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Gegenstand“? Dekonstruktion der Mythen einer Theorieneutralität im rekonstruktiven

Forschungsprozess

Idealtypisch weist Wagner (1999) die empirisch begründete Theoriebildung in der rekonstruktiven Forschungspraxis als eine aus, in der ein induktiver Modus der erkenntnisgenerierenden Sinnerschließung kennzeichnend ist mit dem Ziel, intersubjektiv nachvollziehbare Aussagen zum Fall in der Span-nung von Allgemeinem und Besonderem herauszuarbeiten. Aber die Sprache des Falls kann nicht voraussetzungslos zum Sprechen gebracht werden. In der Zurückweisung eines naiven Induktivismus wird schließlich in der erzie-hungswissenschaftlichen Debatte die Frage „Was ist der Fall?“ diskutiert

(vgl. Wernet 2006; Hummrich/Hebenstreit/Hinrichsen/Meyer 2016). Daran anschließend wurde im vorangegangenen Abschnitt verdeutlicht, dass sich im rekonstruktiven Forschungsprozess die Thematisierungen des Falls – und damit die Gegenstandskonstruktionen – unhintergehbar in der Bezugnahme auf grundlagentheoretische Implikationen konstituieren. Diese sind bei der Konstruktion des Gegenstandes als Fragestellung bzw. Aufmerksamkeits- oder Problemfokus zu explizieren. Solche grundlagentheoretischen Konstitu-tive haben nunmehr im Forschungsprozess den epistemologischen Status von Heuristiken, denen ein paradoxer Stellenwert zukommt. So sind die grund-lagentheoretischen Vorannahmen zwar einerseits voraussetzungsreiche Bedingung für eine nachvollziehbare Erkenntnisgenerierung, die jedoch andererseits angesichts der empirisch begründeten Theoriebildung potentiell kritisch zu reformulieren sind. Der rekonstruktive Forschungsprozess nimmt demnach potentiell einen transformierenden Bezug auf die Ausgangstheo-reme, die als heuristische Bedingung der Ermöglichung einer Erkenntnis-generierung herangezogen werden. Die Entscheidung für einen theoretischen Bezugsrahmen im rekonstruktiven Forschungsprozess determiniert demnach die induktive Sinnerschließung also keineswegs, vorausgesetzt das heuristi-sche Rahmenkonzept wird in einer Vorläufigkeit und damit Offenheit heran-gezogen, um im Modus eines strukturierten Entdeckens die Suche nach Irrita-tionen im Forschungsprozess und dabei Impulse für AbdukIrrita-tionen gezielt zu emergieren.

Für die Formulierung eines heuristischen Rahmenkonzeptes erziehungs-wissenschaftlicher Forschung sind zweierlei Bezüge aufzugreifen: Zum Ers-ten ist ein Explikationsanspruch in Hinsicht auf den disziplinspezifischen Selektionsmodus und damit verbundene Aufmerksamkeitsfokussierungen bei der Beobachtung von Wirklichkeit herauszustellen. Damit geht die Schwie-rigkeit einher, das disziplinspezifische Anliegen der Erziehungswissenschaft durchaus auch in Differenzsetzung zu den Sozialwissenschaften zu markie-ren. Die Erziehungswissenschaft führt bereits in ihrer Eigenbezeichnung den Schlüsselbegriff der Erziehung mit, der in starker Konkurrenz zum Sozialisa-tions-, Lern- und vor allem zum Bildungsbegriff steht. Hier gilt es zukünftig herauszuarbeiten, inwiefern der gesellschaftliche bzw. kulturelle Wandel eine Verschiebung der disziplinspezifischen Fallbestimmung bedingt, so dass etwa anstelle des Erziehungsbegriffs vielmehr Bildung als neuer disziplinärer Schlüsselbegriff zu diskutieren ist. Damit verbunden ist eine Positionierung der Erziehungswissenschaft im erweiterten Feld der Bildungswissenschaft erforderlich. In der sozialwissenschaftlichen Ausrichtung des erziehungs-wissenschaftlichen Selbstverständnisses als kritische Beobachtungswissen-schaft von Bildungssystemen und -prozessen (vgl. Krüger 2010) wird zwar die Forderung nach einer Etablierung einheimischer Begriffe der Pädagogik und auch eine handlungswissenschaftliche Ausrichtung zurückgewiesen, jedoch ist damit der disziplinäre Kern nicht hinreichend bestimmt. Hier gilt

es dringlich Diskussionen zu führen, sonst steht die Erziehungswissenschaft als Disziplin in der Gefahr, in sozialwissenschaftliche Forschungsfelder zu diffundieren.

