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HINTERGRUND UND HERAUSFORDERUNGEN Barcelona blickt auf eine langjährige

Im Dokument Solidarische Städte in Europa (Seite 58-63)

STADT DER ZUFLUCHT UND MIGRATION

2 HINTERGRUND UND HERAUSFORDERUNGEN Barcelona blickt auf eine langjährige

Geschichte der Solidarität zurück:

von den Arbeitergenossenschaf-ten und anarchistischen und kom-munistischen Gewerkschaften der 1930er Jahre über den Widerstand gegen den Franquismus bis hin zum Aufschwung der sozialen Bewegun-gen, Genossenschaften und Nach-barschaftsverbänden des letzten Jahrzehntes. Auch die Anti-Kriegs-Bewegung gegen den Irakkrieg An-fang der 2000er Jahre ist zu nennen, hat sie doch viel dazu beigetragen, den Raum für Islamophobie in Spa-nien zu begrenzen.

Die Solidarität mit Geflüchteten und Migrant*innen ist jedoch relativ neu, herausfordernd und umstritten.

Jahrhundertelang galt Spanien als ein Land der siedlerkolonialen Aus-wanderung und das 20. Jahrhundert war von großen Binnenmigrationen geprägt. Allerdings war Spanien erst um das Jahr 2000 herum mit ei-ner starken Zuwanderung aus dem Ausland konfrontiert und bis 2015 suchten nur wenige Geflüchtete hier Asyl. Anfang der 1990er Jahre war nur ein Prozent der spanischen Be-völkerung im Ausland geboren, eine

Zahl, die bis 2010 auf 12,2 Prozent stieg. In Barcelona, einer großen und relativ wohlhabenden Stadt, ist die-ser Anteil mit 26,6 Prozent doppelt so hoch, wobei rund 18,5 Prozent der Einwohner*innen keine spani-sche Staatsbürgerschaft besitzen.

Die Einwander*innen kommen über-wiegend aus Europa (35,6 Prozent), Lateinamerika (32,5 Prozent) und Asien (24,9 Prozent), nur 6,9 Prozent stammen aus Afrika (Ayuntamiento de Barcelona 2018a).

Diese Zahlen bergen eine Vielzahl von persönlichen Geschichten und Lebenswegen – etwa 300.000 bis 400.000, je nach Schätzungen, wie viele Einwohner*innen undokumen-tiert bleiben. Doch die explizite und vor allem die institutionelle Solidari-täts- und Willkommenspolitik knüpft nur an einen Bruchteil dieser Ge-schichten an, nämlich an die der zu-letzt Angekommenen, insbesondere der Asylbewerber*innen und der Il-legalisierten. Die Gründe hierfür sind sowohl politisch wie auch

instituti-1 Der Autor möchte Manuela Zechner für ihre Unter-stützung danken, die den vorliegenden Text deutlich verbessert hat.

onell bedingt. Vor 2015 wurde das Thema Einwanderung durch einen breiten politischen Konsens in der Stadtverwaltung, Einwanderung mit ihren arbeitsrechtlichen, kulturel-len und humanitären Dimensionen als administrative Frage zu betrach-ten, weitgehend entpolitisiert. Die meisten Migrant*innen in Barcelona stammten aus Lateinamerika oder aus anderen EU-Staaten, kurz, viele besaßen bereits Spanischkenntnis-se oder eine Form von ArbeitSpanischkenntnis-serlaub- Arbeitserlaub-nis und fanden im Wirtschaftsboom der 2000er Jahre problemlos Arbeit.

Unterdessen behielt der spanische Staat seine extrem hohen Ableh-nungsquoten in Asylfällen bei, oft wurden über 70 Prozent der Anträge abgewiesen (Sanahuja 2017).

In den Vorkrisenjahren entsprach die kommunale Aufnahme- und In-tegrationsfähigkeit mehr oder weni-ger der Anzahl der Ankommenden.

Um fremdenfeindliche Reaktionen auf die zunehmende Migration zu vermeiden, startete die Stadtverwal-tung Anfang der 2000er Jahre das Netzwerk «Xarxa Antirumors» zur Bekämpfung von Gerüchten, Vorur-teilen und Stereotypen. Dieses Pro-gramm bildet sogenannte «Anti-Ge-rüchte-Agent*innen» dazu aus, um Gerüchte und Irrtümer über Migrati-on in Nachbarschaften und Schulen auszuräumen, und wurde bislang in zahlreichen Städten national und in-ternational nachgeahmt (Antirumo-res 2019; Cities of Migration 2018).

