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Ignaz Jeitteles’ Aesthetisches Lexikon (1839)

Im Dokument Teil B: Figurationen | (Seite 52-55)

Ignaz Jeitteles (1783–1843), Kaufmann und Privatgelehrter, geboren in Prag als Sohn einer jüdischen Gelehrten- und Unternehmerfamilie, studiert Jurisprudenz in Jena und zieht dann nach Wien, wo er Teilhaber eines Handelshauses wird und als Schriftsteller und Kritiker tätig ist. Er steht der österreichischen Vormärz-Bewegung nahe und gibt zusammen mit seinem Vetter Alois Jeitteles ab 1818 die Wochenschrift Siona. Encyklopädisches Wochenblatt für Israeliten heraus. Von der Universität Jena wird ihm 1839 die Ehrendoktorwürde verliehen.3 Bekannt ist Jeitteles vor allem für sein Aesthetisches Lexikon enthaltend Kunstphilosophie, Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theater, das 1839 in zwei Bänden in Wien erscheint.4 Es enthält die Lemmata „Volkslied“, „Volksliteratur, Volkspoesie, Volksmusik“ (dieser Eintrag verweist auf „Nationalliteratur“), „Volksschauspiel“

und „Volkstheater“.5

Richter weist in A History of Poetics (2010) nach, wie stark sich Jeitteles in sei-nem Lexikon an August Wilhelm Schlegel orientiert und dass er einer der ersten ist, der Schlegels Poetik kanonisiert.6 Jeitteles’ poetologische Grundlagen bilden dem-nach Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (1801–1804), in denen Schlegel unter anderem die Unterscheidung zwischen „Naturpoesie“ und

„künstliche[r] Poesie“ begründet, aber auch, in deutlicher Opposition zu Herder, zwischen „Naturpoesie“ und „Volkspoesie“ unterscheidet,7 sowie die Wiener Vorle-sungen Ueber dramatische Kunst und Litteratur (1809–1811), in denen sich Schlegel dem Drama zuwendet und seine Theorie der Literaturkritik und literarischen Wer-tung entwickelt. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren aus Jeitteles’ Lexi-kon vor allem die Artikel „Volksschauspiel“ und „Volkstheater“.

Volksschauspiel. Jedes allgemeine zum Schauen für die große Masse berechnete Spectakel. – (Poetik). Ein dramatisches Product mit äußerem Glanz, sowohl für das Volk, als aus dem Volke, nämlich nach einem Stoffe aus dem eigenthümlichen Gebiete der Volkssage oder vaterländi-schen Historie. In diesem Sinne ist Faust, ohne metaphysische Beigabe, ein Volksschauspiel zu nennen, wie der Freischütz, das Donauweibchen ec. Volksopern [...].8

Jeitteles unterscheidet zwischen einer allgemeinen und einer speziellen poetologi-schen Bedeutung des Begriffs „Volksschauspiel“. Während spätere Definitionen meist die Drei-Aspekte-Formel bemühen, nach der das Volksschauspiel Theater für

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3 Lewald (1844a); Rieder (1974); Fischer, Cornelia (2009).

4 Jeitteles (1978).

5 Jeitteles (1978), S. 423–424.

6 Richter (2010), S. 87–88.

7 Schlegel (1884), bes. das Kapitel „Romanzen und andere Volkslieder“, S. 160–168.

8 Jeitteles (1978), S. 424. Hervorhebungen im Original durch Sperrung.

7.1 Poetologischer Fokus auf Wien | 145

das Volk, über das Volk und von dem Volk sei (Volk als Publikum, Volk als Autor und Akteur sowie Volk als Gegenstand des Schauspiels), beschränkt sich Jeitteles noch auf zwei Aspekte: „für das Volk“ im Sinne von Publikum (hier „für die große Masse“) und „aus dem Volke“, womit er jedoch nicht Volk als dramatisierten Ge-genstand meint, sondern dass das Schauspiel bei der Wahl von GeGe-genstand und Thema auf „Stoffe aus dem eigenthümlichen Gebiete der Volkssage oder vaterländi-schen Historie“ zurückgreift, also auf epische Volksliteratur oder Realgeschichte.

Jeitteles’ Rede von der „Volkssage oder vaterländischen Historie“ lässt an Schulers frühere Nennung der „Volkssagen“ in „national-religiöse[m] Gewand“ denken, die Gegenstand der Bauernspiele sind.9 Während Schuler sowohl den staatsphilosophi-schen als auch den konfessionellen Aspekt von Volkssagen hervorhebt, interessiert Letzterer bei Jeitteles nicht. Der Begriff „Volksschauspiel“ definiert sich in Jeitteles’

Verständnis vordergründig durch spezifische Themen, Stoffe und Figuren (als Bei-spiele genannt sind Faust, die Sagengestalten des Donauweibchens, dramatisiert z.B. durch Hensler, und des Freischütz, der in der gleichnamigen Oper von Carl Maria von Weber populär wird).

Von „Volksschauspiel“ unterscheidet Jeitteles das „Volkstheater“, dem er einen weiteren Eintrag widmet. Während „Volksschauspiel“ das Publikum und die Stoffe in den Vordergrund stellt, behandelt „Volkstheater“ vor allem die Gattungen und Autoren, die für ein solches als charakteristisch gelten.

