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Handlungsprobleme im Fokus - Das problem-rekonstruktive Design

Eine Problematisierung der „Erwachsenenbezogenheit“ theoretischer Konzepte in der qualitativen Bildungsforschung

5 Orientierungen von Kindern: Entsprechung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen,

2.2 Handlungsprobleme im Fokus - Das problem-rekonstruktive Design

Entscheidend an der bisher dargestellten Variante pädagogisch-qualitativer Forschung war es, dass das konkrete pädagogische Problem, a priori konsti-tuiert wird und anschließend durch qualitative Forschung erhellt und evtl.

gelöst werden sollte. Was also das eigentliche pädagogische Problem ist (z.B.

wie Deutungslernen lerneffizient eingesetzt werden kann oder ob Erklärun-gen im Unterricht einer fachwissenschaftlichen Kritik standhalten), steht bereits vor der Analyse fest und wird somit nicht von dieser selbst aufge-deckt. Dabei ist es durchaus denkbar, dass in den analysierten Situationen ganz andere Handlungsprobleme von Bedeutung sind. Dass mit dieser vor-herigen Fokussierung und der damit verbundenen Kritik der Handlungspraxis eine starke Einschränkung des vor allem in der sozialwissenschaftlich fun-dierten qualitativen Forschung geforderten Prinzips der Offenheit und Neu-tralität einhergeht, wird insbesondere von Sequenzanalytikern wie Wolfgang Meseth kritisiert. Er sieht in der überfokussierten Nutzenorientierung und der fachwissenschaftlichen, pädagogischen und präskriptiven Bewertung in den Analysen ein konkretes Problem für die Qualität qualitativer Analysen:

„Für die Erziehungswissenschaft als empirisch forschende Disziplin erweist sich die Spannung zwischen normativ-präskriptiver Praxiserwartung und analytisch-deskriptivem Wissenschafts-anspruch als besonderes Problem.“ (Meseth 2011: 15)

Die Herausforderung der „Anwendungs- und Praxisorientierung“ (ebd.) der Analysen wird daher zu einer methodologischen Herausforderung. Wie kann man Wissen produzieren, welches den Anspruch der Praxisrelevanz nicht vollständig suspendiert, jedoch gleichzeitig nicht in Form einer material-externen bzw. theoriegeleiteten Bewertung operiert? Wie ist das Problem der Anwendungsorientierung als leitendes Erkenntnisinteresse in der Unterrichts-forschung mit den zentralen methodologischen Grundprinzipien qualitativer Forschung zu vereinbaren?

Problemrekonstruktion

Im normativ-instrumentellen Design materialisierte sich dieses Problem im Umgang mit den präskriptiven, zu meist pädagogisch begründeten Begriffen in der Analyse.4 Eine Möglichkeit, dieses Problem einzugrenzen, liegt in der zunächst vollständigen Ausklammerung pädagogischer Bewertungen aus der Situationsanalyse. Anstatt pädagogische Fragestellungen an das Material heranzutragen, wird dann die Prämisse eingeführt, zunächst die faktische Interaktionssituation mit einem offenen Verfahren zu analysieren. Auf eine Kategorisierung und Bewertung der Handlung unter pädagogischen Gesichtspunkten wird also zunächst verzichtet. Die empirische Rekonstruk-tion von pädagogischen SituaRekonstruk-tionen wird damit selbst zu einer eigentlichen 4 Das Problem konstituiert sich also daraus, dass man qualitative Forschungsmethoden für die Untersuchung von Lern-, Bildungs- oder Erziehungsprozessen nutzen möchte. Man muss entsprechend begründen können, warum diese in der Regel soziologischen Methoden, die für die Untersuchung subjektiver oder kollektiver/manifester oder latenter/usw. Sinn-strukturen erstellt wurden, solche Prozesse sichtbar machen können sollten.

Problemrekonstruktion. Kurz: normativ-instrumentelle Designs betreiben Forschungen, um theoretisch hergeleitete pädagogische (und damit vordefi-nierte) Probleme zu lösen, während nun zunächst selbst rekonstruiert werden soll, was Probleme in pädagogischen Handlungsfeldern sind. VertreterInnen solcher problem-rekonstruktiver Designs führen dann unter anderem an, dass dadurch „unrealistische Ambitionen“ verhindert werden, da die qualitative Forschung zu einem „wirklichkeitswissenschaftlichen Blick“ (Wernet 2006:

193) führe.