In vielerlei Hinsicht ist das heutige System seit 2015 unverändert ge-blieben. Die staatlichen Program-me stellen Asylsuchenden eine

Un-terkunft und ein Taschengeld für die ersten sechs Monate des Verfah-rens zur Verfügung (in Härtefällen bis zu neun Monate). Vor und nach diesem Zeitraum bietet die Stadt Unterkunft und finanzielle Unter-stützung sowie Rechtsbeistand.

Migrant*innen, die einen Wohn-sitz in Barcelona vorweisen können (z. B. anhand von Betriebskostenab-rechnungen oder Mietverträgen auf ihren Namen), sind zur Anmeldung bei den kommunalen Behörden (empadronamiento) berechtigt – un-geachtet ihres Aufenthalts- und Ein-bürgerungsstatus in Spanien. Damit erhalten sie Zugang zu den gleichen kommunalen Sozialleistungen wie langfristig Aufenthaltsberechtig-te – zumindest in der Theorie. Tat-sächlich gibt es viele Fälle, in denen Menschen keinen Zugang zu diesen Rechten erhalten, unter anderem wegen mangelnder Information und Diskriminierung. Die Verwaltun-gen verfolVerwaltun-gen darüber hinaus einen zweistufigen Ansatz, dem zufolge einer ersten Phase der Aufnahme (acogida) eine zweite Phase der Au-tonomie im Hinblick auf die Integra-tion in den Arbeits- und Wohnungs-markt folgen sollte.

Vor der Wirtschaftskrise gehörten Solidaritätspolitiken vorwiegend zu den Aufgaben der sozialen Be-wegungen und Nichtregierungs-organisationen (NGOs) oder Un-tergrundbewegungen, in denen sich Migrant*innen über soziale und familiäre Netzwerke selbst or-ganisierten. Als mit dem Ausbruch der Krise viele ihre Beschäftigung verloren, gewannen solche

Netz-werke zunehmend an Bedeutung – nicht nur für Migrant*innen, son-dern auch für Millionen spanischer Staatsbürger*innen. Wohnraum wurde zu einem dringlichen The-ma für die Bevölkerung, ungeach-tet ihrer Herkunft. Migrant*innen mit afrikanischer Herkunft grün-deten 2011 das besetzte Zentrum

«Cal África» in einem alten Indus-triegebiet, das zu einem wichtigen Ort der gegenseitigen Hilfeleistung und des Zusammenlebens für Hun-derte von Menschen wurde, die ih-ren Lebensunterhalt vorwiegend als Altmetallsammler*innen bestritten (Geddis 2013). In Barcelona sank die Zahl der Menschen aus Lateiname-rika zwischen 2009 und 2016 um 50.000, da viele ihre Arbeit verloren und dadurch auch ihre Fähigkeit, Mieten und Hypotheken zu bezah-len. Viele, vor allem Familien, deren Kinder fest in Barcelona verwurzelt waren, engagierten sich in der Platt-form gegen Zwangsräumungen (Plataforma de Afectados por la Hi-poteca, PAH). Eine der Gründer*in-nen dieser Bewegung ist Ada Colau.

Nach dem Vorbild des Arabischen Frühlings besetzten am 15. Mai 2011 landesweit Hunderttausende Menschen öffentliche Plätze, um gegen die Austeritätspolitik und für

«echte Demokratie» zu

protestie-ren. Auch Migrant*innen spielten in dieser Bewegung eine promi-nente Rolle und die migrantischen Kämpfe gewannen im Verlauf der Ereignisse an Bedeutung. Eine der augenfälligsten Solidaritätsinitiati-ven für Migrant*innen war die «Tan-quem els CIEs»-Kampagne gegen Abschiebelager, die im Januar 2012 nach dem Tod von Idrissa Diallo im örtlichen Abschiebelager Barcelo-nas ins Leben gerufen wurde. 2013 entstand der von den Zapatistas in-spirierte «Espacio del Inmigrante»

(Raum der Migrant*innen) im Stadt-teil Raval, der sich zu einem wichti-gen Versammlungsort für migranti-sche Selbstorganisation entwickelte und Personen aus dem inzwischen geräumten «Cal África» sowie eine zunehmende Anzahl von irregulären Migrant*innen zusammenbrach-te, die sich mit Straßenverkauf über Wasser hielten, die sogenannten manteros. Zentrales Merkmal die-ses Ortes war eine radikale Kritik an dem Ausschluss von Menschen ohne spanische Staatsbürgerschaft an der politischen Teilhabe. Ein frü-heres Mitglied des «Espacio» bringt dies mit folgendem Slogan auf den Punkt: «[Der Migrant ist] ein Subjekt der Politik und ein politisches Sub-jekt, nicht ein Objekt der öffentli-chen Ordnung.»

