte, die im Becken liegt, nach oben in den Brust- und Schulterbereich nötig ist. Der Eindruck des Schwebenden läßt sich verstärken, indem man sich beim Tanzen oder auch beim Gehen auf die Fußspitzen erhebt, also von den Füßen aus in der Vertikalen auf- und abwippt. Bei solchen Bewegungen ist nun allerdings die Gefahr groß, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der künst-lich nach oben verlagerte Schwerpunkt muß deshalb besonders gut ausbalanciert werden. Das erfordert ständige anstrengende Muskeltätigkeit Bauch und Becken müssen eingezogen und nach hinten ge-drückt werden, während Rücken- und Schultermus-keln unter voller Anspannung den willkürlichen Schwerpunkt nach oben zu heben haben.

Zur Lippe zitiert einige Renaissance-Texte, die die Abkehr von der Erdgebundenheit ausdrücklich thematisieren. Eine Körperhaltung und ein Gang, der zeigt, daß man von der Erde getragen wird, sei Sache der plumpen Bauern, die selbst erdhaft sind (zur Lippe a.a.O.: I, 222). Beim Tanz habe man sich zu "brüsten", nur leicht und graziös zu beugen und die Fersen anzuheben, sonst, heißt es einmal, sehe man aus wie ein Besessener, der sich beschwören läßt (zur Lippe a.a.O.: II, 196), also wie jemand, der sich unwillkürlichen Bewegungen überläßt. Wer beim Tanz, besonders beim Beugen, die Knie zu weit öffnet, sähe aus",als ob man Wasser lassen will" (zur Lippe a.a.O.: II, 198), er oder sie erinnert damit also an einen Vorgang, bei dem die

Becken-bodenmuskulatur aktiv sein muß und bei dem, be-sonders beim Mann, das Becken vorgeschoben wird. Alles, was dergleichen "rohe Anblicke" (ebd.) erzeugen könnte, gilt es nun, der höfischen Etikette gemäß, zu vermeiden.

Die Herstellung einer "hohen Haltung" durch ei-nen künstlich nach oben verlagerten Schwerpunkt ist nur möglich, wenn der gesamte Körper "von einer Hülle gespannter Muskeln zusammengezogen" (zur Lippe a.a.O.: 11,238) wird. Die Einübung in diese Haltung dient, so zur Lippe, der Verinnerlichung der vertikalen Ordnung, des Herrschaftsprinzips, (zur Lippe ebd.) denn "man suchte sich selbst nach den Augen des objektiven Zeitgenossen zu formen, wenn man sich bewegte, statt in originären Erfah-rungen den eigenen Körper anzueignen" (zur Lippe a.a.O.: II ,228).

Diese von zur Lippe postulierten "originären" Er-fahrungen lassen sich durch die Gegenüberstellung mit dem orientalischen Tanz noch etwas genauer beschreiben. Dabei gehe ich allerdings nicht davon aus, daß das Verhältnis zum Körper in anderen Kul-turen ursprünglicher ist, wie es zur Lippes Formulie-rungen nahelegen. So meint er, daß die Fixierung eines willkürlich angehobenen Schwerpunkts die

"Beherrschung eines Körpers materialisiert",der sonst "nur den Impulsen von Lust und Unlust gefolgt wäre" (Zur Lippe a.a.O.: II 227). Auch die Tänze agrarischer Gesellschaften sind kein rohes und plumpes Ausleben von Triebimpulsen, sondern höchst differenzierte, kulturell geprägte Ausdrucks-und Erlebensformen. Die Impulse von Lust Ausdrucks-und Un-lust werden in jeder Gesellschaft kontrolliert, aller-dings auf je unterschiedliche Weise.

Als eine in Europa sozialisierte Frau vermag ich deshalb auch nicht zu sagen, was eine Araberin beim Tanz empfindet und ausdrückt, sondern ledig-lich, welche Erfahrungen mir solche Tanzübungen ermöglichen. Sich dem unwillkürlichen Schwerpunkt und seinen Schwingungen zu überlassen, also vom Becken aus zu tanzen, setzt für Europäerinnen zweierlei voraus: zum einen die Lockerung der mus-kulären Panzerung, zum andern die Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur. Dadurch wird etwas spür-bar, das die europäische Körperhaltung sonst lähmt oder totstellt: das Bewegungsspiel am Übergang von Kontrolle und Kontrollverlust Werden also, wie es die europäische Körperhaltung fordert, die Kör-perregionen und Muskelpartien stillgestellt und ein-gesperrt, in denen willkürliche in unwillkürliche Be-wegungen übergehen können, so läßt sich das Spiel von Kontrolle und Kontrollverlust nicht mehr bewußt am eigenen Leibe erfahren.

