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Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Nationalstaates

Im Dokument Jus Internationale et Europaeum (Seite 44-53)

Zwei Perspektiven – eine Ideengeschichte der Menschenrechte?

A. Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Nationalstaates

Die Entwicklung der Idee der Menschenrechte geht – zumindest aus westlicher Perspektive – Hand in Hand mit der Entwicklung der Idee des subjektiv-öf-fentlichen Rechts des Einzelnen. Der Berechtigung von Gruppen wurde his-torisch betrachtet, abgesehen von dem Minderheitenschutzregime im Rahmen des Völkerbundes, kaum Beachtung geschenkt. Will man die Konzeption der Menschenrechte (als Individualrechte oder gar als Gruppenrechte) verstehen, ist ein Blick auf die Ideengeschichte zur Konzeption von Rechten und das Ver-hältnis zwischen Individuum, Gemeinschaft und Staat unvermeidbar. Erst wenn das Vorverständnis offen liegt, kann der Diskurs um Gruppenrechte sowie die aktuelle Menschenrechtspraxis in den verschiedenen regionalen Schutzregimen nachvollzogen werden. Deshalb wird im Folgenden die Ideengeschichte um-rissen, wobei eine notwendige Kürze für das Vorverständnis genügen soll. In einem ersten Schritt wird der traditionellen Konzeption der Menschenrechte als Individualrechte nachgegangen (I.). Anschließend wird ein sich behutsam vollziehender Wandel in dieser zunächst rein individualistisch geprägten Ideen-geschichte während des 20. Jahrhunderts skizziert (II.). Mit dem Wandel wird gleichzeitig das Fundament für die verschiedenen Begründungen von Gruppen-rechten gelegt: als erweiterter Schutz des Individuums sowie unabhängig vom selbigen.

I. Individualrechte als traditionelle Konzeption der Menschenrechte

Seitens des Völkerrechts und der Rechtstheorie werden die Menschenrechte allgemein als subjektiv-öffentliche Rechte verstanden, welche aufgrund ihrer theoretischen Konzeption nur dem Individuum zukommen können.1 Infolge der Menschenrechte erlangt das Individuum nach bislang herrschender Meinung eine von den Staaten abgeleitete Völkerrechtssubjektivität. Sie gilt zugleich als

1 Statt vieler: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 356; Peters, Das subjektive interna-tionale Recht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 59 (2011), 411 (421 ff.); bereits Jellinek beginnt seine Erörterung der Theorie des subjektiv öffentlichen Rechts mit der französischen Menschen-rechtserklärung: Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1919 (1979), 1 ff.

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beschränkt, da die Staaten die gewährten Rechtspositionen jederzeit durch eine Änderung der Verträge entziehen können.2 Zudem symbolisieren die Menschen-rechte den Individualschutz und die Stellung des Individuums im Völkerrecht:

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht ein Primat der individuellen Menschenrechte.3 Den Hintergrund bildet ein entsprechendes Vorverständnis vom Verhältnis zwischen Individuum und Staat/Gemeinschaft/Gesellschaft, welches nach einer kurzen begrifflichen Annäherung an den Terminus ‚Men-schenrechte‘ beleuchtet wird.

Allgemein können Menschenrechte als berechtigte Ansprüche definiert wer-den,

„die ein jeder Mensch an die Verhältnisse hat, in denen er lebt; und zwar unabhängig davon, ob der jeweilige Staat entsprechende (staats- oder völker-)rechtliche Verbindlichkeiten einge-gangen ist.“4

Inwiefern die Menschenrechte moralischer oder politischer Art sind, wird un-terschiedlich beantwortet. Teilweise werden die Menschenrechte als Resultat der (gegenseitigen) moralischen Rechte der Menschen innerhalb der öffentli-chen Ordnung verstanden. Adressat der moralisöffentli-chen Rechte sei die öffentlich herrschende Ordnung und deren Repräsentanten.5 Demgegenüber verweist das politische Verständnis auf die Selbstbegrenzung der staatlichen Souveränität im Namen der Menschenrechte. Sie folge nicht aus der gleichen Freiheit der einzelnen moralischen Subjekte, sondern aus der gleichen Freiheit eines jeden Staates.6 Dabei verdiene die staatliche Souveränität nur dann Respekt, wenn die staatliche Herrschaft Ausdruck der Selbstregierung einer politischen Ge-meinschaft ist.7 Mithin werden die Menschenrechte entweder durch die gleiche moralische Achtung oder durch die freie politische Selbstbestimmung erklärt.

