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Integrative Sprechförderung

Im Dokument Aus dem Inhalt: (Seite 58-61)

Die Diplomsprechwissenschaftlerin und Leiterin des Bereiches Sprechwis-senschaft/Sprecherziehung der Univer-sität Leipzig, Dr. Siegrun Lemke, stellte in sprechen-Heft 58 (2014, S. 59–62) die „Initiative Sprecherziehung im Lehramt“ vor. Als Ziel der Arbeit dieser Projektgruppe formuliert sie dort „die dringliche Notwendigkeit schneller, konsequenter und nachhaltiger Inten-sivierung der stimmlich-sprecherischen Ausbildung Lehramtsstudierender ge-genüber politischen und hochschulpoli-tischen Entscheidungsträgern zu be-gründen“ (ebd. S. 60). Als Forderun-gen gehen aus den Diskussionsrunden an den Projekttagen unter anderen fol-gende Schwerpunkte hervor: „Zertifi-zierung der stimmlich-sprecherischen Ausbildung in Lehramtsstudiengän-gen... [und] … stimmlich-sprecherische Lehrinhalte in Schulgesetzen und Bil-dungsplänen der Bundesländer“ (Lem-ke 2014, S. 61).

Die stimmlich-sprecherischen Qualitä-ten von LehrkräfQualitä-ten (LuL) stellen sich als das eine Problemfeld dar – die ent-sprechenden Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern (SuS) als ein weiteres. Somit erhebt sich die Frage, wie LuL – nach Evaluationser-gebnissen von Lemke u. a. – die sich ihrer sprecherischen Kompetenzen und Kompetenzanforderungen im Be-ruf zu wenig bewusst sind, den ihnen anvertrauten SuS im täglichen Unter-richtsgeschehen und speziell im

Sprachunterricht des Faches Deutsch ein gutes Lehrkraft-Sprachvorbild sein können. Ist doch „Nachahmung … das einfachste, unterschwellig wirksame Lernverhalten“, so Naumann (1995, S.

458), „auch im Rückgriff auf den Be-gründer der Sprechkunde und Sprech-wissenschaft, Ernst Drach“; wie es im Standardwerk für Lehramt Grund- und Förderschule „Sprachunterricht heute“

von Horst Bartnitzky zu lesen ist (Bart-nitzky 2014, S. 65).

Deshalb soll im Folgenden die gegen-wärtig festgeschriebene „integrierte Sprechförderung“ in den Bildungsstan-dards des Faches Deutsch dargestellt werden samt Blick auf die Pendelaus-schläge der Didaktikgeschichte im Fach Deutsch der Bundesrepublik Deutschland seit der Nachkriegszeit.

Damit kann hoffentlich besser verstan-den werverstan-den, wie und weshalb sich Sprecherziehung so und nicht anders bis heute im Schulwesen darstellt.

Historischer Abriss

* Von einer Didaktik der

„muttersprachlichen Bildung“:

In der Didaktik der muttersprachlichen Bildung bis zur ersten Hälfte der 1960er Jahre war die Sprechübung oder -schulung integriert in die Sprecherziehung mit dem sprachpfle-gerischen Ziel korrekter Atem-, Stimm-

und Lautbildung seitens der SuS im Rahmen eines ganzheitlichen Ansat-zes (Winkler 1963). Als wichtige didak-tische Mittel galten das sprachliche Vorbild der LuL im mündlichen Unter-richt, sinnvoll-kindgerechte Sprechsitu-ationen wie Gedichtvortrag und dar-stellendes Spiel der SuS. Texte außer-halb solch formal wie inhaltlich vorbild-haften Schriftgutes der Hochsprache blieben außen vor (z. B. Comics, dif-famiert als Schundliteratur).

* Von einer Didaktik der

„sprachlichen Kommunikation“:

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde das Postulat von dieser einzig gültigen Mutter(hoch)sprache in unse-rer Sprachgemeinschaft durch die Un-tersuchungen aus der Sprachsoziolo-gie in Frage gestellt (Oevermann 1969, Whorf 1963). Jene linksintellektuellen Strömungen und Konzepte einer kri-tisch-kommunikativen Didaktik (Winkel 1986) fokussierten die Qualifikation ei-ner sprachlichen Kommunikation zwecks gelingender Alltagsbewälti-gung. Und damit verschwand das di-daktische Prinzip der Sprechübung zu-gunsten der verständlichen und beton-ten Kommunikation in allen Lebensla-gen.

