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III. Fragmentierungsgründe

3. Juristische Methodenlehre

Rechtswissenschaft als „Jurisprudenz“ beschäftigt sich mit dem Verste-hen und der (richtigen) Anwendung, bisweilen auch der Fortentwicklung des Rechts.

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Die Perspektive bzw. die institutionelle Einbindung sind allerdings, verglichen mit der Rechtsanwendung, gänzlich unterschiedlich.

Die Außenperspektive der Rechtswissenschaft kontrastiert zur Innenper-spektive der Rechtsanwendung.

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Anwendungsorgane denken und agieren entscheidungsorientiert, müssen „den Fall“ regeln bzw. erledigen, können Vagheit und Mehrdeutigkeiten somit nicht „offen“ lassen. Rechtswissen-schaftler hingegen können (und sollten!) mit den Methoden der Rechtswis-senschaft nicht lösbare Schwierigkeiten bloß aufzeigen. Nicht alles lässt sich wissenschaftlich „erkennen“.

Freilich berühren wir hier einen Kern der rechtswissenschaftlichen Methoden- und gleichzeitig Positivismusdebatte. Behauptet wird auch, dass sich, unter Umständen unter Zuhilfenahme allgemein gültiger Rechtsprin-zipien, so gut wie immer eine „richtige“ Lösung finden lässt, und zwar auch durch die Jurisprudenz.

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Durchaus nicht deckungsgleich, aber zu ähnlichen Ergebnissen führend ist die These, ein herrschaftsfreier Diskurs könne häufig wahrheitsfähige Ergebnisse hervorbringen, auch bei

sprach-125 Etwas vereinfacht gesagt systematisiert die Rechtswissenschaft die Normenflut und analysiert die Inhalte, einschließlich aller Unklarheiten; versucht, diese zu reduzieren;

nimmt auf diese Weise an der Anwendung und Konkretisierung teil; und wirkt auf die Fort-entwicklung der Gesetzgebung ein. Dabei dürften die gedanklichen Vorgänge beim Verste-hen und Konkretisieren von Normen einerseits durch Rechtswissenschaftler und anderer-seits durch Organe der Rechtsanwendung (etwa Gerichte und Verwaltungsbehörden, aber auch Bürger untereinander) so gut wie identisch sein.

Dazu und zu anderen Disziplinen wie der Rechtsphilosophie, der Rechtstheorie, der Rechtsgeschichte und der Rechtssoziologie vgl. Larenz Methodenlehre (Fn. 27), 181 ff.

Ferner etwa Matthias Jestaedt Vom Nutzen der Rechtstheorie in der Europäischen Integra-tion, in: Günter Herzig/Marcus Klamert/Rainer Palmstorfer/Roman Puff/Erich Vranes/Paul Weismann (Hrsg.) Europarecht und Rechtstheorie, 2017, 1 (2 ff.); Potacs Rechtstheorie (Fn. 26), 15 ff., 18 ff.

Längst nicht erledigt ist der durch die Entstehung der empirisch orientierten Naturwis-senschaften verschärfte Disput, ob die Bezeichnung „Wissenschaft“ überhaupt gerechtfer-tigt erscheint, oder ob es sich eher um eine „Kunst“ oder eine praktische Tätigkeit handelt.

Dazu mit teils neuen Fragestellungen die Beiträge in Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.) Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008.

126 Dazu auch schon oben bei Fn. 70.

127 Vgl. insb. Dworkin Taking Rights (Fn. 5). Kritisch dazu: Griller Rechtsbegriff, in:

Griller/Rill (Gesamtred.) Rechtstheorie (Fn. 44), 56–79.

lich unklaren Normen.

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Aus diesen Unterschieden ergeben sich erhebli-che Fragmentierungspotenziale, nicht zuletzt wenn sie nicht offengelegt werden.

b) Juristische „Methoden“

Die traditionelle juristische Methodenlehre

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– mindestens jene in Kontinentaleuropa – kennt die Auslegungsmethoden oder besser -cano-nes innerhalb

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und außerhalb des so genannten möglichen Wortsinns.