Ausgangspunkt ist stets die gleiche Berücksichtigung eines jeden Menschen durch die jeweilige politische Ordnung.8

Historisch betrachtet wurden die Menschenrechte in Nordamerika und Eu-ropa zunächst auf zwei Arten begründet: zum einen mit der Idee der Natur des

2 Statt vieler: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, 2002, § 109 (264). Demge-genüber sieht Peters, Das subjektive internationale Recht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 59 (2011), 411 (421 ff.) das Individuum als primäres, originäres Völkerrechtssubjekt an.

3 Wenzel, Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht, 2008, 17.

4 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 27.

5 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 31 f., wobei juridische Rechte als positiv gesetzte Rechte von moralischen Rechten zu unterscheiden sind. Letztere sind Rechte, die jeder gegenüber jedem anderen Menschen geltend machen kann, da es Ansprüche des Menschen als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft sind, siehe Menke/Pollmann, Phi-losophie der Menschenrechte, 2012, 27.

6 So Rawls, dazu Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 35.

7 So Habermas, siehe dazu Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 36.

8 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 42 f.

A. Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Nationalstaates 25 Menschen alle Menschen gleichermaßen zu achten; zum anderen mit der Idee, dass jedem Menschen kraft seines Menschseins angeborene unveräußerliche Rechte zustehen.9 Jedoch nahm man in der Philosophie von der Begründung über die Natur des Menschen nach 1945 aufgrund der Erfahrung von totalitärer Herrschaft Abstand.10 Heute erfolgt deshalb zwar keine Begründung, aber eine Rechtfertigung über drei Ansätze, deren Ursprünge im Naturrecht des 18. Jahr-hunderts auszumachen sind: über den Gesellschaftsvertrag, aus der Vernunft heraus sowie aufgrund der Gefühle des Menschen.11 Ausgangspunkt ist jeweils der einzelne Mensch, der

– entweder einen Vertrag oder Tausch zur Wahrung seiner „transzendentalen Interessen“12 eingeht oder

– aufgrund seiner Vernunft nur in zu rechtfertigender Art und Weise gegenüber anderen Menschen handelt bzw.

– nur wegen seiner Fähigkeit die Perspektive eines anderen einzunehmen und mitzufühlen über einen Vertrag oder die Vernunft Menschenrechte anerken-nen kann.13

Demgemäß liegt bereits dem Begriff der Menschenrechte ein Fokus auf den Einzelnen zugrunde – stets in der Abgrenzung zum Staat bzw. der Gemeinschaft oder Gesellschaft. Für eine bessere Durchdringung dieser individualrechtlichen Konzeption werden nun die ideengeschichtlichen Grundlagen betrachtet, die zugleich auch maßgebend für die Herausbildung des subjektiv-öffentlichen Rechts in der nationalen (deutschen) Rechtswissenschaft waren.

Die Wurzeln der individualrechtlichen Konzeption der Menschenrechte werden allgemein in der Aufklärung, in dem Naturrecht sowie in der politi-schen Strömung des Liberalismus gesehen.14 Grundlegend waren hierfür die Staatszweck- und Staatsrechtfertigungslehren der Aufklärung von Hobbes, Lo­

cke und Kant, deren Schriften das Fundament für das heutige Verständnis von

9 Siehe hierzu ausführlich Kirste, Die naturrechtliche Idee überstaatlicher Menschenrech-te, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR X, 2012, § 204, 3 (5 ff.). Siehe im Vergleich dazu für eine kritische Hinterfragung der naturrechtlichen Begründung von Menschenrechten Menke/

Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 45 ff.

10 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 49.

11 Zu den drei Ansätzen ausführlich Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 49 ff.

12 Höffe, Transzendentaler Tausch – eine Legitimationsfigur für Menschenrechte?, in: Go-sepath/Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, 29 (34).

13 Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2012, 61.

