die das Obertribunal
dem
Begriff „ausgesprochene Meinun-gen"gegeben
hatte,im
Art, 30RV.
derAusdruck
„Äuße-rungen" gewähltsei,daß man
aberimmer
nurWorte, keines-wegs Willensäußerungen — und
eine solche sei doch das Sitzenbleiben—
schützen wollte, Art. 27RV. könne man im
vorliegenden Falledarum
nicht zurAnwendung
bringen, weil es sich hier nichtum
eine Verletzung der Disziplin, sondernum Ahndung
eines strafbarenVergehens
handele.Diese letztere Aufstellung ist
darum
nicht haltbar, weil es geradeGegenstand
der Streitfrage war, ob eine strafbareHandlung
oder eine durch Art, 30 geschützteTat begangen
war.Und man
stelltWillensäußerungen und Äußerungen
u. E.
darum noch
nicht gleich,wenn man
unter diesem Aus-druckHandlungen und
Unterlassungen, diean
Stellevon Worten
treten, miteinbegreift, sodaß
Tätlichkeiten, wie13) Der Reichstag wurde gezwungen, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, weil die Staatsanwaltschaft wegen Majestäts-beleidigung vorgehen wollte.
14) Vgl. den Bericht des Referenten
P
iesehe1 (Sten. Be-richte 1894/95, I S. 138).15) Sten. Berichte 1894/95, I S. 147f.
—
44-Gamp
fürchtete,noch
lange nicht den Schutzvon
Art. 30RV.
genießen.Bei
dem
eingangserwähnten
jüngsten Vorfalle hatdenn
auch der Staatsanwalt ein Einschreiten abgelehnt,und
der preußische Justizmiinister hatim Herrenhaus am
29.Mai
1914 seine juristische Auffassung durchaus gebilligt.
Dabei
lag der jüngste Fall insofern für eine Strafverfolgungnoch
günstiger, als die Demonstration erstnach
Verlesung der Kaiserlichen Botschaft, dieden
Reichstag für geschlossen erklärte, erfolgte.Der
Justizminister hat aber demgegen-über mitRecht
darauf hingewiesen,daß
das Kaiserhochnoch
vordem
tatsächlichen Schluß der Sitzung erfolgte, jadaß man
in dieserOvation
den tatsächlichen Schluß der Sitzung erblicken kann, sodaß
die Majestätsbeleidigung, so-fernman im
Sitzenbleiben überhaupt einenach
derneuen Fassung von
§ 95StGB,
strafbareHandlung
erblicken wollte, durchden
Schutz des Art. 30 gedeckt wäre.Daß
die Ab-geordneten bei dieserDemonstration
„inAusübung
des Be-rufes" gehandelt haben, bedarfkaum
der Erörterung.Denn
entweder sind solche Ovationen
nach
parlamentarischemGebrauch im
Abgeordnetenberuf üblich,dann
ist auch derim
Sitzenbleiben liegende Protest eine „inAusübung
des Berufes" getaneneÄußerung. Oder man
rechnet sie nicht zu denzum
Abgeordnetenberuf gehörigen Handlungen,dann haben
die betreffenden Volksvertreter durchAblehnung
solcherihrem
Berufe fremderHandlungen
erst recht .Ausübung
des Berufes" gehandelt16).§
6-Das
Verbot der disziplinarischen Verfolgung.Diese®Verbot richtetsich in erster Linie an alle Staats-organe,
daneben
aber auchan
die öffentlich-rechtlichen 16) Vgl. im ErgebnisHubrich
a. a. O. S. 361;Klei
n-fe1 1er a. a. O. S. 330 u. a.
—
45—
Korporationen wie z. B.
Kommunen. Die
herrschendeAn-sicht*) dehnt dieses Verbot mit
Recht
auf solche Berufs-und
StandesVertretungen aus, die unter staatlicher Autorität eine Disziplinargewaltgegen
ihre Mitglieder ausüben, wiez. B.
