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Die imperiale Strategie

Im Dokument DER SCHMALE GRAT DER HOFFNUNG (Seite 87-117)

Bei meiner einzigen Begegnung mit Henry Kissinger musste ich – ich gestehe es – gegen ein Gefühl der Sympathie ankämpfen.

Das war an einem heißen Juliabend des Jahres 1998 auf den Genfer Quais, im großen Saal des Untergeschosses des Hotels Président Wilson. Luxuriöses Ambiente, tiefe Teppichböden. Kissinger war von Professor Curt Gasteyger eingeladen worden, dem Direktor des Programms für strategische und sicherheitspolitische Studien des Genfer Hochschulinstituts für internationale Studien. Kissinger kommentierte die Weltsituation, beantwortete Fragen und mischte sich später zwanglos unter die handverlesenen Cocktailgäste, die seinem Vortrag gelauscht hatten.

Der erstaunlich kleine Mann trug einen eleganten maßgeschneiderten Anzug und eine himmelblaue Krawatte. In seinen Augen hinter den dicken Brillengläsern lag ein Ausdruck von wacher Intelligenz und Ironie. Mit spöttischem Lächeln musterte er die gelehrte Versammlung von UNO -Funktionären, Wissenschaftlern und Schweizer Würdenträgern, die sich um ihn versammelt hatten. Er sprach das »Newyorkisch« mit starkem deutschen Akzent. Damals war er fünfundsiebzig und sprühte vor Vitalität, Gesundheit und Lebensfreude.

Seine Analyse der Weltsituation setzte sich aus einer Folge von Anekdoten zusammen, die seine Bravourstücke, seine Begegnungen, seine – natürlich samt und sonders in Erfüllung gegangenen – Prophezeiungen ins beste Licht rückten.

Ausgeschmückt wurden diese Geschichten mit Porträts seiner Gesprächspartner: » en I said to Mao Zedong … (Dann habe ich zu Mao gesagt …)« »Sein Gesicht war aufgedunsen, er war müde, und schon bald fragte ich mich, ob er mir überhaupt zuhörte …«

Seine Zuhörer waren bezaubert, hingerissen, sprachlos vor Bewunderung.

An diesem Abend bot Henry Kissinger ein seltsames Schauspiel, eine Mischung aus Überheblichkeit und Humor, aus dem Furor, unbedingt zu überzeugen, und einem Übermaß an Eitelkeit.

Einige Tage vor dem Cocktailempfang im Hotel Président Wilson las ich die folgende Anekdote in der amerikanischen Zeitschrift e Atlantic. Dieses Mal war Henry Kissinger in einen Damenclub der New Yorker High Society eingeladen. Am Ende seines geostrategischen Vortrags kam eine makellos frisierte und mit Juwelen behängte Dame zitternd auf ihn zu. Mit einer vor Aufregung erstickten Stimme sagte sie zu ihm: »Doctor Kissinger, I want to thank you for saving the world (Doktor Kissinger, ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie die Welt retten).« Der Weltenretter antwortete: »Gern geschehen, Madam.«

Als Gegner einer multilateralen Diplomatie vertritt Kissinger die imperiale eorie und Strategie. Das belegen seine politische Praxis und sein wissenschaftliches Werk.

1957 verö entlichte Henry Kissinger, der künftige sechsundfünfzigste Außenminister der Vereinigten Staaten, seine Dissertation unter dem Titel: A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–1822.65 Darin entwickelte er seine imperiale eorie, die er in der Folge in die Tat umsetzte, von 1969 bis 1975 zunächst als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats, von 1973 bis 1977 dann als Außenminister. Seine zentrale ese: Die multilaterale Diplomatie stiftet nichts als Chaos. Die unbedingte Beachtung der Selbstbestimmung der Völker und der Souveränität der Staaten ist keine Garantie für den Frieden. Nur eine globale Macht besitzt die materiellen Mittel und die Fähigkeit, in Krisenzeiten überall und unverzüglich einzugreifen. Sie allein, so Kissinger, vermag den Frieden zu erzwingen.