* Von einer Didaktik des „eigenakti-ven, individuellen Lernens“:

Vom Ende der 1970er Jahre an richte-te sich – mit der sozialwissenschaftli-chen Wende hin zu der Sichtweise des Menschen als Produkt und Gestalter seiner selbst wie auch seiner Umwelt (Bronfenbrenner 1976) – der Blick auf SuS als Subjekte mit persönlichen In-teressen und eigenaktiven Lernpro-zessen in individuellen und sozialen Lernsituationen (freies Schreiben, Ge-sprächskreis u. a.; Lichtenstein-Rother

& Röbe 1982); wenngleich bis in die

1990er Jahre das Modell des gleich-schrittigen Lernens trotz aller Erkennt-nis der individuellen Weltsicht mit di-versen Mitteln zur Homogenisierung von Schulklassen vorherrschte (so die Kritik Prengels; Prengel 1999). Und wieder blieb das didaktische Prinzip der Sprecherziehung nachrangig.

* Von der derzeitigen „Didaktik der Kompetenzbereiche“; hier:

Sprechen und Zuhören:

Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich weisen heute vier Kompetenzbereiche aus (Beschluss der Kultusministerkonfe-renz vom 15.10.2004; Hrsg.: KMK 2005). Es sollen nun nicht mehr „be-stimmte Inhalte, Stoffe oder Themen vermittelt, sondern Kompetenzen er-worben werden. … Es geht also um die Frage, welche Fähigkeiten und Fer-tigkeiten nötig sind, um die schulischen und außerschulischen Anforderungen gegenwärtig und zukünftig zu bewälti-gen“ (Wildemann & Vach 2013, S. 16).

Basale alltagssprachliche Fähigkeiten einer „konzeptionellen Mündlichkeit“ (=

basic interpersonal communication skills / BICS) reichen nicht mehr aus.

In der Primarstufe wird eine „Bildungs-sprache oder Schul„Bildungs-sprache“ entwickelt (= cognitive academic language profi-ciency / CALP; Wildemann & Vach 2013, S. 34, 40–41). Im Kompetenzbe-reich „Sprechen und Zuhören“ nennen die Bildungsstandards: zu anderen sprechen, verstehend zuhören, Ge-spräche führen, szenisch spielen, über Lernen sprechen. Und damit erschei-nen auch wieder Sprechübungen als Mittel einer integrierten Sprechförde-rung; bspw. beim Sprechen zu ande-ren im szenischen Spiel und gestalte-ten Vortrag. Mündliche Darstellungs-formen dialogischer wie monologischer Art wie Theaterspiel, mit verteilten Rol-len darzubietende Lese-Scripts, vor-tragendes Lesen von Prosatexten und

Gedichtvorträge seitens der SuS sowie Vorlesegespräche als kommunikative Herausforderung für LuL zusammen mit SuS erhalten besonderes Gewicht.

Solche Inszenierungen erfordern ein ausdrucksstarkes Sprechen der Lehr-kraft und der Kinder. Hierzu heißt es dann auch in der Kommentierung bei Bartnitzky, dass eine „handlungsbezo-gene Interpretationsweise von literari-schen Texten … die Artikulationsfähig-keit ebenso wie das Selbstbewusstsein [der SuS schulen] und sich an der Wir-kung auf die Zuhörerinnen und Zuhörer kontrollieren“ [könne] (Bartnitzky 2014, S. 63). Auch die LuL werden ebendort als Sprachvorbilder betont (siehe Zitat oben: Bartnitzky 2014, S. 65); über de-ren stimmlich-sprecherische Ausbil-dung jedoch kein Wort – ihre diesbe-züglichen Qualifikationen stillschwei-gend vorausgesetzt.

Eine persönliche Einschätzung Es ist ein zeitlich langer Prozess, bis aus einzelnen Inseln des Um- und Neu-Denkens im universitären Bereich, an schulischen Einrichtungen und in entsprechenden Pilotprojekten auf-grund wissenschaftlich evaluierter Er-kenntnisse rechtsverbindlich abgesi-cherte Vorgaben – auch für die Lehr-kräfteausbildung – hervorgehen und diese flächendeckend im pädagogi-schen Arbeiten erfolgreich umgesetzt werden können.

