• Keine Ergebnisse gefunden

INTERPRETATIVE POLICY-ANALYSE

Im Dokument Edition Politik (Seite 110-113)

der Cultural- Governance-Analyse

5.1 INTERPRETATIVE POLICY-ANALYSE

Ansätze in der Governance-Analyse, die unter der Bezeichnung der interpretati-ven bzw. argumentatiinterpretati-ven Policy-Analyse zusammengefasst werden, werden im deutschsprachigen Raum noch vergleichsweise wenig rezipiert. Das interpretati-ve Paradigma der Sozial- und Politikwissenschaften gründet mit Max Weber da-rauf, „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären“ (Weber, 1922: Abschn. § 1) zu wollen.

Interpretative Ansätze verbindet die grundsätzliche Annahme, dass rein zweckra-tionale, im positivistischen Paradigma verortete Ansätze (vgl. Karl Poppers situ-ationslogisches Rationalitätsprinzip und die Erweiterung von Hartmut Esser (Es-ser, 1999)) nicht universell passend sind, um menschliches bzw. politisches Handeln zu erklären. Um Handeln in komplexen, kontingenten und dynamischen Situationen (als „situated agency“, (Bevir u.a., 2016: S. 14-15)) zu verstehen und Macht als konstitutiv für soziale Beziehungen und die politische Welt („making the political world“ (Bevir u.a., 2016: S. 16)) in ihrer einschränkenden Wirkung (als „restrictive power“ (Bevir u.a., 2016: S. 16)) sowie in ihrer produktiven Form sichtbar zu machen, bedarf es eines Begründungszusammenhangs (als

„wider web of beliefs the actor reaches against a historical background“ (Bevir u.a., 2016: S. 15)).

Die klassische Organisationstheorie spricht von „bounded rationality“ (Simon, 1959) beziehungsweise von „bounded rationalities“ (Stark, 2000: S. 4). Boltan-ski und Thévenot verweisen darüber hinaus auf eine mögliche simultane Präsenz unterschiedlicher Rationalitäten und Rechtfertigungsordnungen. Im Hinblick auf Cultural Governance als Organisation von Kulturpolitik und Kulturbetrieb geht es nicht nur darum, menschliche und finanzielle Ressourcen möglichst so

einzu-setzen, dass spezifische Ziele effizient erreicht werden (Zembylas, Tschmuck, 2006a: S. 9). Die Produktion, Verbreitung und Vermittlung kultureller Güter und Dienstleistungen bezieht sich auf symbolische und materielle Einheiten, deren Wert in impliziten (valuation) und expliziten (evaluation) Prozessen verhandelt wird (Zembylas, 2004: S. 305ff.). Dies setzt einen soziokulturellen Verhand-lungskontext, eine Kommunikationsstruktur voraus, die in der demokratietheore-tischen Perspektive als Öffentlichkeit (Habermas, 1981) gefasst wird. Hier steht nach Jürgen Habermas die Frage im Fokus, „wie soziale Integration auf der un-wahrscheinlichen Basis von Verständigungsprozessen [...] möglich ist“ (Haber-mas, 1992: S. 42).

Jürgen Habermas unterscheidet dabei zwischen administrativer Macht von rechtlich regulierten Institutionen und sozialer Macht von großen Organisatio-nen, Interessensgruppen, Experten und Autoritäten. Kommunikative Macht wird demgegenüber in öffentlichen, gemeinsamen Meinungsbildungs- beziehungs-weise Verständigungsprozessen erzeugt. Nach Habermas bildet sie ein Korrektiv einerseits gegenüber einer Verselbstständigung von administrativem Handeln (nach Regeln und Gesetzen) und andererseits gegenüber einer Transformation von sozialer Macht in von Eigeninteresse geleitete illegitime Macht, die sozial nicht akzeptiert wird (Habermas, 1992: S. 466). Eine Voraussetzung zur Bildung kommunikativer Macht ist die grundsätzliche Verständigungsorientierung als ein dem menschlichen Wesen innewohnendes Verstehen-Wollen. Verstehen-Wollen (Interpretation) ist demnach nicht nur einer Forschungsmethode, sondern auch eine sozialanthropologische Voraussetzung von gesellschaftlicher Interaktion.

Dies bedeutet nicht, dass Sprechakte immer auf bloße Verständigung zielen.

Strategische Formen der Kommunikation (wie lügen, täuschen, irreführen, mani-pulieren) (McCarthy, 1989: S. 326) können als Teile einer menschlich-allzu-menschlichen Wirklichkeit betrachtet werden, sie stören ein verständigungsori-entiertes Handeln und sind spezifische Herrschaftstechniken. Wenn sie enttarnt werden, haben sie jedoch auch eine wichtige Funktion, da sie für Kritik mobili-sierend wirken. In einem dynamischen Vorgang wird eine gemeinsame Situati-onsdefinition ausgehandelt. Der „Prozess der Verständigung unter dem dynami-schen Aspekt der Herbeiführung eines Einverständnisses“, so Jürgen Habermas (McCarthy, 1989: S. 329), der typischerweise in der „Grauzone zwischen Unver-ständnis und MißverUnver-ständnis verläuft“ (ibd.), kann über eine interpretative Ana-lyse partiell rekonstruiert werden.

