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„psychotherapeutisch - seelsorgerische Funktion“

IV. „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ als Quintessenz der Buber’schen Ideenwelt und als Quelle

IV.2 Der besondere Weg

Das 2. Kapitel des Buches „Der besondere Weg“ beginnt wiederum mit einer Frage bzw. einer Bitte.

Diesmal ist es Rabbi Bär von Radoschitz, der seinen Lehrer, den „Seher“ von Lublin bittet, ihm

„einen allgemeinen Weg zum Dienste Gottes“ zu weisen, woraufhin der Zaddik antwortet, dass es nicht möglich sei, einem einzelnen Menschen einen allgemeingültigen Weg im religiösen Sinne vorzuweisen. Denn: „Jedermann soll wohl achten, zu welchem Weg ihn sein Herz zieht, und dann soll er sich diesen mit ganzer Kraft erwählen“ (Buber 2001a: 15).

Übertragen auf den Lebensweg allgemein, ist dieser Gedanke sehr natürlich und verständlich, da jeder Mensch zur Erhaltung seiner seelischen Gesundheit sein „eigenes“ und nicht ein „fremdes“

Leben leben, einen „ich-syntonen Weg“ gehen sollte, der eben in einem komplexen lebensläng -lichen Differenzierungsprozess, welchen Carl Gustav Jung „Individuation“ nannte, häufig schwierig, mehr intuitiv als rational-analytisch gefunden werden kann. Dabei ist auch tatsächlich

„die ganze Kraft“ erforderlich, um sich bei der Suche (und beim gleichzeitigen „Gehen“) nicht irritieren oder ablenken zu lassen von alledem, was einen von seinem „besonderen Weg“ abbringen und seelisches Leiden verursachen könnte. „Es sind große Momente des Daseins“, schreibt Buber in

„Schuld und Schuldgefühle“, „wann ein Mensch sein Wesen entdeckt und auf jeweils höherer Stufe wieder entdeckt; wann er sich entschließt und neu entschließt, zu werden, was er ist“ (Mendes-Flohr und Schäfer 2008: 135). Hiermit könnte eine gedankliche Brücke sowohl zu dem vorherigen Kapitel, „Selbstbesinnung“, als auch zu dem nachfolgenden, „Entschlossenheit“, geschlagen werden. Das von uns Getane hat nach Buber „[…] seinen Wert darin, dass wir es aus eigner Art und eigner Kraft zustande bringen“ (Buber 2001a: 16), das heißt: entsprechend unseren individuellen Fähigkeiten und Begabungen, also entsprechend den inneren Ressourcen. Aber ebenso selbstver-ständlich sind dabei auch unsere individuellen Schwächen und Begrenzungen zu berücksichtigen.

Dass der Patient lernt, das eigene Leben in diesem umfassenden Sinne zu gestalten, ist ein relevanter Punkt in wohl allen psychotherapeutischen Ansätzen.

Die Einzigartigkeit, die Besonderheit des Weges jedes Menschen resultiert also, auch wenn von jeglichem religiösen Kontext abgesehen wird, aus der Einzigartigkeit seines Wesens: „Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat […]“, und, so lesen wir weiter, „Jeder Einzelne […] soll seine Eigenschaft in dieser Welt vollkommen machen“ (Buber 2001a: 16–17). So stellen aus jüdisch-chassidischer Sicht die Selbstentfaltung, die Individuation (Jung) und die „Selbstverwirklichung“ (Goldstein, Maslow) sogar eine Verpflichtung dar. Die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung ist nach Rogers auch eine motivierende Kraft in der Therapie.

Ohne diese Fähigkeit, wie Buber in der Schrift „Das Problem des Menschen“ schreibt, „[…]

verschleudert (der Mensch) das kostbarste, unersetzlichste, das jeweils einmalig dargebotene Material; er lebt an seinem Leben vorbei“ (Buber 2000: 107).