3 «BARCELONA EN COMÚ»

Mit dem Amtsantritt der neuen, aus der Bewegung hervorgegangenen Stadtregierung 2015 wurde Migra-tion zu einem Kernthema der

Stadt-politik Barcelonas. Obwohl die Stadt niemals zu einem bedeutenden An-kunfts- oder Transitort wurde, wur-de wur-dem Thema Flucht und Migration

eine große Bedeutung beigemes-sen, wobei die beiden Kategorien im öffentlichen Diskurs streng von-einander getrennt werden. Die zwei zentralen Themen waren einerseits die Nichtankunft syrischer Geflüch-teter in Barcelona und andererseits das zahlenmäßig geringe, aber sehr sichtbare Phänomen des informel-len Straßenverkaufs durch meist subsaharische Migrant*innen ohne Papiere.2

In vielerlei Hinsicht verlief die Entste-hung und Entwicklung dieser beiden Phänomene auf entgegengesetzte Weise. Da keine Geflüchteten nach Barcelona kamen, beruhte die Po-litisierung des Rechts auf Asyl und Aufnahme auf der Entschlossen-heit der neuen Stadtverwaltung, auf sozialer und institutioneller Ebene gegen die Weigerung des Zentral-staates zu mobilisieren, Geflüchtete aufzunehmen. Mit der Entwicklung von Taktiken, um die staatliche Poli-tik und die Legitimität der konserva-tiven PP-Regierung (Partido Popular) sowie die Schließung der EU-Gren-zen infrage zu stellen, reagierte die Stadtverwaltung auf eine starke So-lidarisierungswelle innerhalb der Bevölkerung. Der Kampf der Stra-ßenverkäufer*innen hingegen wur-de von wur-der politischen Rechten und den Mainstream-Medien skandali-siert mit dem Bestreben, die Stadtre-gierung als «zu tolerant» gegenüber

«illegalen Migranten, die den öffent-lichen Raum besetzen, um illegale, gefälschte Gegenstände zu verkau-fen» darzustellen und zu schwächen.

Während das Ausüben wie auch die Repression des Straßenhandels in

der Stadt auf eine jahrhunderteal-te Tradition zurückblickt, war eine migrationsfreundliche, basisdemo-kratische Stadtregierung ein neu-es Phänomen – und eine willkom-mene Angriffsfläche. «Barcelona en Comú» (BComú) versuchte hier, eine unmögliche Stellung einzunehmen – zwischen den Forderungen der Be-wegung für Flüchtlingsrechte einer-seits und dem Ruf nach öffentlicher Ordnung durch die Medien und Op-position andererseits.

Um also die öffentliche Debatte rund um das Thema Migration zu verstehen, die die Wahrnehmung Barcelonas als solidarische Stadt so nachhaltig geprägt hat, müssen wir uns die Position und Entwick-lung von BComú vergegenwär-tigen. Die migrationspolitischen Positionen wurden durch einen Be-teiligungsprozess entwickelt, ge-prägt von Menschen, die über Fach-wissen und Erfahrung verfügen:

Normalbürger*innen, Aktivist*in-nen, Forscher*inAktivist*in-nen, Kommunal- und NGO-Mitarbeiter*innen – viele von ihnen Migrant*innen aus Eu-ropa oder Lateinamerika, manche mit nordafrikanischer oder südasi-atischer Herkunft. Beim Gespräch mit Teilnehmer*innen des Kampa-gnenarbeitskreises von 2015 wird

2 Der für diese Fallstudie interviewte Aktivist des

«Espacio del Inmigrante» schätzte die Zahl der man-teros zwischen 300 und 400. Unterdessen wurde von den Medien behauptet, deren Zahlen seien unter der Colau-Regierung zwischen 2014 und 2018 von 400 auf 600 gestiegen (Lopez/Sust 2016). Meinen Alltagsein-drücken aus den Straßen Barcelonas zufolge erscheint mir die letzte Zahl übertrieben. Die Zahl der in Barcelona registrierten Menschen westafrikanischer Herkunft lag 2018 bei 3.794, das sind 1,26 Prozent der Migrantenpo-pulation (Ayuntamiento de Barcelona 2018a).

ein Spannungsfeld zwischen dem Fokus auf konkrete Politik und einer breiteren politischen Neuausrich-tung der Migrationsfrage sichtbar.