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Diese bedürfen besonderer Voraussetzungen und Rechtfertigung, nämlich zum Beispiel die Analogie zur Schließung einer Regelungslücke. Verbrei-tet heißt es, was jenseits des möglichen Wortsinns liege, könne nicht als

„Inhalt“ des Gesetzes gelten; eine solche Instrumente einschließende Aus-legung wird gern als „ergänzende Rechtsfortbildung“

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oder „richterliche Rechtsfortbildung“ bezeichnet.

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Ungeachtet der weit reichenden Akzeptanz der soeben skizzierten tra-ditionellen „juristischen Methoden“ dem Grundsatz nach ist – wohl nicht erst heute – sowohl hinsichtlich der Grundlegung als auch der Details ein Methodenpluralismus festzustellen.

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Die Ansätze unterscheiden sich hauptsächlich im Gewicht, dem der Teleologie, also der am Zweck und weniger am Ausdruck orientierten Interpretation, und auch danach, welche Rolle überpositiven „Gesichtspunkten“, meist im Interesse der Gerechtig-keit, zugemessen wird.

Mehr oder weniger communis opinio ist, dass unterschiedliche Rechts-gemeinschaften unterschiedlich mit den Auslegungscanones umgehen – also etwa, dass der EuGH viel stärker als nationale Höchstgerichte die

128 Ziemlich am Beginn der Rezeption dieser Debatte in der Jurisprudenz stand die ein-flussreiche Dissertation von Robert Alexy Theorie der juristischen Argumentation, Frank-furt 1978.

129 Zum Folgenden z.B. Bydlinski Methodenlehre (Fn. 28), 428 ff., Larenz Methoden-lehre (Fn. 27), 298 ff.

130 Das sind im Wesentlichen die grammatikalische oder Wortsinninterpretation, die sys-tematische, die historische, und die teleologische Auslegung.

131 Die Auslegungscanones gelten weithin als Ergebnis einer Selbstreflexion, manche meinen: einer hermeneutischen Selbstreflexion, der Jurisprudenz: Larenz Methodenlehre (Fn. 27), 233 ff.

132 Bydlinski Methodenlehre (Fn. 28), 472 ff.

133 Larenz Methodenlehre (Fn. 27), 329, 351.

134 Von traditionellen über „postpositivistische“ bis zu philosophisch-linguistisch beein-flussten Ansätzen findet sich „beinahe alles“. Eher traditionell: Bydlinski Methodenlehre (Fn. 28); Larenz Methodenlehre (Fn. 27); „postpositivistisch“: Alexander Somek/Nikolaus Forgó Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts, 1996;

philosophisch-linguistisch: Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann Juristische Begrün-dungslehre, 1982.

teleologische Interpretation in der Ausprägung des effet utile pflegt,

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aber auch sonst Besonderheiten des EU-Rechtssystems zu berücksich-tigen hat,

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und dass Ähnliches für den EGMR gilt.

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Ferner werden gänzlich unterschiedliche Begründungsstile gepflegt, von knapper cartesi-anischer Begründung bis zu lehrbuchartiger Breite, mit vielen Variationen dazwischen.

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Es liegt auf der Hand, dass eine derart unterschiedliche Methodenpra-xis zu unterschiedlichen Ergebnissen bis hin zu Fragmentierungen führen kann. Man wird nicht fehlgehen, die Spannungen zwischen dem EuGH und dem BVerfG im Zusammenhang mit dem Fall Åkerberg Fransson auch darauf, nämlich eine einerseits pointiert historisch-teleologische Inter-pretation des EuGH, und andererseits eine stärker am (möglicherweise sogar innerstaatlichen) Wortsinn orientierte Interpretation des BVerfG zurückzuführen.

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135 Grundlegend Michael Potacs Auslegung im öffentlichen Recht. Eine vergleichende Untersuchung der Auslegungspraxis des Europäischen Gerichtshofs und der österreichi-schen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, 1994, passim; ferner etwa Michael Potacs Effet utile als Auslegungsgrundsatz, Europarecht 2009, 465 ff.; Rudolf Streinz Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Ole Due (Hrsg.) FS Ulrich Everling, 1995, 1491 ff.