14 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995, 56 spricht von einer „Entchristlichung“ des Naturrechts und der Absolutierung des Wohls des in der Renaissance entdeckten „isolierten Individuums“, wobei in dem in der Aufklärung entwi-ckelten Frühliberalismus der Ursprung der bürgerlichen und politischen Rechte liegt; zur Ein-führung in die politische Theorie des Liberalismus siehe Ottmann, Geschichte des politischen Denkens – Die Neuzeit, Bd. 3 III, 2008, 58–99.

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Individualrechten bilden.15 Während bei Hobbes der Staat der Selbsterhaltung dient, beruht bei Locke die Legitimation des Staates ausschließlich auf den na-türlichen (und damit vorstaatlichen) individuellen Rechten der Bürger.16 Locke zufolge soll die individuelle Freiheit vor Eingriffen seitens des Staates geschützt werden, womit er die Idee des Rechtsstaats (mit-)begründet.17 Indessen sieht Kant nicht das Schutzbedürfnis gegenüber dem Staat, sondern den Einzelnen in (und gegenüber) der Gesellschaft. Das Individuum könne sich nur in der Gemeinschaft entfalten, orientiere sich aber gleichzeitig an seinen Einzelinter-essen, weshalb eine rechtliche Struktur der Gemeinschaft notwendig sei.18 Die Freiheit (des Einzelnen) wird von Kant als einziges angeborenes Recht aner-kannt. Im Gegensatz zu Locke versteht er die Freiheit aber nicht mehr als einen theoretisch unbegrenzten Anspruch. Vielmehr denkt Kant bereits die Freiheit des Anderen mit.19 Die Sichtweise auf den Einzelnen zeichnet sich durch eine Gegenüberstellung zur Gemeinschaft (dem Nationalstaat) und anderen Indivi-duen aus. Insofern liegen Aufklärung und Liberalismus jeweils ein quasi anta-gonistisches Verständnis von Individuum und Gemeinschaft zugrunde.

Besonders eindringlich wurde das Gegeneinander von Individuum und Ge-sellschaft von Mill formuliert: In seinem wohl bekanntesten Werk „On Liberty“

untersucht er die bürgerliche oder soziale Freiheit – also „Wesen und Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft regelmäßig über das Individuum ausübt“20. Für Mill gilt es zuvorderst das Individuum vor der „Tyrannei der Mehrheit“21 zu schützen. Die Freiheit vom Staat steht hier an erster Stelle. Hintergrund bilden die Erfahrungen der verschiedenen Herrschaftsformen in der Geschichte, wobei Mill die Differenz zwischen Herrschern und Volk, zwischen Autorität und Frei-heit aufzeigt.22 Neben der Meinungsfreiheit sieht Mill v.a. die „Individualität als eins der Elemente der Wohlfahrt“23. Die Meinungsfreiheit als Freiheit der

15 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995, 57 f.

16 König, Zur Begründung der Menschenrechte, 1994, 162 f. m.w.N.

17 Dabei bezeichnet König, Zur Begründung der Menschenrechte, 1994, 162 das Men-schenrechtsmodell von Locke als individualistisches MenMen-schenrechtsmodell, „weil der Be-zugspunkt der vorstaatlichen Rechte einzig im Individuum liegt, und weil der Staat dieser individualistischen Betrachtungsweise immer untergeordnet bleibt: Die Legitimation des Staates beruht auf den individualen natürlichen Rechten der Bürger“.

18 König, Zur Begründung der Menschenrechte, 1994, 274.

19 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens – Die Neuzeit, Bd. 3 III, 2008, 95; Kö­

nig, Zur Begründung der Menschenrechte, 1994, 240.

20 Mill, Über die Freiheit, 1991, Erstes Kapitel, 5.

21 Welche nach Mill, Über die Freiheit, 1991, Erstes Kapitel, 9 in allen politischen Theo-rien seiner Zeit anerkannt wird.

22 Mill, Über die Freiheit, 1991, Erstes Kapitel, 5 ff.; siehe auch Gräfrath, John Stuart Mill: Über die Freiheit, 1992, 12.