Jesse Helms war von 1995 bis 2001 Vorsitzender des ein ussreichen außenpolitischen Ausschusses im Senat. Seine Äußerungen erinnern an Kissinger: »Wir stehen im Mittelpunkt und gedenken dort zu bleiben … Die Vereinigten Staaten müssen die Welt mittels Recht und Stärke führen, indem sie die moralische, politische und militärische Fackel vorantragen – ein

leuchtendes Beispiel für alle anderen Völker.«66

Ganz ähnlich liest es sich auch bei dem Kolumnisten Charles Krauthammer:

»Wie ein Koloss umspannt Amerika den Globus … Seit Rom Karthago zerstörte, ist keine Großmacht mehr auf solche Gipfel gelangt, wie wir sie erklommen haben.«67

omas Friedman, ehemaliger Sonderberater der Außenministerin Madeleine Albright während der Clinton-Administration, wird noch deutlicher: »Die Globalisierung kann nur gelingen, wenn sich Amerika nicht scheut, als die unbesiegbare Supermacht aufzutreten, die sie tatsächlich ist … Die unsichtbare Hand des Marktes wird niemals ohne sichtbare Faust funktionieren. McDonald kann sich nicht ausbreiten ohne McDonnel Douglas, den Hersteller der F-15. Und die sichtbare Faust, die für die weltweite Sicherheit der Technologie von Silicon Valley sorgt, heißt Heer, Luftwa e, Kriegsmarine und Marinecorps.«

Mark Aurel, der das Römische Reich im dritten Viertel des zweiten Jahrhunderts, zur Zeit seiner höchsten Blüte, regierte, brachte den gleichen Gedanken zum Ausdruck: »Imperium superat regnum« (»Das Imperium ist dem Königreich überlegen«), mit anderen Worten: Das Imperium steht über allen anderen Mächten.

Diese Hypothese bildet den Kern der imperialen eorie. Die moralische Kraft des Imperiums, seine Fähigkeit, rasch zu reagieren, sein Streben nach Gerechtigkeit, seine soziale Organisation sind Garanten der Stabilität. Nur das Imperium kann dauerhaft den Frieden zwischen den Staaten, den Völkern und den Kontinenten garantieren.

Die imperiale eorie ist tief im amerikanischen Bewusstsein verankert.

Stolz verkündet die grüne Ein-Dollar-Note: »In God we trust« (»Auf Gott vertrauen wir«).

Im Vorwort zur dritten Au age seines oben zitierten Buchs über Metternich geht Kissinger mehrfach auf den Begri der »o ensichtlichen Bestimmung«

der Vereinigten Staaten von Amerika ein. Den Ausdruck manifest destiny hat der New Yorker Journalist John O’Sullivan 1845 geprägt, um anlässlich der Annexion von Texas das »göttliche Recht« auf die unumkehrbare

Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents durch die von der Ostküste vordringenden Angelsachsen zu bekräftigen.68

Diese messianische Ideologie, nach der die amerikanische Nation den göttlichen Auftrag hat, die Demokratie und die Zivilisation zu verbreiten, hat heute nichts von ihrer Frische verloren. »O ensichtlich« sind die Amerikaner von Gott dazu berufen, den Frieden und die Gerechtigkeit auf Erden zu garantieren – und, falls nötig, auch wiederherzustellen.

Henry Kissinger besitzt immer noch großen Ein uss. 1998 hat eine Mehrheit der Staaten das Rom-Statut des Internationalen Gerichthofs (IGH) unterzeichnet. Aber Kissinger hat sich dem Prinzip dieser Institution entschieden widersetzt. Dabei haben die Vereinigten Staaten die Rati zierung des dem IGH zugrunde liegenden Statuts nicht nur abgelehnt, sondern führen auch seit fast zwanzig Jahren – von der imperialen eorie ausgehend – eine heftige Kampagne gegen ihn. Immer wieder versuchen sie – nicht selten mit Erfolg – ihre Satellitenstaaten und die Drittweltländer, die schwach sind – und daher von ihrer Entwicklungshilfe abhängen –, zu veranlassen, den IGH zu boykottieren.