Anwaltskammern
2).Auch
protestantische Geistliche dürften durch dieses Verbot geschützt sein, da die Konsistorien Aufsichts-institute des Staates sind3).Was nun den Umfang
dieses Privilegs anlangt, so ist seine äußereGrenze
nicht leicht zu ziehen. Soweit sich allerdings dieMaßregel
als eine in Reaktion auf das Ver-haltenim Parlament
erfolgte Strafe charakterisiert, wie z. B.Amtsenthebung,
Versetzung, Verweis usw., steht außer Frage,daß
sie gesetzwidrig ist4).Schwierig wird die Entscheidung aber dann,
wenn
eineMaßregel
inFrage
steht, dienach
ausdrücklicher gesetz-licherBestimmung
keine Strafnatur hat, aber dochdem Beamten
als Folgeseines Verhaltensim Parlament
auferlegt wird; wirmeinen
die Dispositionsstellung derBeamten,
die fürs preußischeRecht
durch den § 87 des Gesetzesvom
21. Juli 1852, für
Reichsbeamte
durch §§ 24ff. des Gesetzes1) Vgl.
Hubrich
a. a. O. S. 369.Schwedler
a. a. O.S. 25. Die Beschränkung
Lewaids
(GerS. Bd. 39 S. 56) auf Beamte erscheint willkürlich.2) Dies ist auch im Abgeordnetenhause in einer
am
13. Juni 1914 stattgehabten Debatte, in der diesesum
die Genehmigung zur ehrengerichtlichen Verfolgung eines Abgeordneten ersucht wurde,als ganz zweifellos angesehen worden.
3) Anders ist es wohl bei der katholischen Geistlichkeit (vgl.
Schwedler
a. a. O. S. 25).4) Zweifellos wird
man
auch Aufforderungen zu amtlichen Äußerungen über Abstimmungen, Nichtgewährung üblicher Grati-fikationen, Übergehung bei Beförderungen, auch Konzessionsver-weigerungen hierher rechnen müssen; doch wird in solchen Fällendem
Willen des Gesetzgebers nicht so leicht Geltung zu ver-schaffen sein (ebensoSchw edler
a. a. O. S. 25).—
46—
vom
31.März
1873 (jetztFassung vom
17.Mai
1907) ein-geführt ist.Zwar
fürs Reichsrecht ist dieBeantwortung
derFrage
ziemlich unzweifelhaft.Man
ist darüber einig5),daß
in Art. 30RV.
der Begriff des „zurVerantwortung
Ziehens1 ' der allgemeine ist,und
dieHervorhebung
der gerichtlichenund
disziplinarischen Verfolgung nur Beispiele sind.„Zur Verantwortung
ziehen" erfordert aber seinem Wortlautenach
irgend eine,gegen
die betreffendePerson wegen
einer ihr zurLast
gelegtenSchuld6) gerichtete, für siemit Strafen oder sonstigen Rechtsnachteilen, verbundeneHandlung
7).Der
Unterschiedvon
§ 11StGB, und
Art. 30RV.
besteht nur darin,daß
ersterer die Vertreter der deutschen Einzel-staaten in ihrenParlamenten
schützen will,während
Art.30RV.
die Reichsboten angeht. In materiellerBeziehung
deckt sich die Tragweite beiderBestimmungen
vollständig;auch § 11
StGB, gewährt
Schutz vor disziplinarischerund
sonstiger Verfolgung in demselbenUmfange
wie Art. 30 RV.,denn
nur inErmangelung
einer anderen passenden Gesetzesstelle ist dieBestimmung
insStGB, aufgenom-men
8)9 )
.
5) Vgl.
Hub rieh
S. 348Anm.
92;Dambitsch, Komm.
Anm.
10 zu Art. 30RV.
6) Hierin liegt ein Unterschied zu
dem
„zur Rechenschaft ziehen" der preußischen Verfassung, der unten ausführlich be-handelt wird.7) Ebenso
Hubrich
a. a. O. S. 378; vgl. auch die im Er-gebnis übereinstimmende WortinterpretationLewaids
a. a. O.S. 57 an der
Hand
deutscher Wörterbücher.8) Vgl. dazu die Erklärungen des Bundeskommissars Fried-berg im Reichstag (Sten. Berichte 1870 Bd. 2 S. 1128), ebenso
Binding
a. a. O. S. 676,Hubrich
a. a. O. S. 289ff.,Boru-hak
a. a. O. S. 427,Lewald
a. a. O. S. 57,Fuld,
Arch.IV
S. 350 u. a. m.; a. A.
OLs hausen
zu § 11 StGB.9) Die Veranlassung zur
Aufnahme
dieser Bestimmung: ist S. 42 erörtert.47