23 So die Überschrift des dritten Kapitels: Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 77–102.

A. Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Nationalstaates 27 individuellen Lebensführung begründet er mit der Vielfalt als positiven Wert.24 Gleichzeitig stellt er die individuelle

Lebensführung über eine solche, welche durch die Traditionen oder Sitten einer Gruppe geprägt ist.25 Für Mill ist Individualität als solche wertvoll und deshalb schützenswert:

„Kein Mensch wird sich einbilden, vorzügliches Benehmen bestehe darin, daß man überhaupt nichts anderes zu tun brauche, als einander zu kopieren. Kein Mensch wird bestreiten, daß man seiner Lebensweise und seinem sonstigen, einen selbst betreffenden Tun seinen Stempel aufprägen soll, gemäß seinem eigenen Urteil oder eigener individueller Wesensart.“26

Insgesamt setzt Mill Individualität mit menschlicher Entwicklung gleich. Wie Kant sieht er die Individualität durch die „strenge[n] Regeln der Gerechtigkeit in Sachen anderer“27 als begrenzt.28 Entsprechend seiner utilitaristischen Sicht-weise, nach der das Ziel das größte Glück der größten Zahl (an Individuen) ist, zeigt er schließlich auf, dass alle von der Freiheit der Lebensgestaltung profi-tieren werden.29 In diesem Sinne begründet er die Freiheitsrechte mit ihrem intrinsischen Wert und gesamtgesellschaftlichen Nutzen.30 Damit knüpft er in gewisser Weise an Smiths Idee der „invisible hand“31 an, wonach die Individu-en durch die Verfolgung ihres eigIndividu-enIndividu-en Wohls automatisch zur Förderung des Gemeinwohls und der Wohlfahrt des Staates beitragen. An eben jenem

Indivi-24 In seiner Forderung nach Pluralismus geht er soweit, dass „man den Wert verschiedener Lebensarten praktisch ausprobier[en solle]“, Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 78;

siehe zur allgemeinen Vorgehensweise knapp darstellend: Gräfrath, John Stuart Mill: Über die Freiheit, 1992, 66 ff.

25 Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 78: „Wo nicht der eigene Charakter, son-dern Traditionen oder Sitten andere Leute die Lebensregeln aufstellen, da fehlt es an einem der hauptsächlichsten Bestandteile menschlichen Glücks, ja dem wichtigsten Bestandteil in-dividuellen und sozialen Fortschritts“.

26 Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 80.

27 Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 87.

28 Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 87 f.

29 Mill, Über die Freiheit, 1991, Drittes Kapitel, 88–97.

30 Gräfrath, John Stuart Mill: Über die Freiheit, 1992, 72.

31 Smith, An inquiry into the nature and causes of the wealth of the nations, 1850, Book IV, Chapter II, 199: „As every individual, therefore, endeavours as much as he can both to employ his capital in the support of domestic industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value; every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was no part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the public good“.

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duum, welches auf kluge Art ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt, orientiert sich die Rechtsordnung seit der Aufklärung. Radbruch konstatierte diesbezüglich:

„Erst Aufklärung und Naturrecht haben die Rechtsordnung auf jenen Menschentypus ausge-richtet, von dem schon das römische Recht ausging: das nicht nur sehr eigennützige, sondern auch in seinem Eigennutz sehr kluge Individuum, das lediglich seinem wohlverstandenen Individualinteresse folgt, das dabei von allen soziologischen Bindungen frei ist und juristi-schen Bindungen nur deshalb unterliegt, weil es sich in wohlverstandenem Individualinteres-se Individualinteres-selbst daran gebunden hat. […] Auch das öffentliche Recht wird schließlich in der Lehre vom Gesellschaftsvertrag als begründet und getragen von dem wohlverstandenen Individua-linteresse freier und gleicher Menschen aufgefasst.“32

Insofern wurde durch Aufklärung, Naturrecht und Liberalismus der Grundstein für die Herausbildung des subjektiv-öffentlichen Rechts gelegt, was insbeson-dere für das Verständnis des subjektiv-öffentlichen Rechts im deutschen Rechts-raum gilt:33 Dort entwickelte Savigny das subjektive Recht als den Freiraum der moralisch handelnden Person, wobei das Recht nur Mittel zum Zweck ist.34 Ihering erweiterte diesen Ansatz dahingehend, dass subjektive Rechte von der Rechtsordnung verliehene rechtlich geschützte Individualinteressen sind, wel-che gleichzeitig mit einer Klagemöglichkeit verbunden sind.35 Herrschte im 19.