136 Etwa Rudolf Streinz Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts bzw. Unionsrechts durch den EuGH. Eine kritische Betrachtung, in: Stefan Griller/Heinz Peter Rill (Gesamt-red.) Rechtstheorie. Rechtsbegriff – Dynamik – Auslegung, 2011, 223 (241 ff.), der unter anderem auf die fehlende Verfügbarkeit der „Gesetzesmaterialien“, auf die Teleologie und die besondere Bedeutung der Rechtsvergleichung eingeht.

Pointiert kritisch aus jüngerer Zeit Robert Rebhahn Nach §§ 6, 7, in: Attila Fenyves/Fer-dinand Kerschner/Andreas Vonkilch (Hrsg.) ABGB, Klang-Kommentar, 3. Aufl. 2014, insb. Rn. 125 ff. m.w.N.; weniger kritisch Stefan Griller „Verfassungsinterpretation“ in der Europäischen Union, in: Georg Lienbacher (Hrsg.) Verfassungsinterpretation in Europa.

Heinz Schäffer Gedächtnissymposion, Wien 2011, 115 ff.

137 Statt vieler Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention (Fn. 112),

§ 5 Rn. 1 ff., insb. Rn. 14 ff.

138 Reiches Anschauungsmaterial bei András Jakab/Arthur Dyevre/Giulo Itzcovich (Hrsg.) Comparative Constitutional Reasoning, 2017; die Breite des Spektrums wird unge-achtet des Umstands sichtbar, dass die Herausgeber in ihren Schlussfolgerungen (761 ff.) vereinheitlichende Trends zu erkennen meinen.

Statt vieler ferner Mher Arshakyan The Impact of Legal Systems on Constitutional Inter-pretation: A Comparative Analysis: The U.S. Supreme Court and the German Federal Con-stitutional Court, German Law Journal 14 (2013), 1297 ff.; Philippe Nouel „Cartesian Prag-matism“: Look in French and English Law, International Business Lawyer 24 (1996) 22 ff.;

die Beiträge in Anne-Marie Slaughter/Alec Stone Sweet/J. H. H. Weiler (Hrsg.) The Euro-pean Courts & National Courts. Doctrine and Jurisprudence, 1998.

139 Hier wie bei vielen Fragmentierungsgründen kämpft der Beobachter mit dem Schweigen der Gerichtshöfe. Selbstverständlich vermeiden sie jeden Eindruck, dass man

c) Sprachphilosophisches

Diesem Beitrag liegt eine von der herrschenden juristischen Methoden-lehre im Ansatz, freilich nicht hinsichtlich des „normalen Tagesgeschäfts“

abweichende Auffassung zugrunde. Sie nimmt auf die linguistische Wende in der Philosophie (Ludwig Wittgenstein) Bezug und plädiert für deren reflektierte Rezeption durch die Rechtswissenschaft.

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Damit können, so die These, manche hier auf dem Prüfstand stehende Diskursphänomene und Fragmentierungen besser erklärt werden als durch die traditionelle Methodenlehre.

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Der Ansatz wird häufig als so genannte Gebrauchstheorie der Bedeu-tung bezeichnet: „Die BedeuBedeu-tung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“

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Die Bedeutung eines Wortes oder Satzes ergibt sich je und je aus dem konkreten Gebrauch, und kann sich im Lauf der Zeit ändern.

Dies geschieht im jeweiligen sozialen Umfeld, im „Sprachspiel“,

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in dem sich Sprachgebrauch und bestimmte Tätigkeiten verbinden. Pragmatische, also vor allem situativ abhängige Gehalte können nicht von vornherein als bedeutungstranszendierend ausgeschlossen werden.

Vermeintlichen, vorgefundenen Gewissheiten des „korrekten“ Sprach-gebrauchs, nämlich Wortbedeutung und möglicher Wortsinn als

Ausgangs-mit – eventuell genauso gut vertretbaren Variationen der Methodenwahl – zu anderen Ergebnissen kommen könnte.

140 Das Folgende ist eine knappe Zusammenfassung bisheriger Überlegungen dieses Autors sowie deren Weiterentwicklung. Vgl. Stefan Griller/Michael Potacs Zur Unterschei-dung von Pragmatik und Semantik in der juristischen Hermeneutik, in: Helmuth Vetter/

Michael Potacs (Hrsg.) Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1990, 66–105; Stefan Gril-ler Gibt es eine intersubjektiv überprüfbare Bedeutung von Normtexten? Bemerkungen zur Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, in: ders./Karl Korinek/Michael Potacs (Hrsg.) Grundfragen und aktuelle Probleme des öffentlichen Rechts, FS Heinz Peter Rill, 1995, 543 ff.