Wie dieses problem-rekonstruktive Design vorgeht, lässt sich an einem Aufsatz von Andreas Wernet (2000) verdeutlichen. Dieser ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil er in diesem zu begründen versucht, welchen Stellenwert die qualitative Forschung für die Lehrerbildung haben kann. In diesem Sinne wird die Frage nach dem praktischen Nutzen der qualitativen Forschung unmittelbar virulent.5 Wie löst er diese Frage? Transkriptanalysen und damit die qualitative Forschung haben Wernet zufolge erstens einen

„formalen“ und zweitens einen „materialen“ Nutzen für die Lehrerbildung:

Die formale Leistung bezieht sich darauf, dass die Fallrekonstruktion ein besonderes Reflexionsformat für die werdenden Lehrer darstelle.6 Insbeson-dere deshalb, weil diese virtuell selbst in die Rolle des Lehrers treten können und ihre Handlungsweisen mit der Strukturlogik der Interaktion in Beziehung bringen können. Wernet spricht von einer „gedanklichen Simulation berufs-praktischer Problemlösung“ (Wernet 2000: 293).

Material kann die qualitative Forschung von Nutzen sein, weil durch die offene Rekonstruktion ein eigentlich unscheinbares und in der Situation selbst kaum wahrnehmbares pädagogisches Problem zum Vorschein kommt.

Dieses Problem soll nun als praxisrelevantes Problemfeld bearbeitet und mit konkreten Verbesserungsvorschlägen konfrontiert werden: „Mit anderen Worten: was lehrt die hier angestellte Interpretation den angehenden Lehrer?“

(ebd.: 294)

Der praktische Nutzen qualitativer Forschung liegt für Wernet also zum einen in der besonderen Reflexion typischer pädagogischer Situationen und zum anderen in der Entwicklung pädagogischer Lösungen für die rekon-struierten Problemfelder pädagogischer Interaktion. Diese Lösungen werden jedoch explizit nach der offenen empirischen Analyse der Strukturlogik der Interaktion vorgeschlagen, also erst nachdem klar ist, was das eigentliche Handlungsproblem ist. Dies illustriert er eindringlich am folgenden Trans-5 Es handelt sich also nicht um eine grundlagentheoretische Studie, die sich dem Problem der Praxisanwendung grundsätzlich verschließen könnte. Gleichwohl geht damit natürlich ein spezifischer Zuschnitt des Verfahrens einher, der speziell auf die Lehrerbildung zielt.

6 Damit ist er in einer Linie mit einer Homologiethese von Oevermann, der Fallverstehen in der sozialen Arbeit als reduzierte Form der Sequenzanalyse versteht: „Der professionell Handelnde [Sozialarbeiter] erweist sich so hinsichtlich der diagnostischen Anteile seiner Berufspraxis als naturwüchsiger objektiver Hermeneut, ohne je etwas von dieser Methodo-logie erfahren haben zu müssen.“ (Oevermann 2000: 58f.)

kript einer zunächst pädagogisch unscheinbaren und alltäglich anmutenden Situation:

„Schüler: Wenn geben Sie uns die Klassenarbeit wieder?

Lehrer: Nächste Woche.

Schüler: Oh, Sie haben sie doch schon drei Wochen.

Lehrer: Und wenn ich sie fünf Wochen hätte.

Schüler: Meine Mutter denkt schon, ich hab‘ die weggeschmissen.“

(Quelle: Wernet 2000: S. 276)

In der Sequenzanlayse arbeitet Wernet jedoch die besondere Asymmetrie der Interaktion heraus, die implizit die Voraussetzungen der berufsrollenförmi-gen Erwartungsstruktur des Lehrerhandelns widersprechen und somit auch die spezifischen Voraussetzungen der pädagogischen Kooperation korrum-pieren.7 Welche pädagogische Lösung ergibt sich aus der sequenzanaly-tischen Interpretation der betrachteten Unterrichtssequenz?

Etablierung einer normativen Analysegrundlage

Um dies zu beantworten, muss Wernet offenbar nun in eine Bewertung der Situation übergehen und konstatiert, dass die hier dargestellte Szene (aus pädagogischer Perspektive) eindeutig eine Form des „mißlungenen Lehrer-handelns“ (ebd.: 294) zu bezeichnen sei. Wernet leitet daraus eine spekula-tive Aussage ab, die er nicht anders als im Konjunktiv formulieren kann:

„Hätte der Lehrer unpersönlich gehandelt (hätte er sich also entschuldigt, nicht um dem Schüler einen Gefallen zu tun, sondern weil eben die Entschuldigung die eigene berufliche Arbeits-verpflichtung anerkannt hätte), hätte er damit gleichzeitig eine personale Achtung des Schülers zum Ausdruck gebracht. Wenn wir also auf der Folie des vorliegenden Mißlingens eine Gelin-gensmodell entwerfen, dann reklamiert dieses Modell den unpersönlichen Lehrer“ (ebd.: 295;

Eigene Hervorhebungen)

Das entworfene spekulative Gelingensmodell wird mit dem Rollenbild des leidenschaftslosen und unpersönlichen Lehrers sowie an das Konzept des

„pädagogischen Takts“ im Sinne Jakob Muths (1962) rückgebunden. Diese Konzepte werden nun also in den Dienst genommen, um das „normative Gelingensmodell“ (Wernet 2000: 297) für die Analyse nutzbar zu machen.

„Die Fallrekonstruktion zeigt einen Weg, wie diese notwendige Normativität pädagogischer Reflexion, will man nicht die erziehungswissenschaftliche Lehrerausbildung auf eine pädago-gische Ethiklehre reduzieren, in methodisch kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann. Lehrer-ausbildung folgt nicht einem von außen herangetragenen Modell des ‚Sein-Sollens‘ von Schule,

7 Auf die ausführliche und äußerst lehrreiche Rekonstruktion kann selbstverständlich an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Stattdessen beschränken wir uns auf die Frage, wie aus der Analyse heraus ein praktisches Handlungswissen gewonnen werden soll.

sondern stützt sich auf eine material gesättigte Rekonstruktion eines Gelingensmodells schuli-scher Interaktion.“ (Wernet 2000: 297)

Dieses Gelingensmodell wird allerdings nicht als technische Lösung verstan-den, die von den Studierenden im Sinne eines Rezepts eingesetzt werden soll.

Stattdessen sieht Wernet in der Fallrekonstruktion eine „methodisch kontrol-lierte Selbstreflexion“ (ebd.: 298), die für die spezifische Problemlage sensi-bilisiert und somit in situ auch reflexive Situationsdeutungen ermöglichen soll. Reflexion und Handlungswissen werden also explizit kombiniert.

Bewertung und Analyse

Im Gegensatz zum normativ-instrumentellen Design vertritt Wernet also einen deutlich abgeschwächten und methodisch-rückgebundenen Einbezug normativer Handlungsvorgaben. Das Ziel und die spezifische Leistung der Fallrekonstruktion bleibt für ihn die Fähigkeit, konkrete Reflexionspotentiale zu entwickeln. Die normativen erziehungswissenschaftlichen Konzepte des

„leidenschaftslosen Lehrers“ und des „pädagogischen Taktes“ dienen hier einer pädagogischen ad-hoc Lösungsstrategie, die auf eine erst durch ein offenes Herangehen gewonnene Problemkonstellation reagiert. Damit ist klar, dass es nicht das Ziel der empirischen Analyse ist, die eigentlichen Prob-lemlösungen zu entwickeln, sondern stattdessen die eigentlichen Problem-definitionen zu reflektieren, denen dann mithilfe präskriptiver Konzepte positive pädagogische Gegenhorizonte auferlegt werden können. Diese Ver-knüpfung von reflexiven und präskriptiven Erkenntnissinteressen kennzeich-net das problem-rekonstruktive Design.

Ein weiteres Beispiel

Auch die Untersuchung von Götz Krummheuer und Natalie Najouk, welche sich ähnlich wie die Studie Schüßlers auf Lernprozesse in Lehr-Lern-Situationen bezieht, ist problem-rekonstruktiv angelegt: Die Autoren gehen in ihrer Analyse ebenfalls ganz explizit der Frage nach, wie interpretative Forschung die Unterrichtspraxis verbessern könne und auch sie sehen den Nutzen interpretativer Unterrichtsforschung vor allem in der Reflexion der in situ nicht verfügbaren eigentlichen Handlungsproblematiken:

„Im Gegensatz zur Unterrichtspraxis ist die Unterrichtsforschung erstens frei von dem ent-sprechenden Handlungsdruck; zweitens stellt sie andere Fragen, nämlich nach dem WIE, und das eröffnet andere Zugänge. Möglicherweise können die so entwickelten theoretischen Produkte zu einer Veränderung der Praxis beitragen, indem sie auch denjenigen zugänglich gemacht werden, die in ihrem Alltag nur wenige Interpretationsalternativen entwickeln oder zulassen können.“

(Krummheuer/Najouk 1999: 24)

Für die Autoren ist die besondere Distanzierungsleistung qualitativer Metho-den also eine der tatsächlichen Handlungspraxis grundlegend fremde Praxis.

