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4. Eigenschaften der romanischen VNK

4.3. Die verbale Konstituente

4.3.1. Formale Eigenschaften: Imperativ, Indikativ, oder Verbalthema?

4.3.1.2. Indikativ vs. Verbalthema

Im Gegensatz zur Imperativthese findet die Analyse der verbalen Form als dritte Person Singular Indikativ Präsens auch in jüngeren Arbeiten größere Beachtung (vgl. u.a. Contre-ras 1985; Wong-opasi 1994).5 Insbesondere (frühe) transformationelle Analysen setzen eine indikativische Verbalform zumindest tiefenstrukturell voraus (vgl. Gather 2001: 91).

Die Verbalthemathese, also die Auffassung, bei der verbalen Komponente handle es sich um einen reinen Verbalstamm ohne jegliche Flexion, ist fast so alt wie die Imperativthese (Bork 1990: 28 nennt als ersten Vertreter Pott (1836)). Sie hat in der Forschung ebenfalls breite Zustimmung gefunden (vgl. u.a. Coseriu 1977; RAE 1973: 78; Bauer 1980: 223;).

Im Folgenden werden in Anlehnung an Gather (2001) zunächst formale Kriterien des ver-balen Paradigmas herangezogen. In einem zweiten Schritt werden die morphologischen Implikationen der Indikativ-These dargelegt.

Die Tabellen 2-4 geben einen Überblick über die Formidentitäten und –divergenzen für die jeweiligen Konjugationsklassen des Spanischen, Italienischen und Französischen in der dritten Person Singular Präsens Indikativ in Bezug zum entsprechenden Verbalthema.

5 Zu den frühen Vertretern dieser Hypothese zählen u. a. Menéndez Pidal (1904) und Tollemache (1945).

Tab. 2 Formidentitäten und -divergenzen zwischen konjugierten Formen und Verbalthema der ersten Konjugation (Gather 2001: 96)

1. Konjugation Italienisch Spanisch Französisch

VNK LANCIAFIAMME LANZALLAMAS LANCE-FLAMME

Indikativ Präsens 3.Pers.Sg.

LANCIA LANZA LANCE

Verbalthema LANCIA- LANZA- LANCE-

Tab. 3 Formidentitäten und -divergenzen zwischen konjugierten Formen und Verbalthema der zweiten Konjugation (Gather 2001: 96)

2. Konjugation Italienisch Spanisch Französisch

VNK ROMPIGHIACCO ROMPEHIELOS ABAT-JOUR

Indikativ Präsens 3.Pers.Sg.

ROMPE ROMPE ABAT

Verbalthema ROMPE- ROMPE- ABAT-

Tab. 4 Formidentitäten und -divergenzen zwischen konjugierten Formen und Verbalthema der dritten Konjugation (Gather 2001: 96)

3. Konjugation Italienisch Spanisch Französisch

VNK APRISCATOLE ABRELATAS OUVRE-BOÎTE

Indikativ Präsens 3.Pers.Sg.

APRE ABRE OUVRE

Verbalthema APRI- ABRI- OUVRI-

Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass sich zwischen den einzelnen Sprachen Unterschie-de erkennen lassen. Die Daten Unterschie-des Italienischen legen die Verbalthemathese nahe. Die in

der dritten Konjugation erscheinende Verbform APRI des VNK stimmt mit dem Verbalthe-ma und nicht mit der flektierten Form überein. In der zweiten Konjugation stimmt die im VNK erscheinende Form ROMPI weder mit der flektierten Form noch mit dem Verbalthema

ROMPE(-) überein. Diese Abweichung lässt sich insofern erklären, als auch bei derivationel-len Prozessen in der zweiten Konjugation Hebungen des Themavokals zu beobachten sind (vgl. Vogel & Napoli 1995; Gather 2001: 97) und die Beispiele unter (5)).