Die Interpretative Policy-Analyse ist im Paradigma des Sozialkonstruktivismus zu verorten. Sie grenzt sich von Ansätzen wie dem Institutionalismus, der Ratio-nal-Choice-Theorie und dem Behaviourismus ab, die von einer objektiv

be-schreibbaren Wirklichkeit und kausalen, generalisierbaren Wirkungsbeziehun-gen – einer eindeutigen Welt – ausgehen (Bevir u.a., 2016: S. 6-11). Die Poli-tikwissenschaftler Mark Bevir und Rod Rhodes beschreiben demgegenüber eine kontingente, dynamische, erzeugte, veränderbare und konfligierende Mehrdeu-tigkeit und ein breites Wertespektrum (Polyvalenz) als Grundgedanke von inter-pretativen Ansätzen der politikwissenschaftlichen Befassung mit Governance:

„Interpretative political science echoes themes in the general literature on governance, but it also decentres governance, paying particular attention to the diverse meanings within it, and the contingent historical roots of these meanings. […] This approach encourages us to examine the ways in which patterns of politics are created, sustained, and modified as people act on various conflicting beliefs. It also encourages us to explain people’s actions not by reference to structures, norms, or modernization, but by appealing to the historical traditions they inherit and the dilemmas to which they respond.“ (Bevir u.a., 2016: S. 20) Entsprechend geht es analytisch darum, die Konflikte zwischen unterschiedli-chen und kontingenten Bedeutungen herauszuarbeiten (Bevir u.a., 2016: S. 21).

Hendrik Wagenaar beobachtet eine Tendenz des übermäßigen Theoretisierens („intemperate theorizing“, (Wagenaar, 2011: S. 9) in der interpretativen Policy-Analyse. Sie trägt den Anspruch in sich, das „erkenntnistheoretische Defizit“

(Martinsen, 2014: S. 6) zu überwinden, dessen Ursache in der Nähe der Politik-wissenschaft zur Politik und damit zur „Problemlösungsorientierung“ (ibd.) ver-ortet wird. Interpretativ arbeitende PolitikwissenschaftlerInnen plädieren für eine Balance zwischen Theorie und Praxisbezug, um insbesondere den alltäglichen Angelegenheiten derjenigen, die Politik machen (den „policy makers“), Auf-merksamkeit zu schenken. Interpretative Policy-Analyse ist demnach gefordert, sowohl den theoretischen Diskurs und seine Inhalte einzubeziehen als auch die konkrete Praxis von Politikgestaltung zu analysieren.

„In assessing policy analysis and planning as argumentative, we wish to exploit the syste-matic ambiguity of the term argument, for it refers both to an analytic content (‚the logic of the argument‘) and to a practical performance (‚the argument fell on deaf ears‘). We ar-gue that all policy analysis and planning is systematically ambiguous in this way, requi-ring attention to content and performance, to technical analysis and political articulation.“

(Fischer, Forester, 1993: S. 4)

Grounded Theory als permanenter Dialog zwischen Theorie und den generierten empirischen Daten ist somit eine wesentliche Heuristik der interpretativen Po-licy-Analyse (Wagenaar, 2011: S. 10). Methodologische Ansätze der Grounded

Theory und die Verfahren der Abduktion (Peirce 1866), Retroduktion, Triangu-lation unterschiedlicher Datenquellen und kontrafaktische Gedankenexperimente können im Rahmen von Interpretationen zu neuen Erkenntnissen führen (Ansell, 2016: S. 96).

Problematisiert wird der Fokus von interpretativen Politikfeldanalysen auf das Individuum bzw. die individuelle Akteursebene. Darüber hinaus wird die Einbindung individueller AkteurInnen in Handlungssituationen und Soziale Wel-ten als „situated rationalities“ bzw. „commitments to action“ in den Blick ge-nommen. Anhand der Einbindung von individuellen AkteurInnen in kollektive Soziale Welten (Clarke, 2012) und ihrem Rückgriff auf verschiedene argumenta-tive Rechtfertigungsprinzipien („Welten“ nach (Boltanski, Thévenot, 2014)) in Situationen und Arenen sollen Prozesse der Entscheidungsfindung, Vergemein-schaftlichung, Institutionalisierung und Kritik nachvollzogen werden. Diese Stu-die ist damit im Bereich der pragmatisch orientierten interpretativen Policy-Analysen verortet (Ansell, 2016), die Handlung als Form von dialogischer Kommunikation (symbolischer Interaktion/Handlung und Interpretation) be-trachtet.

Im Dokument Edition Politik (Seite 110-113)