Besonders bei der Lektüre eines der Bücher von Henry Kissinger läuft es mir kalt den Rücken herunter: Nuclear Weapons and Foreign Policy, Erstverö entlichung 195769, erweiterte Au age 196970. Darin erklärt Kissinger, warum die Vereinigten Staaten von Amerika als einziges Land der Welt das Recht haben, die Atombombe nach ihrem Belieben einzusetzen.

2003 besichtigte ich Hiroshima unter einem grau verhangenen Himmel.

Tuttle-Mori Agency, meine japanische Literaturagentur, hatte gerade die japanische Ausgabe der Nouveaux Maîtres du monde (dt.: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher) auf den Weg gebracht.

Ich wurde vom Bürgermeister von Hiroshima empfangen und durfte den normalerweise geschlossenen Teil des Archivs besichtigen. Dort sah ich Fotogra en, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Beispielsweise das dieser Mutter und ihrer beiden kleinen Kinder, eines Jungen und eines Mädchens, vor einem Holztisch stehend, an dem ein Polizist in Uniform sitzt. Er nimmt die Namen und Adressen der überlebenden Opfer auf. Bei der Frau hat sich

über große Teile des Körpers die Haut gelöst. Wahnsinnig vor Schmerzen umklammert sie Fetzen dieser Haut. Die Gesichter und Arme der Kinder sind teilweise verkohlt. Manchmal werde ich nachts noch heimgesucht von diesem Foto einer Begegnung zwischen einer grauenhaft stupiden Bürokratie und dem unendlichen Leid, das Menschen zugefügt wird.

Hiroshima war kein Marine- oder Luftwa enstützpunkt, es hatte weder eine Festung noch einen größeren Rüstungsbetrieb, es war eine ganz gewöhnliche Stadt. An diesem Morgen des 6. August 1945 um 8 h:14 min: 2 sec wurden dort mehr als 200000 Frauen, Männer und Kinder umgebracht und weitere Zehntausende verbrannt, verstümmelt und verwundet.

Drei Tage später, am 9. August, wurde eine weitere Stadt vom nuklearen Feuer verschlungen und verstrahlt: Nagasaki. Rund 100000 Tote und fast ebenso viele Verwundete.

Der Mann, der diese Massaker angeordnet hatte, hieß Harry Truman, ein blasser, durchschnittlicher ehemaliger Kommunalpolitiker aus Missouri. Als Vizepräsident der Vereinigten Staaten war er kurz zuvor Franklin D.

Roosevelt im Amt gefolgt, nachdem dieser am 12. April 1945 gestorben war.

Roosevelts Persönlichkeit hatte Truman traumatisiert. Er war entschlossen, aus dem Schatten seines Vorgängers herauszutreten. Unbedingt wollte er seine imperiale Entschlossenheit unter Beweis stellen, indem er durch die Atombombe ganze Städte mit Hunderttausenden von Einwohnern von der Landkarte tilgte.

Daraufhin fabrizierten die imperialen amerikanischen Geschichtsschreiber eine Lüge: Der Massenmord an den Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki sei notwendig gewesen, um Japan zur Kapitulation zu zwingen. Tatsächlich kapitulierte Japan am 15. August. Doch Dwight D. Eisenhower, der ehemalige Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte in Europa, schrieb in seinen Memoiren, Japan sei Ende Juli 1945 militärisch besiegt gewesen, und es habe keinen zwingenden strategischen Grund gegeben, der diesen Massenmord rechtfertige: »Japan suchte zu diesem Zeitpunkt nach einer Möglichkeit, sich zu ergeben, ohne vollkommen das Gesicht zu verlieren … Es war nicht notwendig, diese schreckliche Wa e einzusetzen.«71

Ganz ähnlich schreibt Admiral William Leahy, Chef der Vereinigten Stabschefs, in seinen Erinnerungen I was there (1950): »Die Japaner waren besiegt und bereit, sich zu ergeben. Der Einsatz dieser barbarischen Wa e in Hiroshima und Nagasaki hatte keinerlei praktischen Wert für unseren Kampf gegen Japan … Indem wir sie als Erste verwendeten, haben wir uns … eine mittelalterliche Barbarenmoral zu eigen gemacht. Uns hat man eine derartige Kriegsführung nicht gelehrt. Man siegt nicht, indem man Frauen und Kinder tötet.«72