(6) Vokalanhebung in Wortbildungsprozessen des Italienischen (a) ROMPERE ROMPIMENTO

(b) RIPETERE RIPETIZIONE

(c) LEGGERE LEGGIBILE

Diese Daten machen die Annahme einer morphophonologische Adjustierungsregel / Stammalternation plausibel, welche die Vokalanhebung in Wortbildungsprozessen be-schreibt. Vogel & Napoli (1995: 370) postulieren in diesem Sinn eine „phonological read-justment rule […] to account fort he fact that in the second conjugations verbs we find an -i instead of -e.” Die Regel kommt jedoch nur bei einem hohen Themavokal zum Tragen und auch nur dann, wenn auf den Themavokal keine Flexionselemente folgen. Letzteres soll durch eine Beschränkung abgebildet werden, die besagt, dass wenn auf den Thema-vokal Y weitere Elemente folgen, das Resultat immer noch ein morphologischer Stamm (stem) sein muss und keine voll flektierte Form sein darf (vgl. Abb. 1), da die Vokalanhe-bung nur im Fall der Wortbildung zu beobachten ist.

Abb.1 Vokalanhebung nach Vogel & Napoli 1995: 370 [+syll, -low] [+high] / X]v root__]stem Y]stem

Eine flektierte Form als Basis derivationeller Prozesse erscheint damit unwahrscheinlich und die Verbalthemathese ist für die italienischen VNK problemlos motivierbar bzw. die-jenige These, die den sprachlichen Fakten am besten gerecht wird.

Die französischen Daten legen auf den ersten Blick einen davon abweichendes Ergebnis nahe, da sie schwieriger mit der Verbalthemathese zu vereinen sind. In den ersten beiden

Konjugationsklassen sind alle drei Formen identisch (LANCE / ABAT), so dass daraus prinzipi-ell weder Argumente für die eine noch für die andere These anhand des Verbalparadig-mas gezogen werden können. Die verbale Form des VNK der dritten Konjugation OUVRE ist identisch mit der flektierten Form und nicht mit der des Verbalthemas OUVRI. Allerdings muss angemerkt werden, dass die Verben der dritten Konjugation bei der Bildung der VNK nur eine untergeordnete Rolle spielen, wirklich reihenbildend sind lediglich die Ver-ben OUVRIR und COUVRIR (vgl. Gather 2001: 98; Picone 1996: 270). Gather bemerkt weiter-hin, dass der Themavokal bei diesen Verben abgesehen von den Formen des Subjonctif Imparfait und Passé Simple überhaupt nur im Infinitiv in Erscheinung tritt, was dafür spräche „dass bei der Bildung von VNK eine Reanalyse des Verbalstamms nach dem mo-dellbildenden Muster der 1. Konjugation stattgefunden hat“ (Gather 2001: 98). Weiterhin lässt sich anführen, dass die phonologische Erosion innerhalb des französischen Verbal-systems dazu geführt hat, dass Verbklassenmarker im Vergleich zum Spanischen und Itali-enischen weitestgehend verschwunden sind und das Schwa, sofern überhaupt vorhan-den, als „Stützvokal“ fungiert (Gather 2001: 99). Desmets & Villoing (2009) postulieren dementsprechend eine phonologische Stammalternation für das Französische: „The verb lexeme SOUTENIR, for example, has at least two stems / sut n/ and /sut / [sic!]; the rule selects for the [one], which is also used to form the present singular” (Desmets & Villoing 2009: 95).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für das Französische gilt, dass es keine eindeutige Argumentation weder für die Indikativ- noch für die Verbalthemaanalyse zulässt. In den ersten beiden Konjugationen, wovon die erste die große Mehrheit der verbalen Basen für VNK stellt, sind die Formen homophon. In der dritten Klasse erhalten wir eine Abwei-chung vom verbalen Stamm und müssen gleichzeitig feststellen, dass es nur wenige Ver-ben in dieser Klasse gibt, die reihenbildend für die VNK fungieren, wobei zusätzlich der Themavokal bei diesen Verben nur an wenigen Stellen innerhalb des Verbalparadigmas auftaucht.

