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2.2 „Integrative Psychotherapie“ von Hilarion Petzold

„psychotherapeutisch - seelsorgerische Funktion“

V. 2.2 „Integrative Psychotherapie“ von Hilarion Petzold

Hilarion Petzold zählt zu den ersten Psychotherapeuten, welche sich bereits seit den 1960er und 1970er Jahren aktiv um einen integrativen Ansatz in der Psychotherapie bemühten und zu den sehr wenigen, die ein umfassendes und sehr komplexes Therapiesystem in Theorie und Praxis erschaffen haben. Die Komplexität, eine sehr anspruchsvolle philosophische Prägung seines Entwurfes, aber vor allem wohl seine religiöse Weltanschauung und eine gewisse ideologische Färbung mögen die Gründe sein, warum die gut ausgearbeitete „integrative Psychotherapie“ im Mainstream der wissenschaftlichen Diskussionen keine Berücksichtigung findet. So werden z. B. in der Zeitschrift

„Psychotherapie im Dialog“ im Heft „Integration in der Psychotherapie“45 Petzold und sein Konzept mit keinem Wort erwähnt.

Petzolds „integrative Psychotherapie“ oder „integrative Therapie“ wurde nicht durch die Korrektur,

„Weiterentwicklung oder Kombination“ der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen entwickelt, sondern ist von Anfang an als ein selbständiges und interdisziplinäres Integrations-paradigma entstanden (Leitner 2010: 93).

45 Borcsa et al. 2010

Der Denkstil von Petzold im Umgang mit Theorien und Praktiken der existierenden Psychotherapieverfahren kann durch die in seinen Arbeiten wiederkehrenden zentralen Begriffe charakterisiert werden. Dazu gehören in erster Linie die „Exzentrizität“, „der abgehobene Blick (im Gegensatz zur Zentrierung, dem 'In-sich-hineinspüren')“46 und die dadurch gewonnene

„Mehrperspektivität“. Als Folge werden dann die „Synopse“ (Zusammenschau) und die „Konnekti-vierung“ als kreative Vernetzung unterschiedlicher Wissensinhalte möglich. Neben anderen speziellen Begriffen ist von besonderer Bedeutung auch die „Transversalität“, welche „den Typus eines offenen, nichtlinearen, pluriformen, prozessualen Denkens“ bezeichnet und „ein Denken von Vielfalt in permanenten Übergängen“ mit „Reflektieren und Metareflektieren“ im Rahmen der interdisziplinären Erkenntnissuche meint (Sieper et al. 2007: 47).

Im Rahmen seiner Integrationsbemühungen gliederte Petzold die Struktur der Psychotherapie insgesamt in einem sogenannten „Tree of Science“-Modell in vier verschiedene Ebenen, um eine Orientierungshilfe für die Integrationsarbeit zu schaffen, welche auf jeder dieser Ebenen erfolgen kann. Diese Ebenen sind: „Metatheorie“ (inkl. Erkenntnis-, Wissenschafts-, Forschungs- und Gesellschaftstheorie, Anthropologie, Ethik usw.); „Realexplikative, klinische Theorien“ (inkl. u. a.

Theorie der Psychotherapie, Psychotherapieforschung, Persönlichkeits-, Krankheits- und Gesundheitstheorie sowie spezielle Theorien der Psychotherapie); „Praxeologie“ (inkl. u. a.

Interventionslehre, Theorien zu verschiedenen Lebenslagen, Klientensystemen und Institutionen) und „Praxis“ (Arbeit in Dyaden, Gruppen und Netzwerken, Organisationen und Institutionen) (Sieper et al. 2007: 73–75).

Als Grundlage seines integrativen Ansatzes bezeichnet Petzold selbst „das Prinzip 'von den Phänomenen zu den Strukturen zu den Entwürfen'“ und den „Dreischritt 'Differenzierung, Integration, Kreation',47 wenn sie 'ko-respondent'48 vollzogen werden.“ Dies sei die Voraussetzung, um „in der Psychotherapie […] Diskurse über Konvergentes, Differentes und Divergentes zu

46 Der Begriff der Exzentrizität wurde in die Anthropologie von Helmuth Plessner (1892–1985) in seinem Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) eingeführt; damit bezeichnete Plessner die Fähigkeit des Menschen, im Unterschied zu Tieren, sich selbst beim Erleben und Verhalten beobachten und bewerten und somit eine Distanz zu sich selbst aufbauen zu können.

47 „Da Menschen ständig in Prozessen der Differenzierung, Integration und Kreation stehen, ist es unabdingbar, daß therapeutische Verfahren für den Umgang mit ihren Patienten eine ähnliche Orientierung aufweisen sollten“ (Petzold 1996: 18).

