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Gruppenrechte als Menschenrechte – Anzeichen eines Auftaktss

Im Dokument Jus Internationale et Europaeum (Seite 34-38)

Die einleitend gestellte These der „Völkerrechte als Menschenrechte“ erweckt in dem aufgezeigten nationalen und internationalen Referenzrahmen den Ein-druck einer gegenüber der Idee der Menschenrechte gleichsam antagonistischen Forderung. Gleichwohl lassen sich im Völkerrecht auf vertragsrechtlicher Ebe-ne (I.) und inEbe-nerhalb der Spruchpraxis der MenschenrechtsorgaEbe-ne (II.) Ebe-neue Entwicklungen beobachten, die als Anzeichen für einen Auftakt einer neuen Sichtweise der Menschenrechte – verstanden auch als Gruppenrechte – zu wer-ten sind.

I. Entwicklungen im Völkervertragsrecht

Entgegen dem Primat der Individualrechte setzt auf internationaler Ebene in der Phase der Dekolonisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein vorsichti-ger Umbruchprozess ein: Mit der Begründung und Ausübung des Selbstbestim-mungsrechts der Völker kommt die Forderung nach Peoples’ Rights auf.74 Ei-nen ersten Vorschlag für eine umfassende völkervertragsrechtliche Gestaltung von Peoples’ Rights verkörpert die von Nicht-Regierungs-Akteuren in Algier aufgesetzte – und demzufolge gänzlich unverbindliche – Universal Declara­

tion of the Rights of Peoples von 1976.75 Gefordert werden darin das Recht auf Existenz, politische Selbstbestimmung, wirtschaftliche Rechte (natürliche Ressourcen, Erbe der Menschheit, Arbeit), kulturelle Rechte, Umweltrechte und Minderheitenrechte – verstanden als Rechte der Völker (peoples). Dane-ben findet das 1977 von Vasak, welcher bis kurz zuvor der Generalsekretär des Institut International des Droits de l’Homme in Strasbourg war, entwickelte Konzept der „Menschenrechte der dritten Generation“ bzw. sogenannte „soli-darische Rechte“ auf internationaler Ebene Gehör.76 Idee und Forderung sind in Anlehnung an die Losung der französischen Revolution (Liberté, Egalité, Fra-ternité) und als Fortsetzung des CCPR und des CESCR ein dritter

internationa-74 Detailliert zu dieser Entwicklung: Alston, Peoples’ Rights: Their Rise and Fall, in: ders., Peoples’ Rights, 2001, 262 ff.

75 Universal Declaration of the Rights of Peoples, Algier v. 04.07.1976, http://www.algerie-tpp.org/tpp/en/declaration_algiers.htm (08.04.2019).

76 Vasak, Pour une troisième génération des droits de l’homme, in: Swinarski (Ed.), Etu-des et essais sur le droit international humanitaire et sur les principes de la Croix-Rouge, 837 (837 ff.); kritisch zum Generationenbegriff: Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, 9 (11), der Begriff der Generationen der Menschenrechte sei sprachlich irre-führend, da er ein Ablösen der ersten und zweiten durch die dritte Generation impliziert. Die gleiche Wertigkeit und Gültigkeit der verschiedenen Menschenrechte werden mit dem Begriff der verschiedenen Dimensionen besser sichergestellt.

14 Einleitung

ler Menschenrechtspakt der UN für solidarische Rechte.77 Vor diesem Kontext werden erstmals neben dem Recht auf Selbstbestimmung78 auch die Rechte auf Entwicklung79, Frieden80, Umwelt81, Existenz82, sowie Minderheitenrechte83 und Rechte für indigene Völker84 als Individual- und als Gruppenrechte ver-handelt.85 Die erste rechtsverbindliche Aufnahme von Gruppenrechten in einem regionalen völkerrechtlichen Vertrag zum Schutz der Menschenrechte erfolgte 1981 mit den Peoples’ Rights innerhalb der African (Banjul) Charter on Hu­

man and Peoples’ Rights86 (AfCHPR oder Banjul Charter). In den Art. 19 bis 24 AfCHPR werden als Peoples’ Rights die Rechte auf Gleichheit, Existenz, Selbstbestimmung, Verfügung über natürliche Ressourcen und Reichtümer, Entwicklung, Frieden und Sicherheit sowie das Recht auf eine für die Entwick-lung günstige Umwelt statuiert. Begründet wurde die Aufnahme mit dem spezi-fischen afrikanischen Verständnis des Einzelnen als Teil einer Gemeinschaft.87 Unter Verweis auf die eigenen Traditionen wird im Völkervertragsrecht erstmals eine neue Konzeption von Rechten gewagt.88 Die Banjul Charter löste damit die damals 35 Jahre alte Forderung der AAA nach der Inkorporation von

Gruppen-77 Zu finden ist der Entwurf von Vasak eines „Troisième Pacte Internationale Relatif aux Droits de Solidarité“ in: Vasak, Pour une troisième génération des droits de l’homme, in:

Swinarski (Ed.), Etudes et essais sur le droit international humanitaire et sur les principes de la Croix-Rouge, 1984, 837 (846 ff.).