Aus der umfangreichen Lit. zum Thema ferner Rainer Hegenbarth Juristische Herme-neutik und linguistische Pragmatik, 1982; Koch/Rüßmann Begründungslehre (Fn. 134);

Peter Schiffauer Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1978.

141 Dieser liegt, so kann man vereinfachend sagen, die so genannte gegenstandstheoreti-sche Gebrauchstheorie zu Grunde. Danach bildet ein sprachlicher Ausdruck gleichsam die Welt ab. Damit eng verbunden ist die geläufige Auffassung, ein Wort habe eine irgendwie von vornherein feststehende Bedeutung – in der Auslegung wäre das dann die „Wortbedeu-tung“, mit der traditionellerweise alle Auslegung beginnt. Diese könne allenfalls „an den Rändern“ gewisse Unschärfen aufweisen, was wiederum die Redeweise vom „Begriffs-kern“ und „Begriffshof“ nahelegt. Im Begriffskern sei die Auslegung unproblematisch beziehungsweise „klar“, im Begriffshof könne es dagegen Schwierigkeiten geben.

142 Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe I, 1984, § 43.

Das gilt auch für Sätze: Wittgenstein, ebendort, §§ 20, 421.

143 Wittgenstein Untersuchungen (Fn. 142), § 7.

punkt und Grenze der Auslegung, wird gleichsam der Boden entzogen.

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Die Bedeutung entwickelt sich im Sprachspiel der Rechtsgemeinschaft, an dem – abhängig von der konkreten Verfasstheit der jeweiligen Gemein-schaft – die Staaten, internationale Organisationen, Verfassungsgesetzge-ber, einfache GesetzgeVerfassungsgesetzge-ber, Gerichte, die akademische Lehre, die Bürger (Normadressaten) usw. beteiligt sind. Eine von vornherein feststehende Grenze für die Entwicklung dieses „Spiels“ gibt es nicht.

Allerdings kennt jedes Spiel Regeln, auch das Sprachspiel. Sie können verletzt werden, wenn der Spieler sie falsch anwendet oder durch seine Aktion vielleicht gar das Spiel verlässt.

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Die Bandbreite des korrekten Gebrauchs – hier: der korrekten Rechts-anwendung – dürfte auf dem Boden der Gebrauchstheorie der Bedeutung dennoch größer sein als nach der traditionellen Auffassung. Die säuberli-che Trennung der juristissäuberli-chen Auslegungscanones

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ist bestenfalls eine gedankliche Stütze der einzelnen Untersuchungsschritte, diese können aber weder eine besondere Reihen- noch Rangfolge beanspruchen. Der vorweg feststehende „mögliche Wortsinn“ bietet keine Sicherheit, es gibt ihn nicht.

Überdies sind Gebrauchs- und damit Bedeutungsänderungen durch die am Spiel Beteiligten niemals auszuschließen.

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144 Manches im juristisch-methodischen Diskurs lässt sich in diesem Sinne als hyper-skeptische Bedeutungstheorie kennzeichnen, derzufolge so gut wie alles möglich ist (anything goes). Es lässt sich argumentieren, dass z.B. die antipositivistische Stoßrichtung des Prinzipienarguments Dworkins so rekonstruiert werden kann, vgl. Griller Rechtsbe-griff, in: Griller/Rill (Gesamtred.) Rechtstheorie (Fn. 44), 77 f. Die Bedeutung einer Norm ist dann das, was auf einer konkreten Entwicklungsstufe des Sprachspiels von einem mehr oder weniger einflussreichen Spieler dafür gehalten und entsprechend praktiziert (gebraucht) wird.

145 Wittgenstein Untersuchungen (Fn. 142), §§ 80 ff. Es gibt also, so könnte man auch sagen, Regeln für den korrekten Gebrauch eines Wortes oder Satzes. Sie mögen nicht ein-fach durch das Nachschlagen im Wörterbuch ermittelbar sein, welches ebenfalls nur eine Momentaufnahme durch einen bestimmten Spieler darstellt. Nichtsdestotrotz bildet die im (bisherigen) Sprachspiel entwickelte Regel zugleich den Maßstab für die Beurteilung des Gebrauchs. Es kann auch falschen Gebrauch geben.