Volkstheater. In dessen Ressort gehören, als Nebentheater in großen Städten zur Unterhaltung der mindern Klasse bestimmt, Possen, Zauber- und Spectakelstücke, auch Travestien, haupt-sächlich in drastischen Frescogemälden, im Volksdialekte Sitten und Gebräuche der untern Stände schildernd. Eine solche volksthümliche Schaubühne, als Fortsetzung des früher blos improvisirenden Hanswurstes, war in musterhafter Vollendung, besonders durch Hafner’s, Kringsteiners, Gleich’s, Bäuerle’s und Meisl’s treffliche Localdichtungen das Theater in der Leopoldstadt in Wien, bis es später, seine Sphäre überschreitend, hauptsächlich durch des hyperpoetischen Raimund’s allegorische Fantasiestücke seinem eigentlichen Standpuncte ent-rückt wurde.10

Possen, Zauber- und Spektakelstücke und Travestien gelten Jeitteles als typische Gattungen des Volkstheaters. Deren Stil charakterisiert er als ‚drastisch‘ und ver-gleicht ihn mit Gemälden in Freskotechnik, womit er wohl auf eine Stilistik anspielt, die von anderen oft als ‚holzschnittartig‘ beschrieben wird. Volkstheater also ist nach Jeitteles ein städtisches Phänomen von peripherer Art („Nebentheater in gro-ßen Städten“) mit spezifischem Publikum („minder[e] Klasse“), es ist definiert durch Stücke bestimmter Generizität (Possen, Zauber- und Spektakelstücke), spezifischen Stils („drastisch[]“) und spezifischer Varietät („Volksdialekt[]“). Charakteristisch sind ferner auf das Publikum bezogene Inhalte („Sitten und Gebräuche der untern

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9 Vgl. die auf S. 110–113 in diesem Buch besprochene Textstelle von Infirmus (1822), S. 693–694.

10 Jeitteles (1978), S. 424. Hervorhebung im Original durch Sperrung.

Stände schildernd“) und Autoren, die typischerweise für das Volkstheater schrei-ben. Genannt werden Philipp Hafner und Joseph Ferdinand Kringsteiner, sodann die später oft als ‚die großen Drei‘ des Wiener Volkstheaters vor Raimund bezeich-neten Alois Gleich, Adolf Bäuerle und Karl Meisl sowie der zeitgenössisch sehr prä-sente und „hyperpoetische[]“ Ferdinand Raimund. Nestroy nennt Jeitteles 1939 noch nicht. Mit der Nennung dieser Namen und des Theaters in der Leopoldstadt

„in Wien“ wird Volkstheater deutlich mit Wien verknüpft. Diese Koppelung von Wien und Volkstheater ist neu. Denn in allen bisherigen Texten und Belegen hat Wien noch nie so exemplarisch für ein Volkstheater im Vordergrund gestanden.

Jeitteles’ Artikel zeigt sich hier als früher Ausdruck für ein Phänomen, das ab etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts – also vergleichsweise spät – unter dem Schlagwort der ‚Alt-Wiener Volkskomödie‘ figurieren und ex post eine typisch wienerische Tra-dition konstituieren wird (ausführlich dazu das Kapitel 13).

Auffallend sind in Jeitteles’ Artikel entstehungs- und entwicklungsgeschicht-liche Aspekte. Drei Stufen des Volkstheaters werden angedeutet: ein Vorlauf, eine Hochphase und deren Überschreitung. Als Vorlauf gelten Jeitteles die „früher blos improvisirenden“ Hanswurstspiele; den Höhepunkt bildeten die namentlich ge-nannten Wiener Bühnendichter, welche die „volksthümliche Schaubühne [...] in musterhafter Vollendung“ repräsentierten; über diese Hochphase des Volkstheaters hinaus („seine Sphäre überschreitend“, „seinem eigentlichen Standpuncte ent-rückt“) weise der „hyperpoetische[]“ Raimund. Mit dieser Charakterisierung bezieht sich Jeitteles auf Raimunds dramatischen Stil, der von Zeitgenossen wie etwa Moritz Gottlieb Saphir als Bruch mit der Tradition empfunden wird.11

Jeitteles’ kurze Artikel gründen auf dem Wissen und auf Beobachtungen der Zeit und konturieren wesentliche Verständnisweisen von Volksschauspiel und Volks-theater, die in dieser oder ähnlicher Form bis ins 20. Jahrhundert einigermaßen stabil bleiben und sich nicht mehr sehr grundlegend verändern. Deutlich wird an ihnen auch die Schulung des Autors an Schlegel, etwa an der Aufmerksamkeit für stilistische Besonderheiten von Volkspoesie respektive ‚Naturpoesie‘ in der Gestalt von Volksschauspielen oder am literaturkritisch geschärften Blick auf das Drama im Allgemeinen.

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11 Zu Saphirs Positionen S. 294–295 in diesem Buch.

7.2 Nationaler Fokus auf die deutschen Länder | 147

7.2 Nationaler Fokus auf die deutschen Länder:

Allgemeines Theater-Lexikon (1842) von Robert Blum,

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