Die Konstruktion erziehungswissenschaftlicher Gegenstandsfokussierun-gen lässt sich von dem Anspruch einer heuristischen Explikation sozial-wissenschaftlicher Theoriebezüge nicht entkoppeln. So sind demnach zum Zweiten mit der erziehungswissenschaftlichen Bestimmung des Falls damit verbundene grundlagentheoretische Annahmen hinsichtlich der Generie-rungs- und Manifestationslogik von sozialem Sinn herauszustellen. Der so gewählte heuristische Theoriebezug ist zwingend zu explizieren, denn er strukturiert nicht nur die Stringenz der Gegenstandskonstruktion, sondern auch die Wahl von Methoden, die mit den gewählten Theoriebezügen metho-dologisch begründet werden. Der Theoriebezug der Gegenstandskonstruktion ist damit auch immer gleich Methodologie, in der sich die Methodenwahl begründet. Die gewählte Methode allein aus dem Gegenstand zu begründen, ist aufgrund der paradigmatischen Trias von Theorie, Gegenstand und Methode in der Perspektive von Methodenschulen nicht haltbar. Rekonstruk-tive Methodenansätze lassen sich nicht theoretisch voraussetzungslos aus dem Gegenstand ableiten. Denn schließlich ist auch eine Methode keine von theoretischen Implikationen entkoppelte Beschreibung einer Technik der Sinnerschließung. Vielmehr sind die Formen der Datenerhebung und -auswertung immer in einer spezifischen Auffassung der Entstehung und Sichtbarkeit von sozialem Sinn begründet. Somit sind im heuristischen Rah-menkonzept die theoretischen Implikationen der Gegenstandskonstruktion und der Methodenwahl zu vermitteln. Weder die Gegenstandskonstruktion noch die Methodenwahl kann theorieneutral vorgenommen werden, vielmehr müssen die Theoriebezüge expliziert und schließlich heuristisch in einen Kohärenzzusammenhang gestellt werden. Nur so wird die Nachvollziehbar-keit eines Forschungsdesigns gesichert. Im Folgenden wird noch gezeigt werden, dass auch mit einem methodologisch streng begründeten Design nicht das Potential für Erkenntnisgenerierung beschränkt wird und unweiger-lich „nur“ neue Erkenntnisse auf der Ebene gegenstandsbezogener Theorie-bildung denkbar sind. Festzuhalten bleibt, dass die Theorieneutralität bei der Gegenstandskonstruktion und Methodenwahl im qualitativ-rekonstruktiven Forschungsprozesses ein Mythos ist, der sich in einem metaphysischen Bezug auf Alltagstheorien gründet und verkennend verheißt, durch eine rekonstruktive Induktion voraussetzungslos die „Sprache des Falls zum Spre-chen zu bringen“ ist.

Die Relevanz der theoretischen Implikationen im heuristischen Rahmen-konzept sowohl für die Gegenstandskonstruktion als auch die Methodenwahl soll im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden. Als Datengrund-lage wird ein Protokoll aus dem schulischen Kontext, konkreter aus einem Abi-Gag in einem ostdeutschen Internatsgymnasium aus dem Jahr 1995,

aufgegriffen (vgl. ausführlich Böhme 2000). Es handelt sich um die Trans-kription eines handschriftlichen Skriptes einer „Grabrede“, die auf den ab-gehenden Jahrgang von einem Schüler, der als Pfarrer verkleidet war, im Schulgarten vor einem Sarg gehalten wurde. Diese deskriptive Kontextua-lisierung des Materials ist noch keine Fallbestimmung. Denn es ist weder eine Fragestellung noch ein Aufmerksamkeitsfokus hinreichend konkretisiert.

Was ist also der Fall? Betrachten wir dazu die Transkription und nehmen im Anschluss daran mögliche Gegenstandskonstruktionen aus der Perspektive differenter rekonstruktiver Forschungsparadigmen vor:

Im Namen des Nietzsche, Fichte und heiligen Klopstock Liebe Lehrer, Lieber Lichtenst.,

Euer Kind, der zwölfte Jahrgang, ist gestorben, Euer Kind, das niemanden glücklich gemacht hat und selbst voller Unglück war. Es kommt mir vor, wie ein kleiner Mensch, der alles Elend eines mißglückten Lebensabschnittes in sich versammelt. Dieser Jahrgang ist entstanden und geboren unter schlechten trügerischen Voraussetzungen, er hat in der Welt der Menschen kein Zuhause gefunden. Das Ja, das einige Menschen in seiner Umgebung zu ihm gesagt haben ist zu leise gewesen; über lange Strecken seines kurzen Lebens hat er es überhaupt nicht hören können … Das Protokoll kann nun different als Fall bestimmt werden, was hier nur skizzenhaft aus der Perspektive von drei Methodenschulen vorgenommen werden soll:

- Gegenstandskonstruktion aus der Perspektive des Genetischen Struktura-lismus und der Objektiven Hermeneutik: Entlang strukturtheoretischer Grundannahmen lässt sich das Protokoll als Ausdrucksgestalt einer schul-kulturellen Lebenspraxis thematisieren, die eine latente Bedeutungsstruk-tur aufweist. Deren widersprüchliche Ausformung und darin eingelassene Krisenpotentiale werden seitens der AkteurInnene fallspezifisch bearbei-tet. Diese Grammatik strukturiert auch die Interaktion der SchülerInnen-szene. Stringent kann hier etwa als Fall und damit Fragestellung formu-liert werden, welche Strukturproblematik diese Schulkultur ausgeformt hat und wie diese schülerseitig ggf. szenespezifisch im Rahmen der Abigag-Rede als Krise entäußert wird und darauf bezogen imaginäre Lösungsentwürfe konstruiert werden. Mit dem Theoriebezug des Geneti-schen Strukturalismus wurde methodologisch die Objektive Hermeneutik begründet, die dann auch als Methodenwahl für die Fallrekonstruktion angemessen ist (vgl. Oevermann 1983; Garz/ Ravens 2015).

- Gegenstandskonstruktion aus der Perspektive der Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode: Aus einer wissenssoziologischen Perspekti-ve ist das Protokoll Ausdruck eines kollektiPerspekti-ven Orientierungsrahmens, der in konjunktiven Erfahrungsräumen begründet ist. Hier könnte etwa als Forschungsfrage fallbestimmend formuliert werden, welche Orientie-rungsmuster in Hinsicht auf die Verantwortung des Schulerfolges und die

Bedeutung des Schulabschlusses sich bei den SchülerInnen in dem inter-natsschulischen Erfahrungsraum aufgeschichtet haben. In der Wissens-soziologie wurde methodologisch differenziert die Dokumentarische Methode begründet, die entsprechend stringent als rekonstruktives Ver-fahren aufzugreifen wäre (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2014).

- Gegenstandskonstruktion aus der Perspektive der Soziolinguistik und Narrationsanalyse: In der Soziolinguistik sind die Erzählformate Aus-druck von Verarbeitungsmustern, die in sedimentierten biographischen Erfahrungen begründet sind und sich in der Spannung von eigenverant-worteten Handlungsschemata oder fremdbestimmter Verlaufskurve aus-formen. Die Fallbestimmung könnte hier sein, inwiefern das gemein-schaftsstiftende Moment dieser SchülerInnenszene das (schul-)biographische Prozessmuster der Verlaufskurve ist bzw. wie die biographischen Erfahrungen der verschulten Lebenswelt seitens der Inter-natsschülerInnen narrativ verarbeitet werden. Für die Rekonstruktion sol-cher Prozessmuster wurde insbesondere die Narrationsanalyse etabliert, die hier stringent zur Anwendung kommen könnte (vgl. Schütze 2016).

Entlang der Skizzen wird deutlich, dass die genannten Methodenschulen differente Perspektiven für Fallbestimmungen bereitstellen, die in unter-schiedlichen Verständnissen begründet sind, wie einerseits sozialer Sinn generiert wird (in algorithmischen Bedeutungsstrukturen einer Lebenspraxis, in konjunktiven Erfahrungsräumen, in biographischen Verarbeitungsmustern) und wie sich dieser andererseits manifestiert (als spezifische Fallstruktur, als kollektiver Orientierungsrahmen, als biographisches Prozessmuster). Zentral dabei ist, dass die rekonstruktiven Verfahren – zum Beispiel die Objektive Hermeneutik, Dokumentarische Methode und Narrationsanalyse – for-schungspraktisch weitaus weniger Differenzen aufweisen, als ihre Theorie-bezüge, die für die Gegenstandskonstruktionen, ihre methodologische Begründung und die Theoretisierung der Ergebnisse zentral sind. Insofern reicht es eben nicht aus, im Forschungsdesign die Methodenwahl entkoppelt von den methodologischen Bezügen und damit ohne die Explikation eines Theoriebezugs zu begründen.

3 Qualitätsstandards im qualitativen