48 „Ko-respondenz“ oder „intersubjektive Ko-respondenz“, „das wechselseitige Aufeinanderantworten“, stellt Petzold als Begriff in einen Gegensatz zum Buber’schen „Dialog“; ein „Dialog“ würde laut Petzold der Etymologie des Wortes nach eine „begrenzte Rede“ bedeuten (Petzold 1996: 13), außerdem bevorzugt er, von einem „Polylog“ zu sprechen. Grundsätzlich aber, wie dieser und der nachfolgende Satz aussagen, baut Petzold sein Integrationsmodell offensichtlich auf der Basis eines Buber durchaus nahestehenden Denkens auf.

führen, Gemeinsames und Unterschiedliches herauszuarbeiten, […] wertschätzenden Konsens über Dissens zu finden – und das bietet nach dem Ko-respondenzmodell die Grundlage für Kokreation“

(Petzold 1996: 27).

In dieser Arbeit wurde Petzold mit seinem facettenreichen „Modell“ einer integrativen Therapie bereits an mehreren Stellen in Kapitel V.1 zitiert. Seine Ideen fanden Eingang in nahezu alle oben beschriebenen allgemeinen Merkmale eines integrativen Ansatzes in der Psychotherapie. Im Folgenden gilt es nun, in wesentlichen Zügen das Verhältnis zwischen der „integrativen Psychotherapie“ Petzolds und der chassidisch geprägten Philosophie Bubers zu klären.

Petzold erwähnt Buber in einer Referenzreihe der „modernen Beziehungsphilosophen.“ Obwohl er sich zu Buber stellenweise kritisch äußert (Petzold 1996: 13–14)49 und die Buber’sche Philosophie nicht direkt rezipiert, sondern u. a. wohl die Rezeption Bubers durch die humanistischen Psycho-therapeuten, v.a. durch die Gestalttherapeuten wahrnimmt, sind in bestimmten Gedanken Petzolds einige interessante Parallelen zu den Leitideen Bubers oder sogar zum Titel und Inhalt des Buches

„Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ zu entdecken. So spricht Petzold z. B. vom

„Wegcharakter des menschlichen Lebens“ (Sieper et al. 2007: 681) bzw. davon, dass der Mensch durch die „Selbstüberschreitung“ auf seinem Weg bleiben wird (Leitner 2010: 87). Dabei sind die chassidischen Töne Buber’scher Interpretation – insbesondere aus dem 5. Kapitel „sich mit sich nicht befassen“ – nicht zu überhören. Auch der integrative Ansatz selbst ist nach Petzold „[…] ein Weg, eine 'Philosophie und Praxis des Weges'“ (Sieper et al. 2007: 21).

Im „therapeutischen“ Tun der ersten (und nicht nur der ersten) Chassiden finden mindestens vier der fünf „Modalitäten“ der „integrativen Psychotherapie“ nach Petzold (Leitner 2010: 217) ihre Entsprechung bzw. Anwendung. Das ist vor allem die „konservativ-stützende, palliative“ Modalität mit Ausrichtung auf die Begleitung und Entlastung in Krisensituationen, gefolgt von der

„übungszentriert-funktionalen“ sowie der „erlebniszentriert-stimulierenden“ Modalität mit ihren kreativen und ressourcenorientierten Methoden. Besondere Bedeutung wurde jedoch sowohl im historischen Chassidimus als auch in der „chassidischen Philosophie“ Bubers dem beigemessen, was Petzold als Spezifikum seiner integrativen Psychotherapie bezeichnet, nämlich die

49 Petzold spricht von der „Fehlinterpretation des Dialogkonzeptes wie man sie bei Buber und in seiner Folge findet“

(gemeint ist dabei die Kritik am Buber’schen Begriff „Dialog“, s. o.: FN 48) und von der „mangelnden Philosophie-Prägnanz von Buber“, dabei unterstützt er die „kritische[n] Töne zu Buber, wie die von Leibowitz [...]“, die in der Buber-Rezeption nicht zur Kenntnis genommen worden seien: In seinem Buch „Gespräche über Gott und die Welt“

(1994) bezeichnet der israelische Chemiker und Philosoph Jeschajahu Leibowitz Buber als „a ladies’ philosopher“.

„netzwerkaktivierende Modalität“ (Leitner 2010: 217). Gemeint ist damit die Aktivierung der Ressourcen der menschlichen Gemeinschaft, des sozialen Netzwerkes. Zweifellos berücksichtigt Bubers „Weg des Menschen“ zudem auch die erhellenden „konfliktzentriert-aufdeckenden“ (ebd.) Eigenschaften und liefert eine erfreulich supportive, begleitende und tröstende Lebensgrundlage.

Zusammenfassend lässt sich postulieren, dass sowohl die zwei vorgestellten Entwürfe einer integrativen Psychotherapie (Grawe und Petzold) im Einzelnen als auch die aus den beiden Konzepten ausgearbeiteten gemeinsamen Merkmale eines integrativen psychotherapeutischen Ansatzes eindeutige inhaltliche Parallelen zu der historisch verankerten Lebenspraxis der Chassiden und der chassidischen Philosophie in der Interpretation Bubers aufweisen.