Ich kann mich persönlich an eine Patientin erinnern, die dies prägnant auf den Punkt brachte, indem sie sagte: „Ich lebe nicht mein Leben.“ In diesem Fall war der jungen Frau ihre Problematik an diesem wichtigen Punkt schon bewusst. Häufig ist es aber so, wie wir es aus der tiefenpsycho-logischen Neurosenlehre und aus der Praxis kennen, dass durch die dauerhafte Anpassung an die Erwartungen und Forderungen anderer, insbesondere der Bezugspersonen, einem Menschen unbewusst wird, was in einigen Fällen zur Selbstverleugnung und der Entstehung eines sogenannten

„falschen Selbst“30 führt. Selbstverständlich kann jeder bei sich solche falschen Selbstanteile, mehr oder weniger ausgeprägt, entdecken, im Bereich der manifesten Neurosen und Persönlichkeits-störungen spielen sie jedoch sehr oft eine zentrale Rolle, „so dass man als das gemeinsame Ziel aller Psychotherapien die Wiederentdeckung des eigentlichen, 'wahren' Selbst bezeichnen kann“

(Rudolf 2000: 79). Das ist die wichtigste Voraussetzung, um den eigenen „besonderen Weg“ im Leben gehen zu können.

Weiterhin geht es im Buber’schen Text an mehreren Stellen darum, dass sogar „die Wege und Werke“ der großen Autoritäten – bei Buber der biblischen und chassidischen Leitungspersönlich-keiten – auf keinen Fall nachgeahmt werden sollten, „[…] denn dabei entgeht ihm [dem konkreten Menschen – V.S.] eben, wozu er und nur er allein berufen ist“. Mit den Worten von Rabbi Sussja werde er in der kommenden Welt nicht gefragt: „Warum bist du nicht Mose gewesen?“, sondern:

„Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ „Gerade in der Verschiedenheit der Menschen, in der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und Neigungen liegt die große Chance des Menschen-geschlechts“ (Buber 2001a: 18).

Offensichtlich gedanklich an das 1. Kapitel seines Buches und den dort thematisierten ersten Schritt in der Entwicklung des Menschen, „die Selbstbesinnung“, anknüpfend, schreibt Buber weiter: „Was […] eben dieser Mensch und kein anderer tun kann und tun soll, kann ihm nur aus ihm selber offenbar werden“ (Buber 2001a: 19). Das entspringt also nicht allein aus der Erkenntnis der eigenen

„Standorte“ im Leben, sondern auch ausder Selbsterkenntnis im Sinne von „Verstehen der eigenen persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften“. Es handelt sich um eine Selbsterfahrung oder eben eine „Selbstbesinnung“. Und: „Jedermann soll sich seiner Stufe entsprechend verhalten“ (ebd.) und nicht entsprechend der Stufe seines „Gefährten“.

30 Der Terminus technicus wurde von Donald Winnicott (1896–1971) eingeführt.

Möglicherweise könnten wir diese Passage auch etwas erweiternd deuten und sagen, dass es sich bei der erwähnten eigenen „Stufe“ auch um die Lebensstufe in der zeitlichen Dimension mit ihren spezifischen Aufgaben handeln könnte. Allerdings wäre es zu einfach und reduktionistisch, dabei nur an die mit einem bestimmten Alter verbundenen Aufgaben zu denken. Hingegen sollten wir den Begriff „Stufe im Leben des Menschen“ viel breiter definieren, nämlich als eine individuelle Phase der innerseelischen Entwicklung in Verbindung mit der spezifischen äußeren Lebenssituation. Wir wissen, dass es auch im therapeutischen Prozess verschiedene Phasen oder eben „Stufen“ gibt, die einem aktuellen Entwicklungsstand unserer Patienten entsprechen und ihm die Lösung einer bestimmten Aufgabe ermöglichen (oder auch noch nicht).

Auch ein Grundgedanke der humanistischen Psychologie findet sich bei Buber: „In jedermann ist etwas Kostbares, das in keinem andern ist“ (Buber 2001a: 19.).

Selbstverständlich müssen Psychotherapeuten entdecken können, was an ihrem Patienten „kostbar“

und „besonders“ ist. Aber auch jeder Mensch selbst muss in sich das Wesentliche, das Besondere erkennen, und wenn er das tun möchte, „[…] kann er (das) nur entdecken, wenn er sein stärkstes Gefühl, seinen zentralen Wunsch, das in ihm, was sein Innerstes bewegt, wahrhaft erfasst“ (Buber 2001a: 19).