Albert Einstein, der sich für die Entwicklung der H-Bombe gegen Nazi-Deutschland eingesetzt hatte, verurteilte das tatsächliche Motiv, das der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki zugrunde lag, »den Krieg im Pazi k um jeden Preis vor dem Eingreifen Russlands zu beenden. Ich bin mir sicher, dass nichts dergleichen unter der Präsidentschaft von Roosevelt möglich gewesen wäre. Er hätte einen solchen Akt verboten.«73

Als erster amerikanischer Außenminister hat John Kerry Hiroshima, die Stadt des unsäglichen Martyriums, besichtigt und am 10. April 2016 am Fuß des »Genbaku-Doms«, des einzigen Gebäudes, dessen Grundstrukturen nach dem Abwurf der Bombe erhalten geblieben waren und das heute ein Friedensdenkmal ist, eine Rede gehalten, in der er bewegende Worte fand.

Aber er weigerte sich, eine Entschuldigung im Namen der Vereinigten Staaten auszusprechen. Barack Obama, der im Mai 2016 als erster Präsident diesen Ort besichtigte, verhielt sich nicht anders.

Nach allen Kriterien des internationalen Rechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts ist Henry Kissinger ein Kriegsverbrecher. Einer der schlimmsten seiner Generation.

Während des Jahrzehnts von Ende 1960 bis Ende 1970 war er der Hauptverantwortliche für die militärischen Staatsstreiche in Lateinamerika und der treueste und tüchtigste Beschützer der blutrünstigen Diktaturen, die in dieser Zeit entstanden. Vor allem erwies er sich als ein wichtiger Unterstützer der Operation Condor. Diese Organisation koordinierte die kontinentale Zusammenarbeit zwischen den Geheimdienstagenten und Polizisten der verschiedenen Diktaturen. Tausende von Demokraten, Männer

und Frauen, unter ihnen auch mein ehemaliger Student Alexis Jaccard, starben in den Folterkammern der Operation Condor.74

Im November 1971 wurde Salvador Allende, Kinderarzt, Sozialist und Chef der Unidad Popular (Volkseinheit), einer umfassenden Einheitsfront fortschrittlicher Parteien und Bewegungen, zum Präsidenten Chiles gewählt.

Er verstaatlichte die Kupferminen und entwickelte ein detailliertes Programm der Sozialhilfe für die ärmsten Menschen des Landes. In Abstimmung mit den multinationalen Privatkonzernen, vor allem General Electric, und mithilfe der amerikanischen Geheimdienste betrieb Kissinger die Organisation einer Reihe von ächendeckenden Streiks, um die chilenische Wirtschaft zu sabotieren und, wenn möglich, zu zerstören.

Chile ist ein herrliches Land – »schmal wie ein Schwert«, schrieb Pablo Neruda75 –, das sich zwischen den Anden und dem Pazi k über eine Länge von mehr als 2000 Kilometern hinzieht. Der Transport auf der Straße ist von entscheidender Bedeutung.

Im April 1973 traten die Lkw-Fahrer sechs Wochen lang in Streik und legten das Land lahm. Im selben Monat fanden die Kommunalwahlen statt.

Trotz der dramatischen wirtschaftlichen Situation, infolge der von Kissinger koordinierten Sabotage, wählte die Bevölkerung mit großer Mehrheit die Unidad Popular.

Ich erinnere mich an einen kühlen Nachmittag im Mai 1973; wir befanden uns im Salon einer kleinen Villa im Viertel Tomás Moro – dem Privathaus von Salvador Allende. Der Präsident saß in einem Kolonialsessel mit hoher Lehne. Auf dem Teppich neben ihm lag, misstrauisch und wachsam, sein Hund, ein deutscher Schäferhund. Vor der o enen Tür führten zwei Leibwächter eine halblaute Unterhaltung, junge Männer, die der MIR

(Movimento de la Izquierda Revolucionaria – Bewegung der revolutionären Linken) angehörten. Ich war Teil einer vierköp gen Delegation der Sozialistischen Internationalen unter Führung von Bruno Kreisky, dem österreichischen Bundeskanzler und Vizepräsidenten der Internationalen.