Jahrhundert noch die Vorstellung vom liberalen Rechtsstaat, so wandelte sich diese (geprägt durch das negative Bild des „Nachtwächterstaates“36) spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts hin zum sozialen Rechtsstaat.37 Der Staat wur-de nicht mehr nur als Bedrohung wahrgenommen: vielmehr entwickelte Jellinek

32 Radbruch, Der Mensch im Recht, 1957, 12 ff.

33 Zum Kampf um das subjektiv-öffentliche Recht im 19. Jahrhundert siehe Bauer, Ge-schichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, 43 ff. Zur Ent-stehung des subjektiv-öffentlichen Rechts in Deutschland Pasemann, Die Entwicklung des Schutzes subjektiver öffentlicher Rechte unter Berücksichtigung des europäischen Einflusses, 2005, 47 ff.

34 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 356 f.

35 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 358.

36 Der Begriff geht zurück auf: Lassalle, Arbeiterprogramm – Über den besonderen Zu-sammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes. Vortrag, gehalten am 12. April 1862 in Berlin, in: Jenaczek (Hrsg.), Ferdinand Lassalle Reden und Schriften, 1970, 22 (55 f.): „Dies ist eine Nachtwächteridee, meine Herren, eine Nachtwäch-teridee deshalb, weil sie sich den Staat selbst nur unter dem Bilde eines Nachtwächters denken kann, dessen ganze Funktion darin besteht, Raub und Einbruch zu verhüten. Leider ist diese Nachtwächteridee nicht nur bei den eigentlichen Liberalen zu Hause, sondern selbst bei vie-len angeblichen Demokraten, infolge mangelnder Gedankenbildung, oft genug anzutreffen.

Wollte die Bourgeoisie konsequent ihr letztes Wort aussprechen, so müßte sie gestehen, daß nach diesen ihren Gedanken, wenn es keine Räuber und Diebe gebe, der Staat überhaupt ganz überflüssig sei“.

37 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995, 61.

A. Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Nationalstaates 29 ein breites Verständnis von subjektiv-öffentlichen Rechten, wonach es galt die Freiheit vom Staat, nicht ohne den Staat, im und für den Staat zu sichern.38

Die Menschenrechte unterlagen einer ähnlichen Entwicklung: Die Freiheits-rechte als Rechte der „ersten Dimension“ wurden zunächst nur als AbwehrFreiheits-rechte wahrgenommen. Erst die sozialen Rechte als Rechte der „zweiten Dimension“

sah man als Schutzrechte – jeweils beschränkt in ihrer Geltung für das Indivi-duum.39 Im aktuellen Menschenrechtsdiskurs verliert sich die Differenzierung zwischen den verschiedenen Dimensionen, indem der Schwerpunkt auf die drei dimensionsunabhängigen Ebenen der Wirkung verlagert wird.40 Danach gilt für jedes Menschenrecht die Pflichtentrias „to respect, to protect and to fulfil“. All-gemein werden die Menschenrechte entsprechend der deutschen Terminologie als Abwehr-, Schutz- und Leistungsrechte verstanden.41 Die Entwicklung der Idee eines subjektiv-internationalen Rechts nahm, im Vergleich zur Geschichte des subjektiv-öffentlichen Rechts innerhalb der deutschen Rechtswissenschaf-ten, andere Etappen, was v.a. der zeitweisen Negation des Individuums als Völ-kerrechtssubjekt geschuldet ist.42 Unabhängig von der Entwicklung wird auch hier im Ergebnis das immer noch geltende Primat des individuellen Menschen-rechtsverständnisses deutlich. So ist der (mittlerweile fast historische) Streit um die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht von der Grundsatzfrage ge-prägt, ob nur Staaten oder nur Individuen Völkerrechtssubjekte seien können.