Es geht hier also um die Notwendigkeit der Achtsamkeit auf die eigenen, vielleicht verborgenen Wünsche und Bedürfnisse. Dazu ist ihre Wahrnehmung im jeweils aktuellen Augenblick erforderlich, was z. B. eine der zentralen Säulen der therapeutischen Arbeit in der Gestalttherapie nach Perls oder im Psychodrama nach Moreno darstellt. Buber warnt jedoch auch vor den „bösen Wünschen“ oder „bösen Trieben“: „Freilich kennt der Mensch oft dieses sein stärkstes Gefühl nur in der Gestalt der besonderen Leidenschaft, in der Gestalt des 'Bösen Triebs', der ihn verführen will“

(Buber 2001a: 20). Anschließend folgt ein nicht nur im religiösen, sondern auch im sehr therapeutischen Sinne relevanter Hinweis auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, die negativen seelischen Regungen zu beherrschen bzw. klug zu lenken: „Worauf es ankommt, ist, daß er die Kraft eben dieses Gefühls, eben dieses Antriebs von dem Zufälligen auf das Notwendige und von dem Relativen auf das Absolute richte. So findet er seinen Weg“ (ebd.).

Den eigenen Weg zu finden und sich von ihm nicht abbringen zu lassen, bedeutet, nicht von irgendjemandem oder irgendetwas, sei es die inneren Regungen oder die externen Faktoren,

„getrieben“ zu werden, sondern das eigene Leben entsprechend den eigenen besonderen

Eigenschaften selbst(wirksam) zu gestalten. Dieses ist – in der Darstellung von Buber – einer der chassidischen Grundgedanken mit Relevanz sowohl für die religiösen als auch für die nichtreligiösen Menschen. Denn je mehr man die eigene persönliche Lebensaufgabe, den eigenen Weg kennt und sich an diesen hält, desto unabhängiger wird man vom Urteil der Mitmenschen, von der Fremdbestimmung und sogar von eigenen Erfolgen und Misserfolgen. In der modernen Verhaltenstherapie findet dieser universale Gedanke etwas vereinfacht seinen Niederschlag in Begriffen wie „Selbstwirksamkeit“ oder „Selbstmanagement“. So beinhaltet das Kapitel „Der besondere Weg“ wiederum die zentralen Themen oder Ziele einer Psychotherapie.

Zum Schluss folgt in diesem Kapitel ein sehr schönes und tiefsinniges Plädoyer, „die Dinge“ in der Welt, in unserem Leben zu genießen, keine Selbstbestrafung oder unnötige Enthaltung von der Freude in der Welt zu praktizieren, sondern im jüdisch-chassidischen Sinne die Heiligkeit Gottes im Spiegel jedes Dings oder Wesens in der Welt zu erkennen. Denn: „Alle natürliche Handlung führt, wenn sie geheiligt wird, zu Gott“ (Buber 2001a: 22).

Auf psychotherapeutischem Gebiet würden diese Ideen den Vorstellungen und den Vorgehens-weisen der sogenannten „euthymen Therapie“ (Genusstherapie) entsprechen, welche vor allem in der Behandlung von Depressionen, psychosomatischen Krankheitsbildern, Borderline-Persönlich-keitsstörungen, aber auch bei Suchterkrankungen und Demenzen angewendet wird.

IV.3 Entschlossenheit

Im 3. Kapitel des Buches wird die Geschichte eines Chassiden erzählt: Nachdem er sich entschlossen hat zu fasten, kämpft er mit dem Durst und ist in seiner Versuchung, doch zu trinken, bereits zu einem Brunnen gekommen. Dort verzichtet er dann allerdings darauf zu trinken, da er nicht „das ganze Werk dieser Woche vernichten“ will. Da aber spürt er in sich den Stolz über diese Selbstzucht und stürzt zum Brunnen, obwohl sein Durst „gewichen“ ist, mit dem Gedanken, lieber zu trinken als „um des Gelingens willen in Hochmut zu verfallen“. Die Reaktion des Meisters auf diesen ehrlichen Kampf des Chassiden um sein Ziel ist ein tadelndes Wort: „Flickarbeit!“ Das scheint uns zu hart, und auch Buber empfand es in seiner Jugend als zu hart, wie er gesteht. Aber:

„Gerügt wird“, schreibt Buber weiter, „dass man vordringt und wieder zurückweicht; das Hin und Her, der Zickzack-Charakter des Tuns ist das Bedenkliche“ (Buber 2001a: 27).

