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DIE GEWERKSCHAFT DER STRASSEN- HÄNDLER*INNEN (MANTEROS)

Im Dokument Solidarische Städte in Europa (Seite 68-72)

STADT DER ZUFLUCHT UND MIGRATION

5 DIE GEWERKSCHAFT DER STRASSEN- HÄNDLER*INNEN (MANTEROS)

bleibt die Wirksamkeit des «Docu-mento de vecindad» – das wichtigs-te Instrument der Stadt, um undo-kumentierte Einwohner*innen vor polizeilicher Schikane und Abschie-bung zu schützen – weiterhin un-klar. Während die Stadt auf der ei-nen Seite von den Medien und der Opposition wegen der unzureichen-den polizeilichen Überwachung von

Migrant*innen kritisiert wurde, hat ein großer Teil der migrantischen, antirassistischen und dekolonialen Bewegung in Barcelona sie ande-rerseits der Heuchelei beschuldigt, da die großen Gesten der Solidarität mit Geflüchteten im Widerspruch zur anhaltenden Repression von Migrant*innen auf den Straßen Bar-celonas stehen.

5 DIE GEWERKSCHAFT DER STRASSEN-

«Tras la Manta»-Initiative unterstützt, die von Veteranen der 15M-Bewe-gung und des Kampfes gegen das Abschiebelager gegründet

wur-de. Eine Person im «Espacio del In-migrante» beschrieb die politischen Auswirkungen der Gewerkschafts-gründung wie folgt:

«[Die manteros] waren im wahrsten Sinne des Wortes ein politischer Akteur, und ihre Selbstorganisation war ein natürliches Produkt des Antagonismus, den sie ohnehin schon im Alltag praktizierten – in den von ihnen geschaffenen Selbsthilfe- und Solidaritätsnetzwer-ken, um tagtäglich in einem System zurechtzukommen, das ihre bloße Existenz kriminalisiert. Hierdurch wurden sie jedoch zum öf-fentlichen politischen Akteur – durch die Gewerkschaft.» (Interview durch den Autor)

Die Gewerkschaft der Straßenhänd-ler*innen wurde gegründet, um den Gerüchten und rassistischen Ste-reotypen entgegenzuwirken, die ih-re Arbeit begleiten, und um eine Ver-handlungsbasis mit den örtlichen Behörden und der Polizei zu schaf-fen. Ihre zentrale Botschaft lautete

«Überleben ist keine Straftat» und sie forderten, die Menschenwürde über geistige Eigentumsrechte zu stellen. Bald begann die Gewerk-schaft, mit der Unterstützung von

«Tras la Manta» und «Espacio del In-migrante» sogenannte rebellische Flohmärkte zu organisieren (Espi-nosa Zepelda 2017). Hier wurde die Trennung der schwarzen Straßen-händler*innen von der allgemeinen Bevölkerung aufgehoben, was ihre polizeiliche Kontrolle erschwerte.

Das Bündnis organisierte auch De-monstrationen, die die Kämpfe der manteros mit jenen anderer Grup-pen verbanden: «Wir sind gekom-men, weil spanische und europäi-sche Schleppnetzfieuropäi-scher die Fieuropäi-sche von der Küste Westafrikas weg-fischen und uns Arbeit und

Nah-rungsmittel nehmen. Wir versuchen nur, uns über Wasser zu halten, so wir ihr es auch tut, und so wie ihr wurden wir von den Reichen ver-arscht» (Gespräch mit einem man-tero 2017, nach der Erinnerung zi-tiert; siehe auch Siberia TV 2015).