Eine befragte Person, eine Forsche-rin, die in der Stadtverwaltung arbei-tete, beschrieb einen offenen und oft schwierigen Prozess, in dem es nur allmählich gelang, konkrete und tragfähige politische Maßnahmen zu entwickeln, indem sie die Funk-tionsweise der Stadtverwaltung in Migrationsfragen analysierten und deren Herausforderungen und Feh-ler herausarbeiteten. Ein weiterer Befragter, ein Forschungsaktivist, der mit den Altmetallsammler*innen und dem «Espacio del Inmigrante»

zusammengearbeitet hatte, äußerte sein Unbehagen bei der Darstellung von Migration als ein Einzelthema und sprach von seinen Versuchen, diesen Diskurs mit den Forderun-gen der Bewegung für Migranten-rechte in Einklang zu bringen. Maß-gebend für diesen Versuch war in seinen Worten «die grundsätzliche Betrachtung von Migrant*innen als politische Subjekte und Menschen mit Handlungskompetenz anstelle eines zu verwaltenden Objekts oder einer zu verwaltenden Bevölkerung»

sowie die Universalisierung von For-derungen («für alle») und der Fokus auf spezifisch gefängniskritische, antirassistische Forderungen.

Im Abschlussdokument des Ar-beitskreises Migration ist die Rede vom Hinarbeiten auf soziale Inklusi-on – insbesInklusi-ondere die Erleichterung des kommunalen Anmeldeprozes-ses und des Zugangs zur Gesund-heitsversorgung – und vom Kampf

für Inklusionsmechanismen im Schulwesen, auf dem Wohnungs-markt und im Abschiebelager (Bar-celona en Comú 2015a). Das allge-meine Wahlprogramm von 2015 spiegelt die Anliegen der beiden Interviewpartner*innen wider. Das Programm beinhaltet eine Reihe von konkreten Vorschlägen: Wäh-rend manche davon sich eher als Teilaspekte universeller Forderun-gen lesen, sind andere hochspezi-fisch in ihrer Formulierung (z. B. die Schließung des Abschiebelagers) und wiederum andere befassen sich mit der Frage, wie die Stadt selbst die politische Handlungsfähigkeit von Migrant*innen respektieren und fördern könnte (Barcelona en Comú 2015b). Dies beweist die Macht par-tizipativer Politikgestaltung als Pro-zess kollektiver Wissensproduktion und politischen Denkens, die von den Erfahrungen und dem Wissen ihrer Teilnehmer*innen ausgeht.

Das Spannungsfeld zwischen poli-tischen Maßnahmen und radikaler Politik wird so, zumindest im diskur-siven Sinne, zum fruchtbaren Nähr-boden. Während des kommunalen Wahlkampfes 2015 beteiligte sich BComú auch an einer Kampagne, die Migrant*innen über ihr Wahl-recht bei den Kommunalwahlen auf-klärte.

Seit ihrem Amtsantritt hat BComú zwei Grundannahmen überwunden, auf denen der bisherige parteiüber-greifende politische Konsens inner-halb der Stadtverwaltung hinsicht-lich Aufnahme- und Asylfragen von Geflüchteten beruhte. Statt eines entpolitisierten liberalen

Humani-tarismus sollten Migrationsfragen aufbauend auf dem Diskurs und den Forderungen der sozialen Bewe-gungen und fortschrittlichen NGOs in diesem Bereich politisiert wer-den. Mit dieser Einstellung brach BComú mit einer zweiten Voran-nahme, nämlich dass die Stadt Ge-flüchteten- und Migrationsangele-genheiten einfach im Rahmen ihrer Zuständigkeiten regeln sollte, ohne öffentlich von der Politik der Zentral-regierung abzuweichen. So trug die Stadt beispielsweise dazu bei, ein Bewusstsein für die Ungerechtig-keiten zu schaffen, denen die Insas-sen des Abschiebelagers ausgesetzt sind, auch wenn dessen Schließung letztendlich nicht in ihrer Macht lag.

Als der sogenannte Sommer der Migration kurz nach Ada Colaus Amtsantritt begann, war es daher nicht verwunderlich, dass Barcelona

in der Forderung nach einem Bruch mit der grausamen und tödlichen Grenzpolitik der EU und der nationa-len Regierungen eine Führungsrol-le unter den europäischen Städten übernahm. Auch war es keine gro-ße Überraschung, dass die migra-tionspolitische Positionierung der Stadtregierung innerhalb der politi-schen Rechten und in den Medien für großen Aufruhr sorgte. In den letzten Jahren haben diese beiden entgegengesetzten Kämpfe über Legitimitäts- und Gerechtigkeitsfra-gen die alltäglichen BemühunGerechtigkeitsfra-gen der Stadt, die Aufnahmekapazitäten angesichts der jährlich steigenden Asylanträge auszuweiten, weitge-hend überschattet. Während erste-re Position maßgeblich zum Ruf Bar-celonas als führende solidarische Stadt beitrug, trug letztere eher zu dessen Rufschädigung bei.

Im Dokument Solidarische Städte in Europa (Seite 58-63)