Dieses „Hin und Her“ aufgrund von offensichtlich doch mangelnder Entschlossenheit, die geplante Sache ohne innerliches Zaudern und Schwanken bis zum Ende zu bringen, ist uns auch als ein störender Faktor von Seiten der Patienten in der psychotherapeutischen Arbeit gut bekannt. Aber auch ein halbherziges und inkonsequentes therapeutisches Vorgehen erlaubt es oft nicht, hartnäckige Störungsmuster aufzubrechen. Dabei geht es darum, dass unsere Patienten beim Erreichen ihrer Ziele mit unserer Hilfe eine gewisse „therapeutische Härte“ entwickeln müssen, also eine Entschlossenheit, an sich zu arbeiten, trotz der Schwierigkeiten und Versuchungen, in die alten Muster zurückzufallen bzw. den Durst der alten Bedürftigkeit hin und wieder zu stillen.

Letztendlich geht es um die Entschlossenheit, auf dem eigenen, „besonderen Weg“ des Lebens zu gehen, sowohl im Großen als auch im Alltäglichen oder auf der selbst angelegten überschaubaren Übungsstrecke, wie diese chassidische Geschichte illustriert. Psychotherapeutisch betrachtet, handelt es sich hier um eine Frage der Motivation, jener treibenden Kraft, welche beim Erreichen der eigenen Ziele hilft, die Schwierigkeiten einer „Durststrecke“ in Kauf zu nehmen und sie kämpferisch auszuhalten. Bei der Bewältigung einer konkreten Situation im Rahmen einer verhaltenstherapeutischen Expositionsübung ist eine ebenso feste Entschlossenheit erforderlich, die vielleicht mit dem Satz „ich bleibe da, wo ich bin, und stelle mich der Gefahr, selbst wenn ich tot umfallen sollte“ beschrieben werden könnte. Erst dann kommt es, wie wir wissen, in einer problematischen Situation zu einer Abnahme der Symptomatik auf emotionaler und vegetativ-somatischer Ebene.

Der oben erwähnten „Flickarbeit“ im eigenen Tun stellt Buber „die Arbeit aus Einem Guss“

gegenüber, welche nur „mit geeinter Seele“ vollbracht werden kann. Weiterhin sagt Buber, dass nicht jede Seele „einheitlich“ sei, „von Natur“ oder „von Gnade“, um die Werke „aus Einem Guss“

problemlos zu schaffen. Er erwähnt auch die „vielfältigen, komplizierten, widerspruchsvollen Seelen“, und sagt „[…] davon ist naturgemäß (ihr) Tun bestimmt“: nämlich von einem häufig unruhigen oder gehemmten, widersprüchlichen oder unentschlossenen Handeln (Buber 2001a: 28).

Wenn solchen Handlungsstörungen ernsthafte seelische Probleme zugrunde liegen, braucht ein Teil der davon betroffenen Menschen sicherlich Unterstützung und fremde Hilfe, wie sie eine Psychotherapie leisten kann. Gewiss ist der Weg von Menschen mit Defiziten in der psychischen Entwicklung, mit neurotischen Konflikten, ganz zu schweigen von Traumatisierungen, oft viel schwieriger als der Weg der von Natur aus „einheitlichen“ Seelen. Buber sagt: „Was kann denn ein so beschaffener Mensch anders als sich anstrengen, die Versuchungen, die ihn auf dem Weg zum jeweiligen Ziel antreten, zu überwinden? Was kann er anders tun als eben jeweils, mitten im Tun,