78 Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples, v.

14.12.1960, GA Res. 1514 (XV).

79 Declaration on the Right to Development, v. 04.12.1986, GA Res. 41/128.

80 Declaration on the Right of Peoples to Peace, v. 12.11.1984, GA Res. 39/11.

81 Als erster Meilenstein: UN Conference on Human Environment in Stockholm 1972:

Declaration of the United Nations Conference on the Human Environment, ILM 11 (1972), 1416.

82 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, v. 09.12.1948, UNTS Vol. 78, 277.

83 Declaration on the Rights of Persons belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, v. 18.12.1992, GA Res. 47/135.

84 Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, v. 13.09.2007, GA Res. 61/295.

85 Siehe statt vieler Alston, Introduction, in: ders., Peoples’ Rights, 2001, 1 f.; ebenso:

Tomuschat, Human Rights, 2008, 48 sowie 54 ff.; Riedel, Menschenrechte der dritten Dimen-sion, EuGRZ 1989, 9 (12 f.); siehe auch schon: Schaarschmidt, Gruppenrechte als Menschen-rechte?, in: Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e.V. (Hrsg.), 52. Assistententagung Öffentliches Recht – Kollektivität, 2012, 97 (98).

86 African Charter on Human and Peoples’ Rights, v. 27.06.1981, UNTS Vol. 1520-I-26363.

87 Secretary General, Report on the Draft African Charter presented at the 37th Ordinary Session of the OAU Council of Ministers, 15.-21. Juni 1981, CM/1149 (XXXVII), Annex II Rapporteur’s Report, CAB/LEG/67/Draft Rapt. Rpt (III) Rev. 4, para. 10 – Abdruck in: Heyns (Ed.), Human Rights Law in Africa 1999, 2002, 95.

88 Siehe dazu Absatz 5 der Präambel der AfCHPR: „Taking into consideration the virtues of their historical tradition and the values of African civilization which should inspire and characterize their reflection on the concept of human and peoples’ rights“.

B. Gruppenrechte als Menschenrechte – Anzeichen eines Auftakts 15 rechten in den Menschenrechtskanon ein.89 Zugleich zementierte die AfCHPR das Bild von Gruppenrechten als Zeichen des Kulturrelativismus, indem sie seit ihrem Abschluss als offensichtlicher sowie unabweisbarer Affront und Antago-nismus zu den beiden bereits bestehenden regionalen Menschenrechtsschutz-systemen gesehen wird.90 Schließlich gelten sowohl die (European) Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms 91 (ECHR) von 1950 als auch die American Convention on Human Rights92 (AmCHR) von 1969 als Verkörperung des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte und deren ausschließlich individualrechtliche Konzeptionierung.93

Insgesamt zeigt sich anhand der regionalen völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ein ambivalentes Bild. Während mit den Völker-rechten aus der Banjul Charter erstmals Gruppenrechte als Menschenrechte im regionalen Menschenrechtsschutz etabliert werden, erfährt auch im europäi-schen und amerikanieuropäi-schen Raum das Primat der Individualrechte erste Risse.

Sowohl die European Charter for Regional or Minority Languages94 von 1992 als auch die Framework Convention on the Protection of National Minorities95 von 1995 visieren den Schutz von Angehörigen von Minderheiten an. Auf diese Weise wird zumindest indirekt im europäischen Rechtsraum die Schutzbedürf-tigkeit von bestimmten Gruppen anerkannt. Explizit angestrebt wird der Schutz von Gruppen im inter-amerikanischen Rechtsraum, wo seit 1989 an der 2016 verabschiedeten American Declaration on the Rights of Indigenous Peoples un-ter dem Dach der Organization of American States gearbeitet wurde.96 Zudem

89 American Anthropological Association (Executive Board), Statement on Human Rights, American Anthropologist 49 (1947), 539.

90 Umfassend zur AfCHPR als Beleg des Kulturrelativismus der Menschenrechte: Meyer, Menschenrechte in Afrika, 2013, 36 ff.

