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III Genforschung und Künstliche Intelligenz

Im Dokument Öffentliche Vernunft? (Seite 102-105)

Im März 2018 veröffentlichte die New York Times einen Beitrag des Genforschers David Reich von der Harvard Universität, in dem er zu einer öffentlichen Dis-kussion seiner Forschungsergebnisse aufruft. Die von ihm angestellten Analysen

„alter DNA“aus historischen Knochenfunden deuten darauf hin, dass, anders als bisher angenommen, sehr wohl relevante genetische Differenzen nicht nur zwi-schen Individuen, sondern auch zwizwi-schen Gruppen von Menzwi-schen bestehen, die verschiedenen über tausende von Jahren getrennten Genpools entstammen.⁹ Solche genetischen Differenzen korrelieren mit erhöhten Krankheitsrisiken, län-geren durchschnittlichen Ausbildungszeiten, einer späteren Familiengründung und einem besserem Abschneiden bei Intelligenztests. Reich nennt mehrere Studien, die ebenso wie seine eigenen Arbeiten mit neuartigen Methoden der DNA-Sequenzierung durchgeführt wurden und solche Ergebnisse bestätigen.

Ohne eine offene Diskussion dieser neueren Forschungsergebnisse, die den seit den 1970er Jahren in der Genforschung bestehenden Konsens über die weitge-hende statistische Irrelevanz von genetischen Differenzen zwischen Menschen-gruppen in Frage stellen, fürchtet Reich, könnten seine Resultate rassistischen

Zum Stand der Diskussion siehe z.B. die Beiträge in Lukas H. Meyer et al. (Hg.),Ethical Per-spectives,Special Issue: Ethics and Risks, 25, 2018.

David Reich,Who we are and how we got here, Oxford 2018.

Stereotypen neuen Auftrieb geben. Auch wenn, wie Reich betont, die genetischen Differenzen zwischen den Geschlechtern viel tiefgreifender sind als die zwischen Menschengruppen und die Unterschiede zwischen Individuen um ein vielfaches größer sind als die durchschnittlichen zwischen Menschengruppen, lassen die neueren Forschungsergebnisse eine Diskussion über die wissenschaftliche Basis des ethischen Postulats der Gleichheit aller Menschen befürchten. Reich fordert deshalb einen öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs über die aktuelle Genfor-schung, und auch darüber, wie grundsätzlich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung umzugehen sei.¹⁰

Die für liberale Demokratien bestimmende Ethik gleicher Rechte und Chan-cen beruht auf dem Postulat einer elementaren Gleichheit aller Menschen.„Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“heißt es im ersten Artikel der französischen Menschenrechtserklärung von 1789. Darin steckt zugleich eine oberste Norm der politischen Ethik–die Forderung einer Gleich-behandlung aller Menschen in grundlegenden rechtlichen Fragen – und eine Wirklichkeitsbeschreibung. Dies bedeutet nicht, bestehende Unterschiede hin-sichtlich der Anlagen, Fähigkeiten und Interessen von Menschen zu leugnen. Es geht auch nicht darum, Ungleichbehandlung pauschal zu verbieten und schen in allen Angelegenheiten gleich zu behandeln. Schließlich haben Men-schen auch verschiedene Interessen und Bedürfnisse. Das Credo des liberalen Egalitarismus ist es aber sehr wohl, alle Menschen gleichermaßen zu achten und ihren Rechten und Interessen die gleiche unparteiische Beachtung zu schenken.

Diese von der egalitären Ethik geforderte Gleichbehandlung in grundlegen-den Fragen würde unterminiert, wenn statistisch signifikante genetische Unter-schiede zwischen Menschen und Menschengruppen so gedeutet werden, dass bestimmte Menschen oder Menschengruppen keine gleiche Berücksichtigung verdienen oder dass diese Menschen nicht zu denen zählen, denen gleiche Rechte zugeschrieben werden können. Allerdings hat gerade Reich schon in seinem Ar-tikel in der New York Times solche Interpretationen mit Hinweis auf die viel stärkeren genetischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den Indi-viduen ausdrücklich zurückgewiesen.

Die von Reich angesprochene Problematik ist nicht auf die Populationsge-netik beschränkt. Sie betrifft ebenso andere Wissenschaften, in denen durch methodische und technische Innovationen ermöglichte neue Erkenntnisse grundlegende Aspekte unseres ethischen Selbstverständnisses in Frage zu stellen

 Zur Diskussion über Reichs Analysen und Thesen vgl. die im Wikipedia-Artikel„Who we are and how we got here“angeführte Literatur (https://en.wikipedia.org/wiki/Who_We_Are_and_

How_We_Got_Here, besucht am 30.06.2019).

scheinen. Die Gendiagnostik und molekulare Medizin sind hier ebenso zu nennen wie die Entwicklungen im Bereich der„künstlichen Intelligenz“, mit deren Hilfe unbegrenzte Datenmengen über Menschen und ihre Verhaltensweisen ausge-wertet werden können.Wissenschaftlicher Fortschritt führt hier zu Erkenntnissen über statistisch signifikante Unterschiede zwischen Menschen und Menschen-gruppen, die entweder vorher noch nicht bekannt waren oder die jedenfalls bisher keine wissenschaftlich gesicherte Basis für Prognosen und rational-kal-kulierte Entscheidungen boten.