Das findet sich auch in der klassischen juristischen Formulierung von Adolf Merkl Das doppelte Rechtsantlitz, JBl 1918, 425, 444, 463, wieder abgedruckt und hier zitiert nach Hans R. Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck(Hrsg.) Die Wiener rechtstheoretische Schule, 1968, 1091 (1106), lange vor der linguistischen Wende: „Ist die Rechtsanwendung dem Belieben des Rechtsanwenders anheimgegeben […], dann ist damit etwas Anzuwen-dendes bestritten, dann sind die Schranken, die dem Rechtsanwender […] errichtet sind, hinweggeräumt, dann ist er unter dem verschämten, ja falschen Titel des Rechtsanwenders zum Rechtserzeuger umgedichtet.“

146 Oben Fn. 130.

147 Die Erlassung und die Anwendung von Rechtsnormen kann somit als kompliziertes Sprachspiel oder besser vielleicht als Lebensform gelten, worauf die Verfasstheit der jeweili-gen Rechtsgemeinschaft erheblichen Einfluss hat, und woran nicht nur der Rechtsetzer,

son-Sogar die Auslegung praeter und bisweilen auch contra legem wird auf diese Weise in ein neues Licht gerückt: Fehlerhafte Rechtsanwendungspra-xis ist zwar zunächst – als Verstoß gegen die Spielregeln – rechtswidrig, kann bei entsprechender Reaktion der Mitspieler (Gesetzgeber, Höchstge-richte usw.) aber gleichzeitig eine Regel- und damit Bedeutungsänderung bewirken. Darauf ist zurückzukommen.

d) Nutzanwendung: Unterschiede zwischen „Sprachgemeinschaften“

aa) Allgemeines

Weder die Integration in der EU, noch die Globalisierung mit allfälli-gen Tendenzen der „Konstitutionalisierung“ des Allgemeinen Völkerrechts haben die vorher bestehenden, teilweise über Jahrhunderte entwickel-ten Sprachgemeinschafentwickel-ten aufgelöst oder obsolet werden lassen.

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Deren Besonderheiten betreffen nicht „bloß“ die natürliche Sprache sowie die juristische Fachsprache, sie betreffen das Verständnis einzelner Rechtsin-stitute, aber insbesondere auch die identitätsstiftende Kraft der nationalen Verfassung.

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Das ändert sich, zunächst einmal im EU-Recht, durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und die Kreation des EuGH als jedenfalls dem Grundsatz nach unstrittig auch zur Entscheidung von Verfassungsfra-gen berufenen Gericht.

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Aber diese Änderung beseitigt die fortbestehende Wirkmacht der nationalen Diskurse nicht, sie muss danach trachten, sie kontinuierlich zu beeinflussen. Ähnliches gilt auch für die EMRK.

151 dern auch die Rechtsanwender mit bedeutungsgebendem Einfluss teilnehmen. Das schließt die Präzisierung von Spielräumen ebenso ein wie die Weiterentwicklung der Bedeutung.

148 Dabei lassen sich zweifellos vielfältige „Schichten“ differenzieren, von der nationa-len über regionale bis zu kontinentanationa-len Gemeinschaften mit unterschiedlichen verbinden-den Elementen.

149 Solange diese nicht in einer internationalen oder supranationalen Gemeinschaft auf-geht, werden vor allem nationale Gerichte und namentlich nationale Höchstgerichte euro-parechtliche, völkerrechtliche und andere „außerstaatliche“ Normen durch die Brille der eigenen Rechtsordnung sehen. Es ist dies die auf die Interpretation gewendete Konsequenz der fortbestehenden Hierarchie, nach der die „Spieler“ und vor allem die zu verbindlichen Entscheidungen berufenen Gerichte ihre Autorität aus der nationalen Verfassung ableiten, die ihnen daher gleichzeitig auch die Grenzen setzt und den methodischen Weg weist.