Hinter den hohen Fenstern zeichneten sich die schneebedeckten Andengipfel ab. Die Sonne war in einem rosa Himmel versunken. Allende

hatte seine Analyse beendet. Er schwieg. Plötzlich leuchteten seine grauen Augen. Er richtete sich in seinem Sessel auf und sagte: »Wir erleben ein stilles Vietnam.«

Er umarmte Kreisky und schüttelte uns die Hand.

O ensichtlich produzierte das »stille Vietnam« nach Kissingers Ansicht nicht das erho te politische Resultat. Was die Aprilwahlen bewiesen.

Daraufhin veränderte er seine Strategie und verlegte sich aufs Morden. Am Morgen des 11. September 1973 bombardierte die chilenische Luftwa e den Präsidentenpalast La Moneda: Allende war eben aus Tomás Moro eingetro en, begleitet von zwei Fiats voller junger Leute der MIR.

Karabinieri – Militärpolizisten – und Elitetruppen umzingelten den Platz der Verfassung. Ein ganzer Flügel und das halbe Dach des Präsidentenpalastes standen in Flammen. Einen Helm auf dem Kopf und eine Maschinenpistole in der Hand hatte sich Salvador Allende in sein Büro im zweiten Stock zurückgezogen.

Der Mann, der den Angri befehligte, hieß Augusto Pinochet, ein Infanteriegeneral, der seine militärische Ausbildung in der amerikanischen Zone von Panama absolviert hatte und ein großer Bewunderer Kissingers war.

Pinochet schlug Allende sicheres Geleit nach Mexiko und eine beträchtliche Geldsumme vor. Kissinger wollte keinen Märtyrer. Allende lehnte ab. Wenig später, am Dienstag, dem 11. September 1973 um 14 Uhr, war er tot.

Zwei Jahre lang – 1974/75 – untersuchte eine Sonderkommission des amerikanischen Senats die Ereignisse in Chile. Sie gelangte zu dem Schluss, Kissinger sei für den Putsch direkt verantwortlich gewesen.

Ein anderes Beispiel für die imperiale Strategie, wie sie damals von dem furchtbaren Außenminister praktiziert wurde: Osttimor ist eine ehemalige portugiesische Kolonie, die den Ostteil einer Insel des indonesischen Archipels einnimmt. 1974, zur Zeit der Nelkenrevolution in Portugal, verkündete die

FRETILIN, die wichtigste Unabhängigkeitsbewegung des Landes, die Souveränität Osttimors. Indonesien, das damals unter der Diktatur von General Suharto lebte, weigerte sich, diese Unabhängigkeit anzuerkennen.

Von Kissinger aufgestachelt und militärisch unterstützt, ließ Suharto

postwendend seine Truppen in Osttimor einmarschieren und legte damit den Grundstein zu einer langen Phase des Widerstands der FRETILIN und extremer Gewalt vonseiten der Besatzer.

Die Elitetruppen Suhartos begingen entsetzliche Verbrechen. Tausende timoresische Familien, die sich in Kirchen ge üchtet hatten, wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Durch Vergiftung der Brunnen dezimierten die Soldaten die Bergbauern. In der Hauptstadt Dili kam es zu Massenmorden.

Suharto organisierte umfangreiche Deportationen.

Nach dem Sturz Suhartos im Jahr 1998 fand schließlich am 30. August 1999 ein Referendum unter Aufsicht der UNO statt. Eingliederung in die Republik Indonesien oder Unabhängigkeit? Mit der überwältigenden Mehrheit von 78,5 Prozent der Stimmen entschieden sich die Timorer für die Unabhängigkeit. Augenblicklich häuften sich die Gräueltaten, organisiert und geführt von der indonesischen Armee. Am Ende musste die UNO in Osttimor internationale Truppen stationieren und dann die Verwaltung des Gebietes selbst übernehmen.