Am schwierigsten mit der Verbalthemathese zu vereinbaren sind die spanischen Daten, da in der dritten Konjugation die in den VNK erscheinende Verbform ABRE mit der indikati-ven Form ABRE identisch ist und nicht mit dem Verbalthema ABRI-. Auch lassen sich hier keine alternativen Erklärungen im Sinne einer stringent operierenden Lowering-Regel

äquivalent zum Italienischen anführen. Die Basis derivationeller Prozesse ist der verbale Stamm ohne Vokalalternanz (vgl. Gather 2001: 100):

(7) verbale Basis in Wortbildungsprozessen des Spanischen (a) ABRIR ABRIMIENTO

(b) FINGIR – FINGIMIENTO

Auch können keine Produktivitätsgefälle oder phonologischen Erosionen wie im Französi-schen geltend gemacht werden.

Betrachtet man die Verbalparadigmen der einzelnen Konjugationsklassen als Ganzes für das Spanische im Präsens (Tab. 5), lässt sich allerdings eine andere Beobachtung treffen.

Tab. 5 Spanische Flexionsparadigmen für die erste, zweite und dritte Verbalkonjugation

Die dritte Konjugation im Spanischen ist die einzige Konjugationsklasse, die im Verbalpa-radigma der Präsenskonjugation keinen einheitlichen, sondern einen alternierenden Stammvokal aufweist, so dass plausibel motiviert werden kann, dass Verben der dritten Konjugationsklasse nicht nur im Rahmen der Verbalflexion, sondern auch für die Wortbil-dung Stammalternationen aufweisen.

Gather nimmt ebenfalls an, dass eine Stammalternation innerhalb der 3. Konjugation vor-liegt, da in der dritten Person Singular Präsens Indikativ kein weiteres Flexionsmorphem an den Stamm hinzutritt und lediglich das Verbalthema eine phonologische Matrix hat. Er

2. Konj. Präsens 1.Pers.Sg. ROMPO

2.Pers.Sg. ROMPES

3.Pers.Sg. ROMPE

1.Pers.Pl. ROMPEMOS

2.Pers.Pl. ROMPÉIS

3.Pers.Pl. ROMPEN

3. Konj. Präsens 1.Pers.Sg. VIVO

2.Pers.Sg. VIVES

3.Pers.Sg. VIVE

1.Pers.Pl. VIVIMOS

2.Pers.Pl. VIVÍS

3.Pers.Pl. VIVEN

1. Konj. Präsens 1.Pers.Sg. LANZO

2.Pers.Sg. LANZAS

3.Pers.Sg. LANZA

1.Pers.Pl. LANZAMOS

2.Pers.Pl. LANZÁIS

3.Pers.Pl. LANZAN

nimmt für das Spanische im Bereich der Wortbildung eine e/i-Alternanz des Themavokals in der dritten Konjugation an und zieht Daten aus dem Altokzitanischen, Altkatalanischen (vgl. (8)) und dem modernen Katalanisch (vgl. (9)) hinzu. In diesen Sprachen taucht ein und dasselbe an der Bildung von VNK beteiligte Verb mal mit dem Themavokal –i mal mit –e auf.

(8) e/i-Alternanz des Themavokals im Altkatalanischen

(a) COBRIBANC (d)COBRELLIT

(b) COBRIPEXES (e)COBRECALZE

(c) COBRICOFRE (f)COBREATZEMBLA

(9) e/i-Alternanz des Themavokals im modernen Katalanisch

(a) COBRICEL (d)COBREMISSAL

(b) COBRIBANC (e)COBREPEUS

(c) COBRIBUFET (f)COBREPATENA

Da die dritte Person Singular Indikativ Präsens zudem COBREIX lautet, aber keine VNK Typ

*COBREIXPLATS oder *COBREIXCALZE existieren, scheint im Katalanischen eine Unterscheidung zwischen Verbalthema und Indikativform möglich (vgl. Gather 2001: 100).