Unterdessen wurden die Angrif-fe auf BComú von der Presse, dem Einzelhandelsverband und der Poli-zeigewerkschaft verschärft. Diese Strategie ist keineswegs neu – sie wurde schon 2004 gegen die da-mals amtierende linke Regierung angewendet, die dazu genötigt wur-de, den «Civismo-Code» einzufüh-ren, der die Art und Weise, wie Ar-me den öffentlichen Raum nutzen, kriminalisiert (Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, Herumlungern, Straßenverkauf, Betteln usw.). Zeit-gleich mit der Gründung von «Ciutat Refugi» im September 2015 stellte die Opposition (mit Ausnahme der linken CUP-Partei) einen Misstrau-ensantrag aufgrund von Ada Colaus

«Unfähigkeit, mit den manteros fer-tigzuwerden» (Blanchar 2015). Die unmittelbare Reaktion des

stellver-tretenden Bürgermeisters Geraldo Pisarello – zu dieser Zeit die einzige nicht-weiße Person im Rathaus – war entschieden. Er nannte den An-satz der Opposition «rassistisch und klassistisch» und ihre Kritik «zynisch und demagogisch», hatten sie wäh-rend ihrer eigenen Amtszeit die Pro-blematik doch selbst nicht in den Griff bekommen (ebd.). Der darauf-folgende Aufschrei in den Medien zwang Pisarello dazu, seine Aussa-gen zurückzuziehen, mit Ausnahme des impliziten Bekenntnisses, dass es hier ein Problem gäbe. BComú war in die Defensive gedrängt wor-den.

Die Bemühungen der Stadt, in Ge-sprächen mit Polizei und Unterneh-mensverbänden Anerkennung für die Gewerkschaft der Straßenhänd-ler*innen zu schaffen, scheiterte, weil diese die Legitimität der Ge-werkschaft abstritten. Während die Bemühungen um den Aufbau der

«Ciutat Refugi» intensiviert wurden, begann die Stadtverwaltung, sich dem Druck zu beugen. Angesichts der überwältigenden Macht der Me-dien, der Opposition und der Ver-bände von fest entschlossenen La-denbesitzer*innen griff BComú auf ihren eigenen Diskurs zurück, der als Teil ihres Kampfes um Hegemo-nie entwickelt worden war: Ziel sei es, «für alle zu regieren», nicht nur für spezifische Interessengruppen – und wie immer schließt die Stan-darddefinition von «alle» vor allem Bürger*innen und Wähler*innen ein.

Die Stadtregierung befand sich auf einem schmalen Grat. Wie Pisarello

der bewegungsnahen Zeitung Dia-gonal erklärte, war die Stadt noch immer entschlossen, «den Ansatz der Kriminalisierung und der poli-zeilichen Kontrolle des Straßenver-kaufs zu umgehen und sich dafür einzusetzen, dass die Menschen, die Straßenhandel betreiben, Nach-bar*innen sind, deren Grundrech-te anerkannt werden müssen»

(Fernández Redondo 2016). Nichts-destotrotz arbeitete die Stadtregie-rung daran, «Ordnung in den öf-fentlichen Raum zu bringen, um zu verhindern, dass Einzelhändler*in-nen in eine rechtspopulistische Ko-alition gegen die manteros gezogen werden» (ebd.). Dieser Versuch gip-felte im Sommer 2016 in einer stadt-weiten Kampagne, die zu einem re-spektvollen Zusammenleben aufrief und unter anderem Tourist*innen und Einwohner*innen davon abriet, die Waren der manteros zu kaufen.

Die Kampagne wurde von verstärk-ten Polizeikontrollen an öffentlichen Plätzen begleitet.

Die Gewerkschaft der Straßenhänd-ler*innen wies darauf hin, dass diese Maßnahmen ihre Überlebensstrate-gien und Existenzen kriminalisierten und delegitimierten. Die Kritik aus den antirassistischen und dekolo-nialen Bewegungen war kompro-misslos und voller Misstrauen ge-genüber den Absichten und dem Diskurs der Stadt. «Ciutat Refugi»

wurde als inhaltslose Farce und «be-schissene Heuchelei» angepran-gert. In einer Videobotschaft gegen die Stadtverwaltung beschrieb Mo-hamed, ein syrischer Palästinenser,

«Ciutat Refugi» als einen «boost für

das Selbstwertgefühl der Mittel-schicht, als ob sie etwas in dieser Krise unternehmen würden», wäh-rend Daouda aus Senegal feststell-te, dass «sie nicht verstehen, was wir durchmachen, weil sie es nicht wissen und nicht wissen wollen»

(Alsharqawi/Almodóvar 2016). Die Gewerkschaft der Straßenhänd-ler*innen, die ein Eigeninteresse an den Verhandlungen mit der Stadt und an freundschaftlichen Bezie-hungen zu BComú besaß, verfolgte einen weniger abweisenden Ansatz.