So dringlich eine Sprecherziehung im Lehramt auch geboten erscheint, so schwierig mag sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt in einem ohnehin nur sechs-semestrigen Lehramtsstudium für Grundschulen durchsetzbar. Zumal neue, dringliche Themenfelder wie He-terogenität, Intersektionalität und Diversity (Walgenbach 2014) und folg-lich ein Paradigmenwechsel hin zu ei-nem inklusiven Unterricht gemäß der Rechtsgültigkeit der Behinderten-rechtskonvention in Deutschland seit

2009 (BRK 3.5.2008) im Bewusstsein aller Akteure im Bereich Erziehungs-wissenschaften derzeit an vorderster Stelle zu stehen scheinen.

Literatur

Bartnitzky, H. (2014). Sprachunterricht heute. Berlin: Cornelsen. (17. Auflage) Bronfenbrenner, U. (1976; Hrsg. Lüscher, K. 1999). Ökologische Sozialisationsfor-schung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Kultusministerkonferenz (Hrsg.). (2005).

Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. Beschluss vom 15.10.2004. München: Wolters Kluwer.

Lemke, S. (2014). Die Initiative Sprecher-ziehung im Lehramt. In: sprechen 58, 59–

62.

Lichtenstein-Rother, I. & Röbe, E. (1982).

Grundschule. Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung. Weinheim:

Beltz.

Naumann, C. L. (1995). Sprecherziehung [Stichwort]. In: Nündel (Hrsg.): Lexikon zum Deutschunterricht, S. 458. München:

Urban und Schwarzenberg [zitiert nach Bartnitzky 2014, S. 65]

Oevermann, U. (1969). Schichtenspezifi-sche Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluss auf kognitive Prozesse. In: H.

Roth: Begabung und Lernen, S. 297–356.

Stuttgart: Klett.

Prengel, A. (1999). Impulse aus der jünge-ren Kritischen Theorie für eine Pädagogik der Vielfalt. In: H. Sünker & H.-H. Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?!, S. 231–254. Frank-furt/M.: Suhrkamp.

Walgenbach, K. (2014). Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erzie-hungswissenschaft. Opladen: Budrich.

Whorf, B. (1963). Sprache, Denken, Wirk-lichkeit. Reinbek: Rowohlt.

Wildemann, A. & Vach, K. (2013). Deutsch unterrichten in der Grundschule. Kompe-tenzen fördern, Lernumgebungen gestal-ten. Seelze: Kalmeyer in Verbindung mit Klett.

Winkel, R. (1986). Die

kritisch-kommunikative Didaktik. In: H. Gudjons, R. Teske, R. Winkel (Hrsg.): Didaktische Theorien, S. 79–94. Hamburg: Bergmann + Helbig. (3. Auflage)

Winkler, Chr. (1963). Grundlegung der Sprechkunde und Sprecherziehung. In: A.

Beinlich: Handbuch des Deutschunterrich-tes Bd. 1, S. 71–87. Emsdetten: Lechte.

Internetquelle:

UN-Behindertenrechtskonvention vom 3.5.2008: Rechte von Menschen mit Be-hinderung:

http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloa ds/DE/PDF-Publikationen /a729-un-konvention.pdf?_blob=publicationFile (Zu-griff: 1.5.2013)

Zur Autorin

Dr. phil. Birgit Jackel

war 32 Jahre als Grund- und Haupt-schullehrerin tätig und nach ihrer Pro-motion von 1997 bis 2001 zeitgleich Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt/M. im Bereich Grund- und Sonderschule. Seit 1989 arbeitet sie im In- und Ausland in der Aus- und Fortbildung von pädagogi-schen Kräften im präventiven wie re-habilitativen Bereich. Sie hat zahlrei-che Fachartikel und Büzahlrei-cher verfasst und hält Fachvorträge; siehe:

Internet: http://www.birgit-jackel.de Mail: birgit.jackel@birgit-jackel.de

Eine Ankündigung mit Bezug zum folgenden Beitrag von Markus Kunze

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