Von den knapp eine Million Bewohnern haben die indonesischen Soldaten während dieser Zeit mehr als 200000 Frauen, Männer und Kinder umgebracht.76

Angesichts der Plünderungen, der Deportationen und der Massaker, die kurz nach dem Referendum verübt wurden, schrieb Noam Chomsky: »Weder Bomben noch Sanktionen waren notwendig, um die Massaker zu stoppen: Es hätte genügt, dass Washington und seine Verbündeten ihre aktive Teilnahme an dieser Politik eingestellt und ihren Partnern im indonesischen Oberkommando mitgeteilt hätten, dass die Gräueltaten aufhören müssen … Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen zumindest unser Unrecht einsehen, zu unserer moralischen Verantwortung stehen, um zu retten, was zu retten ist, und den Opfern großzügige Entschädigungen anbieten. Natürlich wird eine solche Geste die schrecklichen Verbrechen nicht ungeschehen machen.«77

Rufen wir uns schließlich ins Gedächtnis, wie grauenhaft sich die Gewalttätigkeit und Unmenschlichkeit der imperialen Strategie Amerikas in

Vietnam o enbart haben. Bei dieser Gelegenheit machte Kissinger sich zum Komplizen der schlimmsten Verbrechen der amerikanischen Politik im 20.

Jahrhundert. Das gilt besonders für den ersten Weihnachtstag 1972, als B-52-Bomber in Haiphong und Hanoi Wohnviertel, Krankenhäuser und Schulen in Flammen aufgehen ließen und dadurch den Tod und die Verstümmelung Zehntausender von Menschen verursachten.

Außerdem ist Kissinger der Er nder der Strategie, die als »Operation Ranch Hand« bezeichnet wurde. Da sich die vietnamesischen Widerstandskämpfer vor allem in den dichten Wäldern im Süden und Westen des Landes versteckten, galt es, diese Baumbestände zu zerstören. Zehn Jahre lang versprühten die amerikanischen Flugzeuge Hunderttausende von Tonnen des dioxinhaltigen Herbizids »Agent Orange« und vergifteten damit Boden und Flüsse der Region auf Generationen hinaus. Fünfzig Jahre danach werden in den Dörfern und Städten Vietnams noch immer Kinder mit entsetzlichen Missbildungen, Hirnschäden und weiteren schwersten körperlichen Beeinträchtigungen geboren, dazu verurteilt, am Rand der Gesellschaft zu leben.

Am Ende des Cocktailempfangs, der uns in Genf zusammengeführt hatte, verließ Henry Kissinger – lächelnd und voller Bewunderung für sich selbst – den prachtvollen Saal des Hotels Président Wilson. Auf dem Quai stieg er in ein Fahrzeug des Konvois gepanzerter Cadillacs, das ihn nach Pregny entführte, wo sich hinter einer fünf Meter hohen Mauer, Wachtürmen und Stacheldrahtrollen die Botschaft der Vereinigten Staaten erhebt. Da nie ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde, hatte natürlich kein Schweizer Bundes- oder Kantonspolizist die Weisung, ihn aufzuhalten.

Ein Teil seines Publikums war ihm auf die Quais gefolgt. Als sich der Cadillac an der Spitze in Bewegung setzte, brachen die Genfer in begeisterten Beifall aus.

2016 ist Henry Kissinger dreiundneunzig Jahre alt. Vermutlich wird er geehrt, reich und friedlich in seinem Bett sterben.

New York ist eine absolut faszinierende Stadt. Ich habe dort Ende der fünfziger Jahre gelebt. Zunächst am Riverside Drive, wo ich der Untermieter von Elie Wiesel war. Aus dieser Nachbarschaft ist eine tiefe Freundschaft geworden. Später habe ich in Greenwich Village gelebt, im Untergeschoss eines roten Ziegelbaus an der Ecke Charles Street und Houston Street.

Tagsüber arbeitete ich in der Anwaltskanzlei von Mr. Hafner, abends studierte ich an der Columbia University.

Seit ich im Jahr 2000 in die UNO berufen wurde, kehre ich sehr häu g nach New York zurück. Meine Faszination hat nicht nachgelassen. Die politischen

Seit ich im Jahr 2000 in die UNO berufen wurde, kehre ich sehr häu g nach New York zurück. Meine Faszination hat nicht nachgelassen. Die politischen

Im Dokument DER SCHMALE GRAT DER HOFFNUNG (Seite 87-117)