• Keine Ergebnisse gefunden

10. Diskussion

10.4. Zu den psychometrischen Ergebnissen

10.4.4. Zur Hypothese 2b

In der Hypothese 2b wurde angenommen, daß Patienten, die eine hohe Ausgangsdepressivität aufwiesen, auch eine stärkere Zunahme depressiver Symptome unter α-Interferonbehandlung erleben würden. Dies konnte nicht bestätigt werden. Stattdessen zeigten gerade die initial klinisch unauffälligen Patienten einen deutlich stärkeren Depressionsanstieg als die primär als

"depressiv" klassifizierten Patienten.

Dies scheint zunächst nicht nur unseren Erwartungen, sondern auch den Ergebnissen von Capuron & Ravaud (1999) zu widersprechen. Diese stellten dar, daß bei 10 mit hochdosiertem α-Interferon behandelten Melanompatienten der depressive "Effekt" der Behandlung von der initialen Stimmung abhängig gewesen sei. Tatsächlich wird diese

Behauptung durch die von ihnen publizierten Daten nicht unterstützt. So zeigen zwar die primär Depressiven auch unter Behandlung die depressivsten Werte - so wie in unserer Stichprobe auch - , doch kann man nach unserem Verständnis den depressiven "Effekt" des IFN-α nur anhand der Differenz zwischen den Werten vor und während der Behandlung ablesen und nicht an den Absolutwerten, die natürlich durch die Persönlichkeitsdisposition im voraus mit determiniert sind. Rekalkuliert man die Daten von Capuron & Ravaud, findet sich auch dort – wie bei unserer Stichprobe – eine negative Korrelation zwischen Ausgangswert und Depressivitätszunahme (r ≈ -.42).

Angenommen wurde, daß die initial unauffälligen Patienten als Individuen mit einer

"geglückten" Krankheits- und Situationsbewältigung beschrieben werden könnten. Sie würden den unter 10.4.2. beschriebenen Patienten mit "körperlich akzentuierter subjektiver Symptomatik" entsprechen. Die Beobachtung eines psychologisch unauffälligen Verlaufs hätte so interpretiert werden können, daß die Lösungsstrategien, die die primäre Verarbeitung der Hepatitis C gelingen ließen, nun auch die Konfrontation mit dem exogen durch das α-Interferon erzeugten Krankheitsgeschehen ohne die Entwicklung von Depressivität bewältigen könnten. Stattdessen erlebten gerade diese Patienten die depressiven Nebenwirkungen der α-Interferontherapie drastischer.

Wie weiter oben bereits ausführlich dargelegt wurde, verstehen wir die Entwicklung depressiver Symptome als Ausdruck eines mehrdimensionalen Geschehens. Die dispositionellen und konstitutionellen Bedingungen der initial als "depressiv" klassifizierten Patienten hätten so dazu geführt, daß diese auf die Erkrankungssituation schon vor der Behandlung mit depressiven Symptomen antworteten. Dabei erscheint hier unerheblich, zu erörtern, ob genetisch-organische Disposition oder im Lebenslauf erworbene Verarbeitungsmechanismen zu dieser Reaktion geführt haben könnten. Dementsprechend hat offenbar der zusätzliche Reiz, der durch das IFN-α ausgeübt wird, ein relativ kleineres Gewicht als bei den primär "Nicht-Depressiven".

Wenn diese Überlegungen mit dem anfangs vorgestellten "theoretischen integrativen Modell"

in Zusammenhang gebracht werden, würde dies heißen, daß für die Depressiven durch die stoffliche Induktion weiterer depressiver Stimmung offenbar in geringerem Maße eine "neue Situationsanforderung" entsteht, sondern "nur" eine Niveauanpassungsanforderung. Für die primär unauffälligen Patienten stellt die von IFN-α induzierte Depression offenbar eine weit drastischere Veränderung und damit eine größere Adaptationsanforderung dar. Die Daten belegen mit anderen Worten, daß die Reaktionsbereitschaft, d.h. der mögliche Effekt des IFN-α, nicht unabhängig vom Ausgangsniveau ist und damit nicht in linearer Beziehung zu IFN-α stehen kann. Auch bei physikalischen und physiologischen Regelkreisen ist festzustellen, daß der Effekt, den ein Reiz ausüben kann, vom Zustand des Systems abhängig ist, wie z.B. die Einwirkung einer Wärmequelle einer vorgegeben Temperatur einen unterschiedlichen Wärmeanstieg hervorruft, je nachdem, wie hoch die Ausgangstemperatur des aufzuwärmenden Gegenstandes ist; oder wie die Wirkung einer Transmittersubstanz auf ein Zielorgan davon abhängig ist, in welchem Ausmaß die angesteuerten Rezeptoren überhaupt bereitgestellt werden oder aber schon besetzt sind.

Wann ist ein Patient durch die depressiven Nebenwirkungen der Interferontherapie so sehr beeinträchtigt oder gefährdet, daß man einen Therapieabbruch in Erwägung ziehen muß?