Die neu gewonnenen Erkenntnisse und Klassifikationen sind nicht not-wendiger Weise und in jeder Hinsicht ethisch problematisch. Dies beweisen die Perspektiven einer geschlechterspezifischen und individuell adaptierten Ge-sundheitsfürsorge etwa in der Behandlung von Krebserkrankungen. Die Berück-sichtigung von genetisch erklärten Unterschieden wird durch das ethische Pos-tulat der Gleichheit aller Menschen nicht ausgeschlossen, weil die ethisch geforderte Behandlung als Gleiche die kontextspezifische Berücksichtigung re-levanter Unterschiede verlangt, insofern erst durch sie die gleiche Berücksichti-gung der gleichen Interessen und Ansprüche aller gewährleistet werden kann.

Kontrovers diskutiert wird jedoch die Klassifikation menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen, wenn die Orientierung an„statistischen Merkmalen“zu Formen der Ungleichbehandlung führt, die mit Belastungen der Betroffenen einhergehen und womöglich ihre individuellen Rechte tangieren. Zu denken ist etwa an die Praxis des Erstellens von Täterprofilen nach Gesichtspunkten der (genetisch ermittelbaren) Zugehörigkeit zu Menschengruppen: Um die Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung zu erhöhen, werden, wenn die Erhebung der indi-viduellen Unterschiede in der Handlungssituation praktisch nicht möglich ist, statistisch relevante Unterschiede zwischen Menschengruppen für polizeiliche Maßnahmen so berücksichtigt, dass Menschen, die bestimmten Menschengrup-pen angehören, z.B. häufiger polizeilich kontrolliert und befragt werden. Dann sind diese Menschen aber den damit einhergehenden Belastungen und Risiken entsprechend stärker ausgesetzt. Auch vor dem Hintergrund anderweitig frag-würdiger Polizeipraktiken ist durchaus umstritten, unter welchen Bedingungen die Praxis des Profiling legitim ist oder grundlegende Rechte der Betroffenen verletzt.¹¹

Neue Technologien scheinen auch genetisches Enhancement zu ermöglichen, also die gewollte Produktion von genetischen Unterschieden, die mit erwünschten

 Vgl. Annabelle Lever,„Racial Profiling and the Political Philosophy of Race“, in Naomi Zack (Hg.),The Oxford Handbook of Philosophy and Race, New York 2017, S. 425–35, und die dort diskutierte Literatur.

Eigenschaften von Menschen korrelieren und womöglich einen entscheidenden Einfluss auf Bildungs- und Berufschancen haben. Neben grundlegenden Fragen des Verständnisses der Gattung Mensch, der individuellen Autonomie und der Grenzen eines legitimen Paternalismus im Eltern-Kind Verhältnis steht zu be-fürchten, dass genetisches Enhancement schwierige neue Fragen der Berück-sichtigung von Unterschieden zwischen Menschen nach sich zieht, selbst wenn wider Erwarten allen Eltern genetisches Enhancement ihrer Kinder gleicherma-ßen offen stünde.¹² Eine solche Frage könnte sein: Haben Menschen, die in der Ausbildung oder im Beruf weniger gut abschneiden und deren Eltern auf gene-tisches Enhancement verzichtet haben, Anspruch auf besondere gesellschaftliche Unterstützung?

Die politische Ethik muss die Einsichten der empirischen Wissenschaften berücksichtigen. Neue Formen der wissenschaftlich-technischen Datengewin-nung und Datenverarbeitung bringen Erkenntnisse hervor, die geeignet sind, zur Grundlage–je nachdem–gerechtfertigter oder nicht gerechtfertigter Ungleich-behandlung und entsprechender gesellschaftlicher Handlungsschemata zu wer-den. Wir stehen deshalb ganz allgemein und mit Blick auf ein breites Spektrum aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen vor eben der Frage, die David Reich speziell für sein Arbeitsfeld in der Genetik formuliert hat: Welche Formen des Miteinander und welche neuen institutionellen Arrangements braucht unsere Gesellschaft, wenn sie mit Erfolg am Gleichheitspostulat einer egalitären Ethik festhalten will?

Aus sich heraus beantworten die Natur- und Technikwissenschaften diese Frage nicht. Aber auch eine rein normativ ansetzende Moralphilosophie oder Theologie allein vermag keine Antwort zu geben. Worum es geht, ist die kreative Ausgestaltung und Stabilisierung der zentralen Praktiken und Arrangements ei-ner dem Gleichheitspostulat verpflichteten Gesellschaft. Und eben diese Ausge-staltung kann nur mit einem multidisziplinären Ansatz und unter systematischer Einbeziehung der Sozial- und Kulturwissenschaften gelingen.

Im Dokument Öffentliche Vernunft? (Seite 102-105)