Das Ergebnis hing in der Regel von dem jeweiligen zugrunde liegenden Staats-verständnis ab, heute gilt indes die Anerkennung des Individuums als Rechts-subjekt als gesichert.43

II. Ein Wandel in der Ideengeschichte: das Individuum in der Gemeinschaft Während gegenwärtig die Völkerrechtssubjektivität des Individuums, zumin-dest in dem zuvor beschriebenen beschränkten Umfang, anerkannt wird, ist die

38 Siehe Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1919 (1979), 87 sowie 94 ff.

39 Hierzu statt vieler ausführlich: Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, 9 (11 f.).

40 Siehe Tietje, Individualrechte im Menschenrechts- und Investitionsschutzbereich, 8 m.w.N.

41 Tietje, Individualrechte im Menschenrechts- und Investitionsschutzbereich, 2012, 8 f.

m.w.N.; in der Völkerrechtspraxis ist dazu eine Entscheidung der afrikanischen Kommission für Menschen- und Völkerrechte hervorzuheben, wobei die Kommission von der Verpflich-tung „to respect, protect, promote and fulfil“ ausgeht: Communication 155/96, The Social and Economic Rights Action Center and the Center for Economic and Social Rights/Nigeria, Rn.

43–47.

42 Zur Ideengeschichte des subjektiven internationalen Rechts ausführlich Peters, Das subjektive internationale Recht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 59 (2011), 411 (413 ff.).

43 Siehe Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, 2002, § 109 (259 ff.); Peters, Das subjektive internationale Recht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 59 (2011), 411 (413 ff.).

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Rechtsstellung von Gruppen weiterhin offen.44 Gruppen als Völkerrechtssub-jekte anzuerkennen gilt als problematisch. Nach allgemeiner Ansicht fehlen dafür v.a. die notwendigen Rechtspositionen, wenn man von dem politischen Selbstbestimmungsrecht der Völker absieht. Demgegenüber wären völkerrecht-lich anerkannte Gruppenrechte ein starkes Indiz für den Status als Völkerrechts-subjekt.45 Zwar wurde die Idee des Minderheitenschutzes, also dem rechtlichen Schutz von Gruppen, bereits nach dem Ersten Weltkrieg durch den Völkerbund aufgenommen, jedoch konnte sich der Minderheitenschutz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen.46 Vielmehr wurde das Menschenrechtsschutzsys-tem ausschließlich individualrechtlich aufgebaut.47 Deutlich wird dies u.a. am Beispiel des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es von den Staaten ausdrücklich nur als Prinzip („Principle of Self-Deter-mination“ bzw. „Grundsatz der Selbstbestimmung“) und nicht als Recht aner-kannt.48 Anwendung fand und findet das Prinzip allein auf Staatsvölker, wobei die politische Dimension im Vordergrund steht.49 Die Ablehnung von Gruppen-rechten beruht insbesondere auf den Gedanken, dass weder Rechtsinhaber noch

44 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, 2002, § 110 (269 f.); das Individuum erhält nicht nur eine partielle Völkerrechtssubjektivität, sondern wird als originäres Völker-rechtssubjekt gesehen von Peters, Das subjektive internationale Recht, Jahrbuch des öffent-lichen Rechts 59 (2011), 411 (411 ff.); ausdrücklich nur dem Individuum und nicht Völkern eine partielle Völkerrechtsfähigkeit einräumend Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2014, 166 ff. und 170 ff.; Brownlie, Principles of Public International Law, 2008, 63 und 65 erkennt Individuen als Völkerrechtssubjekte an, während Gruppen nur, wenn sie als politischer Akteur in Form von Aufständischen oder kriegsführenden Gruppen auftreten, als solche von ihm

44 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, 2002, § 110 (269 f.); das Individuum erhält nicht nur eine partielle Völkerrechtssubjektivität, sondern wird als originäres Völker-rechtssubjekt gesehen von Peters, Das subjektive internationale Recht, Jahrbuch des öffent-lichen Rechts 59 (2011), 411 (411 ff.); ausdrücklich nur dem Individuum und nicht Völkern eine partielle Völkerrechtsfähigkeit einräumend Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2014, 166 ff. und 170 ff.; Brownlie, Principles of Public International Law, 2008, 63 und 65 erkennt Individuen als Völkerrechtssubjekte an, während Gruppen nur, wenn sie als politischer Akteur in Form von Aufständischen oder kriegsführenden Gruppen auftreten, als solche von ihm

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