Das Ergebnis dieser Verhandlungen war schließlich die Gründung ei-ner städtisch geförderten Koopera-tive von manteros, der DiomCoop, im Jahr 2017 sowie die Etablierung von Verkaufspunkten für manteros bei Stadtfesten und Märkten (López 2017). Dennoch bietet die Koope-rative nur 40 Arbeitsplätze für 300 bis 400 Straßenhändler*innen, und zwar nur denjenigen mit Zugang zu einer Arbeitserlaubnis, das heißt jenen, die für ihre kriminalisierten Überlebensstrategien noch keinen Eintrag ins Strafregister bekommen haben.

Den informellen Straßenverkauf gibt es auch heute noch, er wird nur an den geschäftigsten zentralen Or-ten polizeilich verhindert. Proteste gegen polizeiliche Repression und Gewalt bestehen weiterhin, nicht zuletzt in Form der Großdemons-tration anlässlich Mame Mbayes Tod, der nach einer Verfolgungsjagd durch die Polizei in Madrid starb (Faye 2018). Die Zugeständnisse von BComú konnten die politische Opposition letztlich nicht

zufrieden-stellen und die Frage der manteros nicht entpolitisieren. Sie haben so-gar dazu beigetragen, ihre eigenen Bemühungen zur Schaffung eines Diskurses, der den Straßenverkauf als komplexe, strukturelle Frage und eine des Überlebens, der Arbeit und der politischen Vertretung illegali-sierter Migrant*innen anerkennt, zu schwächen. Die Situation von Men-schen mit prekärem und irregulä-rem Rechtsstatus bleibt dabei be-stehen und spitzt sich Jahr für Jahr zu, während BComú auf Legalisie-rungsansätze (z. B. durch Koopera-tiven, Arbeitserlaubnisse) setzt. Im Vorfeld der Kommunalwahlen 2019 fokussiert die Organisation aller-dings zunehmend auf polizeiliche Maßnahmen gegen den Straßen-handel.4

Aktuell dient die Frage des Stra-ßenhandels der politischen Rech-ten weiterhin als Keil, mit dem sie versucht, die Bewohner*innen der Stadt zu entzweien, Rivalitäten und Misstrauen auf der Basis ethnischer Zuschreibungen zu säen und da-mit das städtische Zusammenle-ben (convivencia), die Unterstüt-zung von universellen Rechten und die Konditionen der sozialen und Klassensolidarität zu untergraben.

In diesem Sinne ist Solidarität mit

4 Anfang 2019 wurden im Pressespiegel von BComú zwei Artikel zum Straßenhandel verbreitet. Ein Artikel beschäftigt sich mit der Forderung des kommunalen Sicherheitsbeauftragten, die Polizei solle Straßenhänd-ler*innen in einer zentralen Metrostation räumen und Strafanzeigen aufgrund des Verkaufs von gefälschten Waren stellen (El Periódico 2019). Ein weiterer Artikel titelt, die Stadtverwaltung wolle den Straßenhandel be-seitigen (Betevé 2019). Diese Schlagzeilen entsprechen zwar nicht den Positionen von BComú, allerdings bein-haltet der Pressespiegel in der Regel nur Darstellungen, die die Plattform unterstützt.

Migrant*innen nicht nur eine Frage der moralischen Verantwortung ge-genüber unseren schutzbedürftigen

Mitbürger*innen, sondern auch eine Frage strategischer Notwendigkeit auf allen Ebenen.

6 LEKTIONEN UND ERFINDUNGEN DER ZUKUNFT

Im Dokument Solidarische Städte in Europa (Seite 68-72)