Diese klinisch bedeutsame Frage kann nicht allein durch die Steilheit des Depressivitätsanstieges geklärt werden. Es muß vielmehr nach einem absoluten Summenwert

gesucht werden, bei dessen Erreichen und/oder Überschreiten der Zustand des Patienten als kritisch betrachtet werden muß.

Die klinische Relevanz eines Schwellenkriteriums wird durch zahlreiche Studien belegt, die von suizidalen Tendenzen bzw. Suizidversuchen bei Patienten berichten, die mit Interferon behandelt wurden (Janssen et al., 1994; Fattovich et al., 1996; O'Connor 1996). In einem klinischen Setting, in dem psychologische bzw. psychosomatische Hilfestellung bereitgestellt wird, ist die Möglichkeit gegeben, Anzeichen schwerer depressiver Entwicklungen durch persönlichen Kontakt früh zu erkennen und die entsprechenden Maßnahmen in die Wege zu leiten. Auf diese Weise konnten während der Durchführung der vorliegenden Studie in den wöchentlichen Interviews durchaus klinisch depressive und sogar suizidale Tendenzen erkannt und aufgefangen werden. In den meisten Behandlungssituationen jedoch ist die Betreuung durch einen psychologisch geschulten Mitarbeiter nicht vorgesehen. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, andere Methoden als persönliche Interviews zu etablieren, mit denen einfach und ohne größeren Zeit- und Kostenaufwand eine Entwicklung schwerster Depressionen rechtzeitig aufgedeckt werden kann. Der ADS mit seinen nur 15 Items erscheint für diese Fragestellung besonders gut geeignet zu sein, da er zudem besonderes Gewicht auf die somatisch ausgeprägten Symptome der Depressivität legt, im Gegensatz zum BDI, der als ein eher psychiatrisch orientiertes Diagnoseinstrument gilt. Der ADS ist leicht verständlich, schnell zu beantworten, und ist auch von nicht psychologisch geschultem Personal leicht auszuwerten. Würde man einen Schwellenwert definieren können, der nur die Anwendung des ADS erfordert, könnte damit dem behandelnden Hepatologen die Möglichkeit gegeben werden, bei Erreichen dieses Grenzwertes einen psychosomatisch ausgebildeten Kollegen zur genaueren Diagnostik und Risikoeinschätzung zu konsultieren.

Um diesen Schwellenwert zu finden, wurden diejenigen Patienten, die aufgrund ihrer depressiven Nebenwirkungen die Behandlung abbrechen mußten und/oder in psychiatrische stationäre Behandlung aufgenommen wurden, näher untersucht. Insgesamt mußten 3 Patienten die Therapie wegen schwerer psychiatrischer Nebenwirkungen die Therapie unterbrechen ("drop-out"). Von diesen zeigten 2 Patienten suizidale Tendenzen, in einem Fall sogar mit einem Suizidversuch. Alle 3 Patienten mußten stationär psychiatrisch behandelt werden. Ein weiterer Patient wurde wegen schwerer Depressionen stationär psychiatrisch behandelt, ohne Suizidabsichten explizit geäußert zu haben. Er wurde nicht von der Interferonbehandlung ausgeschlossen, gilt damit also nicht als "drop-out".

In Kapitel 9.3. wurde ein therapieadaptierter Schwellenwert zur Entdeckung schwerer depressiver Symptome vorgestellt, wobei die ADS verwendet wurde. Wendet man sowohl den vorgegebenen (ADS > 17) vor Therapiebeginn als auch den adaptierten Schwellenwert (ADS ≥ 30) während der Behandlung auf die untersuchten 3 Patienten an, so hätten sie, bevor sie wegen depressiver Nebenwirkungen ihre Behandlung abbrechen mußten, durch beide Werte als Risikopatienten identifiziert werden können. Damit gelang es mit dem adaptierten Wert der ADS, 75% der schwerst depressiven Patienten zu erfassen, bei einer Spezifität von 43%, d.h. es wurden doppelt so viele Patienten als Risikopersonen identifiziert, als tatsächlich behandlungsbedürftig wurden. So hätten insgesamt unter der Therapie 12% der Befragten als Risikopatienten eingeschätzt werden können. Bei den restlichen 88% der Studienteilnehmer konnte unter Anwendung des adaptierten Schwellenwertes von einer hohen Sicherheit mit Hinblick auf eine schwere Depressivitätsentwicklung ausgegangen werden. Nur ein Patient dieser Restgruppe (2%) wurde anhand des beschriebenen Kriteriums nicht als Risikopatient erkannt.

Damit sei betont, daß mit den aufgeführten Methoden durchaus die Entwicklung schwerster psychiatrischer Nebenwirkungen frühzeitig erkannt werden kann, ohne daß diese Diagnostik

eine große zusätzliche Belastung für Patient oder Personal bedeuten würde. Die Anwendung dieser Kriterien anhand des ADS wird daher durchaus als sinnvoll angesehen und empfohlen.

Zur Veranschaulichung der klinischen Verläufe derjenigen 4 Patienten, die schwerste depressive Nebenwirkungen während der Interferontherapie entwickelten, sei erneut auf die im Anhang zu findenden Fallbeschreibungen hingewiesen.