Auch wenn sich keine eindeutige Evidenz aus den Verbalparadigmen des Spanischen und des Französischen zugunsten der Verbalthemathese ergibt, so gibt es zumindest mögliche alternative Erklärungen, die die Abweichung der verbalen Form innerhalb des Komposi-tums vom Verbalthema auch jenseits der Indikativhypothese rechtfertigen lässt. 6

Einwände gegen die Indikativhypothese lassen sich besonders dann erheben, wenn man bedenkt, welche Implikationen eine flektierte (Verbal-)Form innerhalb einer komplexen nominalen Einheit hätte. Damit würden nämlich verbale temporale, modale und vor allem

6 Gather (2001: 102) verweist weiterhin unter Bezug auf Wagner (1946-47) auf das Sardische, für das ver-stärkt die Verbalthemathese plausibel erscheint, da dort in der dritten Person Singular Indikativ Präsens auslautendes lateinisches –t erhalten bleibt, aber nicht in den VNK reflektiert wird. Wenn die verbale Kon-stituente in den sardischen VNK eine indikative Form wäre, müsste ein aus [ko ere] ‚kochen, braten’ und [petta] ‚Fleisch’ gebildetes VNK entweder [ko e e etta] oder [ko eppetta] mit entweder paragogischem Vokal oder intervokalischer Sonorisierung bzw. Assimilation des flexivischen /t/ an den Anlautkonsonanten von [petta] lauten. Die einzig mögliche Form ist aber [ko e etta] (cf. Gather 2001: 102).

Kongruenzmerkmale innerhalb eines Nomens in Kauf genommen und es gibt keine Evi-denz dafür, dass die morphologische Struktur der VNK funktionale Kategorien enthält.

Von verschiedenen Seiten ist angeführt worden, dass, wenn die VNK in der Tat eine flek-tierte Verbform enthalten sollte, Numeruskongruenz zu erwarten sei (Gather 2001: 104;

Varela 1990: 60; Clements 1992: 161). Diese resultiert jedoch in ungrammatischen Struk-turen (vgl. (10)).

(10) Italienisch (a) L’ASCUIGAMANO

(b) GLI *ASCIUGANOMANO /*ASCIUGANOMANI

Spanisch

(c) ELSACACORCHOS (d) LOS *SACANCORCHOS

Sollten tatsächlich verbale funktionale Merkmale innerhalb der VNK vorhanden sein, müsste weiterhin geklärt werden, warum diese dann nicht im Sinn einer syntaktischen Verbalphrase ggf. Adjunkt- oder Subjektpositionen besetzen können. Darüber hinaus bliebe offen, wie sich in einem modular organisierten und regelbasierten Modell eine IP oder VP innerhalb einer nominalen Einheit (lexikontheoretisch) rechtfertigen lässt (vgl.

auch Kapitel 2 und 5).

Insgesamt ist festzuhalten, dass sich keine der beiden Thesen anhand der verbalen Para-digmen, außer vielleicht mit Ausnahme des Italienischen, eindeutig klären lässt. Allerdings finden sich gute Gründe, die die Annahme einer Indikativhypothese entkräften. Die for-male Übereinstimmung der verbalen Konstituente mit der Indikativform im Fall des Fran-zösischen kann als Stammalternation oder aufgrund eines massiven Produktivitätsgefälle zwischen erster und dritter Konjugation als Analogiebildung zur ersten Konjugation ver-standen werden. Diese Annahme wird prinzipiell durch den phonologischen Verlust der französischen Verbalklassenmarker unterstützt. Das Spanische weist im Paradigma der dritten Konjugation selbst Stammalternanz auf, sodass die Übereinstimmung der verbalen Basis der VNK in der dritten Konjugation nicht zwingenderweise als Indikativ, sondern

genauso gut als Alternanz des Stammvokals verstanden werden kann. Die Vorhersagen, die eine flektierte Verbalform innerhalb eines nominalen Elements treffen würde (z. B.

Numeruskongruenz und komplexe Phrasen innerhalb eines Worts), werden darüber hin-aus von den Daten nicht erfüllt.