Aus dem Körper und aus dem Bewußtsein ausge-schlossen wird dadurch das Wissen um den Über-gang von Kontrolle und Auslieferung, von Macht und Ohnmacht gegenüber den sexuellen Impulsen.

Wenn der Mensch diese eigene innere Grenze zwi-schen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen nicht mehr körperlich erfahren kann und soll, ist er umso abhängiger von äußeren Instanzen, die Gren-zen setGren-zen und durch Normen und Ideale Sicherheit

gewähren. Wenn der körperliche Halt, den der un-willkürliche Schwerpunkt bietet, verloren geht, ist es nötig, sich an gesellschaftlichen Vorgaben zu orien-tieren, wie man sich zu halten und zu verhalten hat.

Nun sind von den körperlichen Zurichtungen, die die Verinnerlichung von Herrschaftsprinzipien er-möglichen, Frauen wie Männer betroffen. Die Kör-perhaltung, die das Einzwängen und Stillstellen der Beckenregion bewirkt, wird von beiden Geschlech-tern gefordert. Die Erklärung dafür, daß sich seit der Renaissance die Unterschiede nicht nur zwischen den sozialen Schichten, sondern auch zwischen den Geschlechtern verschärften, muß also auf andere Faktoren eingehen. ln der Tat waren schon die Um-stände, unter denen sich das neue Körperideal her-ausbildete, für Frauen und Männer sehr verschie-den, folglich konnten die weiteren Auswirkungen zu einer immer massiveren Ungleichheit der Ge-schlechter führen. Dazu möchte ich nun einige hi-storische Aspekte aufzeigen.

Schon um das Jahr 1000 veränderte sich das Verständnis von Verwandtschaft, wie Georges Duby gezeigt hat: Die "horizontale" Gruppe der gleich-zeitig Lebenden als soziale Einheit verliert an Be-deutung, während die "vertikale" Dimension der pa-trilinearen Abstammung wichtiger wurde: "Zur maß-geblichen Verwandtschaftseinheit wurde jetzt eine Abstammungslinie von Männern, in der die Stellung und das Recht der Frauen immer schwächer wur-den" (Duby 1985: 1 07). Denn das Erbrecht ändert sich jetzt dahingehend, daß der Grundbesitz nicht mehr geteilt, sondern als Ganzes dem ältesten Sohn übertragen wird. Jüngere Söhne und Töchter wer-den also von der Erbteilung ausgeschlossen, letzte-re erhalten allenfalls bei der Heirat eine Mitgift, die, als die Geldwirtschaft zunimmt, aus einem Geldbe-trag besteht. Und Geld zerrinnt leicht, sei es, weil es im Besitz des Mannes aufgeht, sei es, weil die Kir-che Spenden erwartet (Goody 1985: 1 00). Endet die Ehe durch den Tod des Gatten oder durch Schei-dung, so hat die Frau nun keinen Grund und Boden mehr, der ihre Existenz sichert und keinen Ort, an den sie gehört. Während sich also beide Geschlech-ter in den Ausdruck der Schwerelosigkeit einüben, verlieren die Frauen zugleich im wörtlichen Sinne den Boden unter den Füßen.

Damit verlieren die Frauen auch mehr und mehr ihre Existenzbasis, geraten in Abhängigkeit und Be-nachteiligung. lvan lllich (1983) nennt die alten Ge-sellschaften, in denen jedes Geschlecht einen je ei-genen Lebensbereich mit eigener Ökonomie hatte,

"Genus"-Kulturen. Und er zeigt, wie sich mit dem Zusammenbruch der Genus-Weiten die moderne,

"sexistische" Gesellschaft herausbildet. Der Schwund der weiblichen Subsistenzbasis vollzog sich in Europa über einen langen Zeitraum hinweg, noch bis ins 18.Jahrhundert hatten Bäuerinnen und Bürgersfrauen meist einen eigenen Arbeits- und Er-werbsbereich. Doch der Verlust eigener Produk-tionsmittel setzte Frauen, besonders der unteren Schichten, dem schwankenden Bedarf an Arbeits-kräften aus. Im Bereich der Lohnarbeit, die ihre

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