sich, wie man zu sagen pflegt, 'zusammenzunehmen', das heißt, seine hin und her gerissene Seele einzusammeln und immer wieder gesammelt auf das Ziel zu richten […]“ (Buber 2001a: 28). Ein eben beschriebener „problematischer“ Mensch ist jedoch, wie Buber weiter schreibt, „[…] nicht ausgeliefert: das Innerste dieser Seele, die Gotteskraft in ihrer Tiefe, vermag auf sie einzuwirken, sie zu ändern, die einander befehdenden Kräfte aneinander zu binden, die auseinanderstrebenden Elemente ineinander zu schmelzen, es vermag sie zu einen“ (a. a. O.: 29).

Es liegt nahe, dass diese „Gotteskraft in der Seele“ in unsere Fachsprache als „Ressource“ übersetzt werden könnte. Es handelt sich um diejenigen gesunden psychischen Anteile in der kranken Seele, die trotz Ausprägung einer jeweils eigenen Problematik die Bewältigung des Lebens ermöglichen – von der „Selbstbesinnung“ bis zur „Entschlossenheit“, auf dem eigenen, „besonderen Weg“ zu gehen. Zu diesen Ressourcen zählen neben sehr vielen anderen Charaktereigenschaften auch Altru-ismus, Humor, Kreativität sowie Religiosität, also klassische Domänen chassidischen Denkens.

Der „Seher“, so Buber, wirft dem Chassid vor, „[…] dass er sein Wagnis mit ungeeinter Seele unternommen hat; mitten im Werk gelingt die Einung nicht“ (Buber 2001a: 29).

Das könnte, auf die Erfüllung der Lebensaufgaben und die Bewältigung von seelischen Problemen übertragen, bedeuten, dass noch vor dem Angehen der bevorstehenden Aufgabe auch auf einer entsprechenden „Entwicklungsstufe“ einer Therapie, eine gewisse Stabilisierung, „Einung“, erreicht werden muss, um dem Auftreten von Schwierigkeiten entschlossen begegnen zu können.

„Keine Einung der Seele [ist] eine endgültige“ […] Wie auch die von Geburt einheitlichste Seele […] von inneren Schwierigkeiten überfallen wird, so kann auch die am gewaltigsten um die Einheit ringende sie nie vollkommen erreichen“ (Buber 2001a: 30).

Auch in einer Psychotherapie ist es wichtig, nicht allzu unrealistische Ziele zu setzen und nicht übertriebene Vorstellungen im Hinblick auf das zu Erreichende zu haben. „Als Ziel ist Ganzwerden eine Utopie, die wir nie erreichen, wir sind bestenfalls auf dem Weg, und auf diesem Weg bleibt man auch immer wieder mal stecken“, schreibt die jungianische Psychotherapeutin Verena Kast (Kast 2003: 134). Aber die ständige Übung in einer Therapie und die kontinuierliche, lebenslange Arbeit an sich bringen auf jeden Fall weiter, wenn man Schwierigkeiten und Krisen in Kauf nimmt und bei Niederlagen wieder aufsteht und weitergeht. Buber: „[…] jedes Werk, das ich aus geeinter Seele tue, wirkt auf meine Seele zurück, wirkt in die Richtung auf neue und höhere Einigung hin,

jedes führt mich, wenn auch auf mancherlei Umwegen, zu einer stetigeren Einheit hin, als die ihm vorausgehende war“ (Buber 2001a: 30). Besonders faszinierend ist dabei die weiter beschriebene positive Perspektive dieser ständigen Arbeit an sich mit der Mahnung, weiterhin trotz „Erfolgen“

wachsam zu bleiben, da das Leben mit immer neuen Situationen und Anforderungen eine stetige Wachsamkeit verlange: „So gelangt man endlich dahin, wo man sich seiner Seele überlassen kann, weil ihr Maß an Einheit so groß ist, dass sie den Widerspruch wie im Spiel überwindet. Wachsam muss man freilich auch dann sein, aber es ist eine gelassene Wachsamkeit“ (ebd.). So ist auch eine

„interne Selbsttherapie“ nach einer abgeschlossenen „externen Psychotherapie“ nie beendet und verlangt eben diese Aufmerksamkeit für sich selbst und die Welt.