91 Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, v.

04.11.1950, UNTS Vol. 213-I-2889.

92 American Convention on Human Rights „Pact of San José, Costa Rica“, v. 22.11.1969, UNTS Vol. 1144-I-17955.

93 Siehe dazu Absatz 5 der Präambel der ECHR: „Being resolved, as the governments of European countries which are like-minded and have a common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law, to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration“; sowie Absatz 2 der Präambel der AmCHR: „Recognizing that the essential rights of man are not derived from one’s being a national of a certain state, but are based upon attributes of the human personality, and that they therefore justify international protection in the form of a convention reinforcing or comple-menting the protection provided by the domestic law of the American states“.

94 European Charter for Regional or Minority Languages, v. 05.11.1992, CETS No. 148.

95 Framework Convention for the Protection of National Minorities, v. 01.02.1995, CETS No. 157.

96 Zum Entstehungsprozess: Kreimer, The Beginnings of the Inter-American Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, St. Thomas Law Review 9 (1996-1997), 271 (272).

16 Einleitung

sei an dieser Stelle noch die Arab Charter on Human Rights97 (ArCHR) von 2004 kurz erwähnt.98 Sie garantiert sowohl Individualrechte als auch solidari-sche Rechte, wobei deren gruppenrechtliche Konzeptionierung als nicht zwin-gend erscheint.99

Der Unterschied zum allgemeinen Völkerrecht liegt auf der Hand: Während mögliche Gruppenrechte auf universeller Ebene bislang fast ausschließlich in unverbindlichen UN-Resolutionen vorgesehen sind, entstehen auf regionaler Ebene sukzessive verbindliche völkerrechtliche Verträge, die (mindestens indi-rekt) den Schutz von Gruppen anvisieren.

II. Praxis der Menschenrechtsorgane

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in genau dem Jahr, in welchem seitens des Schrifttums das Versinken der Peoples’ Rights in der Bedeutungs-losigkeit prophezeit wurde, die erste Meilensteinentscheidung zu den Peoples’

Rights aus der Banjul Charter gefällt wurde.100 2001 befand die African Com­

mission on Human and Peoples’ Rights (AfCoHPR) in der bedeutenden SE­

RAC­Communication nicht nur eine Verletzung diverser kollektiver (Völker-) Rechte, sondern erklärte darüber hinaus die Durchsetzbarkeit aller in der Ban-jul Charter statuierten Rechte.101 Außerdem widmete sie sich im selben Jahr nur wenige Monate zuvor erstmals ausführlicher den Anforderungen für die Geltendmachung eines Peoples’ Rights.102 Seitdem wächst die Anzahl an Ver-fahren, in denen eine Verletzung kollektiver Rechte vor der AfCoHPR geltend gemacht wird, langsam aber kontinuierlich.103

Parallel sind bemerkenswerte Entwicklungen in der Spruchpraxis des In­

ter­American Court on Human Rights (IACtHR) und des European Court on Human Rights (ECtHR) zu konstatieren. Ebenfalls im Jahr 2001 erkennt der IACtHR erstmals – trotz der individualrechtlichen Konzeption der AmCHR –

97 Arab Charter on Human Rights, v. 22.05.2004. Eine Übersetzung in die englische Sprache bieten Al-Midani/Cabanettes, Boston University International Law Journal 24 (2006), 149 ff.

98 Auch wenn die ArCHR 2008 in Kraft trat, wird sie bei der weiteren Analyse außen vor bleiben, da bislang kein Überwachungssystem geschaffen wurde.

99 Siehe hierzu die Art. 2, 25, 37 und 38 ArCHR, welche möglicherweise auch als Grup-penrechte interpretiert werden können.

100 Alston, Peoples’ Rights: Their Rise and Fall, in: ders., Peoples’ Rights, 2001, 259 (268 ff.).

101 AfCoHPR Communication v. 27.10.2001, 155/96, The Social and Economic Rights Action Center and the Center for Economic and Social Rights/Nigeria, Rn. 68.

102 AfCoHPR Communication v. 07.05.2001, 211/98, Legal Resources Foundation/Zam­

bia, Rn. 73.

103 Einen ersten – schemenhaften – Überblick zu fünf zentralen Entscheidungen aus dem Zeitraum 1995 bis 2009 gewährt Yusuf, The Progressive Development of Peoples’ Rights in the African Charter and in the Case Law of the African Commission on Human and Peoples’

Rights, in: Lenzerini/Vrdoljak (Ed.), International Law for Common Goods, 2014, 41 (47 ff.).

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