150 Zum EuGH als Verfassungsgericht statt vieler Griller Verfassungsinterpretation (Fn. 136), 115 ff. m.w.N.

151 Die aktuellen Konflikte zwischen Deutschland und der Türkei über das Grundver-ständnis und die Reichweite des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung – aktuell dazu etwa Götz Hamann Die schmutzige Säuberung, Zeit online, 5.8.2017 <http://www.zeit.

de/2016/33/tuerkei-europa-medien-meinungsfreiheit-saeuberung> (Stand 31.10.2017);

Bülent Mumay Angriff auf den Journalismus, Spiegel online, 27.7.2017 <http://www.spie-

gel.de/kultur/gesellschaft/tuerkei-und-meinungsfreiheit-ein-gastbeitrag-von-buelent-mu-Im internationalen Recht fehlt es darüber hinaus an einer zentralisierten, einheitsstiftenden Interpretation bzw. Autorität zu einer solchen Interpreta-tion.

152

Angesichts der Vielfalt der juristischen Methoden und der Vagheit der zur Verfügung stehenden Auslegungscanones ergibt dies in Kombina-tion unabweislich die Gefahr von Divergenzen, die zunächst offenbleiben.

Reduziert wird diese Gefahr in zwischenstaatlichen Einrichtungen, die über Organe mit verbindlicher Entscheidungsgewalt verfügen.

153

Verbunden und eng verwandt mit diesen grundsätzlichen, methodischen Problemen, bestehen auch konkrete Übersetzungsprobleme in mehrspra-chigen Rechtsgemeinschaften, die das Phänomen ganz handfest greifbar machen. Es können sehr komplexe Auslegungsfragen entstehen, die biswei-len an den Turmbau zu Babel erinnern mögen.

154

Pars pro toto auch hier

may-a-1159781.html> (Stand 31.10.2017) – sind nach Auffassung dieses Autors eines von vielen Beispielen dafür, wie rasch ein (bloß) vermeintlich erreichtes gemeinsames Dis-kursniveau, konkret: durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der EMRK, in die Brüche gehen kann.

152 Dazu und zum folgenden jeweils mit zahlreichen Nachweisen José E. Alvarez Inter-national Organisations as Law-makers, 2005, insb. 65 ff.; Henry G. Schermers/Niels M.

Blokker International Institutional Law, 4. Aufl. 2003, §§ 1344 ff.

153 Freilich reduziert dies die Gefahr der Zersplitterung nur innerhalb dieser Einrichtung, nicht aber übergreifend.

154 Das gilt für Spruchkörper, die aus Angehörigen mit unterschiedlicher Muttersprache zusammengesetzt sind, und/oder Entscheidungen fällen, die auf Rechtstexte gestützt wer-den, die in mehreren Sprachen gleichermaßen verbindlich sind, und/oder diese Entschei-dungen wiederum ebenfalls in mehreren, gleichermaßen verbindlichen Sprachen verkün-den.

Hier muss ein Hinweis auf weiterführende Literatur genügen: Tamara Ćapeta Multilin-gual Law and Judicial Interpretation in the EU, CYELP 5/2009, 1 ff.; Ralph Christensen/

Michael Sokolowski Juristisches entscheiden unter der Vorgabe von Mehrsprachigkeit, in:

Friedrich Müller/Pascale Berteloot (Hrsg.) Rechtssprache Europa. Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht, 2004, 113 ff.; Silvia Ferreri Multilingual interpretation of European Union law, CDCT working paper 40-2015; Olga Łachacz/Rafał Mańko Multilingualism at the Court of Justice of the European Union: The-oretical and Practical Aspects, Studies in Logic, Grammar and Rhetoric 34 (2013), 75 ff.;

Sieglinde E. Pommer Interpreting Multilingual EU Law: What Role for Legal Translation?

European Review of Private Law 20 (2012), 1241 ff.

Methodisch mindestens ebenso herausfordernd ist es, geläufige Begriffe, etwa „Verfas-sung“ oder „Kompetenzgrenze“, aus einem gewohnten Kontext, etwa einer bestimmten nationalen Rechtsordnung, in einen anderen Kontext, etwa das EU-Recht oder das Völker-recht, zu übersetzen. Die Gefahr von unbeabsichtigten „Übersetzungsfehlern“ ist groß und erschwert jeden Diskurs.