Auf das Thema „Einung der Seele“ geht Buber auch in seiner Schrift „Bilder von Gut und Böse“

ein, wo er schreibt: „Es ist ein grausames Wagnis, dieses Ganzwerden, Gestaltwerden, Kristall -werden der Seele. Es muss ja alles überwunden -werden, was an Neigungen, an Bequemlichkeiten, an Gewohnheiten, […] sich in uns breitgemacht hat, und überwunden werden muss es nicht durch Ausschaltung […] denn nie ist so die echte Ganzheit zu erreichen, wo keine niedergetretenen Lüste mehr in den Ecken lauern. Es müssen alle diese bewegten oder festgelegten Kräfte, vom Schwung der Seele ergriffen, sich […] aus freien Stücken in die Mächtigkeit der Entscheidung stürzen und in ihr aufgehen“ (Buber 2003: 62). Dies sind tiefenpsychologische Gedanken, da es hier u. a. um die Notwendigkeit der Integration unserer oft problematischen Trieb- oder Schattenaspekte geht.

Eine weitere kleine Geschichte, welche das Thema „Entschlossenheit“ gut ergänzt, präsentiert Buber gegen Ende des Kapitels: Als der Rabbi Nachum die Schüler im Lehrhaus beim „Damspiel“

fand und sie vor Scheu seine Frage, ob sie die Gesetze des Spiels kennen, nicht beantworten konnten, gab er ihnen selbst die Antwort: „Das erste ist, man darf nicht zwei Schritte auf einmal gehen. Das zweite, man darf nur vorwärts gehen und sich nicht rückwärts kehren. Und das dritte, wenn man oben ist, darf man schon gehen, wohin man will“ (Buber 2001a: 31).

Man ahnt sofort, dass der Rabbi mit diesen Worten nicht nur eine Anleitung zum Spiel, sondern auch eine Anweisung zum Leben gibt, welche wir wiederum in einer psychotherapeutischen Grundeinstellung finden können. Die ersten zwei Teile der „Einweisung“ sind sehr verhaltens -therapeutisch und besagen: Man muss alles eins nach dem anderen tun, in richtiger Reihenfolge und womöglich in kleinen Schritten. Der zweite Gedanke betont die Zukunftsorientierung des Handelns:

Manchmal müssen wir auch unseren Patienten verdeutlichen, dass die Thematisierung der Vergangenheit in einer Therapie meistens nur dann sinnvoll ist, wenn sie behilflich ist, die aktuelle

Situation und Problematik zu verstehen, dass es eben nicht möglich ist, „rückwärts zu kehren“, unabhängig davon, ob es darum geht, dass man eine „schlechte“ Vergangenheit ändern will oder ob man versucht, die positiven Erinnerungen noch einmal „zu leben“, ohne Bezug zur heutigen Problematik und ohne Beachtung der Tatsache, dass man selbst aktuell schon ganz woanders steht.

„Und das dritte…“: Wenn man tatsächlich etwas erreicht hat, in einer Therapie oder im Leben, hat man mehr Entscheidungsfreiheit und Handlungsspielraum.

Zum Schluss begegnet uns im selben Kapitel noch ein Grundgedanke der psychosomatischen Medizin: die Erkenntnis der unzertrennbaren systemischen Einheit von Psyche und Körper, ihrer komplexen gegenseitigen Steuerungsprozesse. Die Akzeptanz dieser Einheit ist für das Vollbringen des Werkes „aus Einem Guss“ unabdingbar: „[…] man würde, was mit Einung der Seele gemeint ist, von Grund aus missverstehen, wenn man unter 'Seele' hier etwas anderes verstünde als: der ganze Mensch, Leib und Geist miteinander. Die Seele ist nicht wirklich geeint, wenn es nicht alle leiblichen Kräfte, alle Glieder des Leibes sind. […] man solle die Tat, die man tut, mit allen Gliedern tun, d. h. es solle auch das ganze leibliche Wesen des Menschen daran beteiligt sein“

(Buber 2001a: 31–32).