Krummheuer sieht die qualitative Forschung daher im Sinne Garfinkels einer

‚offiziellen Neutralität‘ verpflichtet und muss daher auf pädagogische Bewer-tungen der Handlungen verzichten (vgl. Krummheuer 2004: 113). Der Blick des Wissenschaftlers ist dabei befreit vom akuten Handlungsdruck und kann sich vom konkreten „Denkstil“ der Unterrichtspraxis distanzieren (vgl.

Krummheuer 1997: 96). Dies führt jedoch nicht dazu, dass pädagogische Handlungen nicht kritisiert werden sollen:

„Die als wirksam unterstellten Normen, Wertvorstellungen und Intentionen werden auf ihre rational analysierbare, tatsächliche Wirkung hin überprüft und damit zugleich kritisierbar. Dies mag zuweilen zu schmerzlichen Erkenntnissen führen.“ (ebd.)

Damit macht Krummheuer explizit, dass seine Analyse vor allem die Prob-leme konkreter „Denkstile“ in pädagogischen Settings aufdecken möchte und postuliert, dass „[…] die für interpretative Ansätze forschungsstrategisch und forschungsmethodisch begründete Fokussierung auf das „reine“ Verstehen von Unterrichtspraxis zu überwinden [sei, F.B./F.W.].“ (Krummheuer 2004:

114) Wir können daher leicht die Ähnlichkeit im methodologischen Grund-verständnis von Krummheuers Ansatz mit dem von Andreas Wernet feststel-len: Auch Krummheuer sieht den Nutzen qualitativer Methoden vor allem darin, Handlungsprobleme in pädagogisch-interaktiven Settings zu rekonstru-ieren, die dem situationsbedingten Denkstil im Alltag der Unterrichtspraxis nicht zugänglich sind. Und auch er nutzt pädagogische Überlegungen, um diese gewonnen Einsichten in adäquatere pädagogische Handlungsstrategien zu überführen. Um auch dies anhand eines gelungenen Forschungsbeispiels zu illustrieren, gehen wir kurz auf den von Krummheuer geprägten Begriff der „narrativen Unterrichtskultur“ ein. Das Erzählen – so die These von Krummheuer, die er aus seinen reichhaltigen Analysen gewinnt – stellt ein zentrales Kommunikationsmittel im Grundschulalltag dar. Dass das Erzählen dabei eine zentrale Grundkompetenz ist, die im Rahmen des Mathematik-unterrichts eingesetzt wird, ist an sich bereits ein äußerst interessanter, weil kontra-intuitiver Befund. Krummheuer kann jedoch auch zeigen, dass Erzäh-lungen wohl in der Regel eingesetzt werden, um als Veranschaulichung von Rechenwegen zu fungieren und insbesondere dann durch Argumentationen abgelöst werden, wenn die mathematischen Lösungsschritte nicht konsistent erzählt werden können. Für den Mathematikunterricht ergibt sich damit das überraschende pädagogische Handlungsproblem, wie narrative und argumen-tative Passagen lernfördernd miteinander vereinbart werden können. Um dieses Problem zu lösen, welches sich erst aus der Analyse der Unterrichts-transkripte offenbart, greift Krummheuer nun ebenfalls auf eine material-externe Erklärungsstrategie zurück, die er mithilfe eines spezifischen kultur-psychologischen Lernbegriffs, den er von Jerome Bruner übernimmt,

bewerkstelligt, die vor allem die Partizipation an Narrationen in den Vorder-grund rückt. Die Frage nach der Verbesserung des Unterrichts beantwortet Krummheuer nun also etwas verkürzt ausgedrückt damit, dass er erfolg-reiches Mathematik-Lernen als eine spezifische Realisierung einer narrativen Unterrichtskultur beschreibt. Dies wird entsprechend auch als Handlungs-maxime manifestiert: „Die Lehrer müssen bei den Geschichten der Schüler mehr zuhören und Schüler und Lehrer müssen ihre Geschichten anders erzäh-len.“ (Krummheuer 1997: 97) Krummheuer differenziert die Unterrichts-sequenzen entsprechend in partizipativ-lernförderliche und restriktive Unter-richtskommunikation (vgl. ebenfalls Krummheuer 2004). Der Maßstab dieser Unterscheidung liegt eindeutig auf einer präskriptiven Zuschreibung, die lerntheoretisch begründet und dann am Material illustrierbar ist. Die Auswahl dieses Maßstabes begründet sich dabei aus dem empirischen Befund der Analyse.