Vgl. nur Neil Walker Postnational Constitutionalism and the Problem of Translation, in:

Joseph H.H. Weiler/Marlene Wind (Hrsg.) European Constitutionalism Beyond the State, 2003, 27 ff. Zahlreiche Beispiele bietet insb. die Konstitutionalisierungsdebatte, vergleiche nur Klabbers/Peters/Ulfstein Constitutionalization (Fn. 117).

Åkerberg Fransson: es bedarf schon eines Muttersprachlers, um verlässlich sagen zu können, dass für die weite Auslegung des Terminus „Durchfüh-rung“ bzw. „implementing“ in Art. 51 GRC auch der Umstand spricht, dass

„tillämpa“ im schwedischen als „apply“ („anwenden“) zu übersetzen ist.

155

ab) Beispiel Åkerberg Fransson

156

Der Eindruck mag täuschen: während unter Europarechtlern

157

und in vielen Mitgliedstaaten, darunter im Ursprungsland des Falles, Schweden,

158

aber auch zum Beispiel in Frankreich,

159

trotz mancher Kritik relativ lei-denschaftslos über das Judikat und seine Einordnung berichtet wurde, war das in Deutschland definitiv anders. Vor allem das BVerfG

160

argwöhnte sogleich die Gefahr einer neuerlichen Grenzüberschreitung, nämlich ein ultra-vires-Judikat des EuGH.

Dies lässt sich wohl am besten mithilfe der erheblichen Unterschiede erklären, die zwischen den – trotz aller Gemeinsamkeiten – immer noch fortbestehenden mehreren Sprachgemeinschaften bestehen. Methodisches

155 Ulf Bernitz The Åkerberg Fransson Case. Ne bis in idem: Double Procedures for Tax Surcharge and Tax Offences not Possible, in: Joakim Nergelius/Eleonor Kristoffersson (Hrsg.) Human Rights in Contemporary European Law, 2015, 191 (197).

Dies ist also ein Beispiel dafür, dass der in mehreren Sprachen verbindliche Text (hier des Art. 51 GRC) in der Sprache jenes Landes, aus dem die Vorlagefrage kam, die Ent-scheidung des EuGH stützt, ohne dass dieser seinerseits in seiner EntEnt-scheidungsbegrün- Entscheidungsbegrün-dung darauf eingegangen wäre.

156 Oben im Text nach Fn. 12.

157 Pars pro toto, „sogar“ in Deutschland: Rudolf Streinz Streit um den Grundrechts-schutz? Zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach den Urteilen des EuGH in den Fällen Åkerberg Fransson und Melloni und des BVerfG zur Antiterrordatei, in: Daniela Heid/Rüdiger Stotz/Arsène Verny (Hrsg.) FS Manfred A. Dauses, 2014, 429 ff.

158 Z.B. Bernitz Åkerberg Fransson Case (Fn. 155), 191 ff.; Eleonor Kristoffersson The Future of the Swedish Tax Sanction System after Ne Bis in Idem, in: Joakim Nergelius/

Eleonor Kristoffersson (Hrsg.) Human Rights in Contemporary European Law, 2015, 211 ff.; Joakim Nergelius Human Rights in EU Law 2014: Two Key Cases of 2013, eben-dort, 1 ff. Dies trotz der – aufgrund der erstmaligen konkreten Anwendung des Vorrang-prinzips durch den Obersten Gerichtshof (Högsta Domstolen) – großen verfassungsrechtli-chen Bedeutung des Falles in Schweden: Bernitz Åkerberg, in: Nergelius/Kristoffersson (Hrsg.) Human Rights (Fn. 155), 208 f.; Nergelius, in: ebd., 1.

159 Pars pro toto: Antoine Bailleux Entre droits fondamentaux et intégration européenne, la Charte face à son destin – A propos des arrêts Stefano Melloni et Åkerberg Fransson de la Cour de justice. Revue trimestrielle des droits de l’homme, Bd. 2014, Nr. 97, 215 ff.;

159 Pars pro toto: Antoine Bailleux Entre droits fondamentaux et intégration européenne, la Charte face à son destin – A propos des arrêts Stefano Melloni et Åkerberg Fransson de la Cour de justice. Revue trimestrielle des droits de l’homme, Bd. 2014, Nr. 97, 215 ff.;