• Keine Ergebnisse gefunden

Perspektive 2035: Handlungsfelder für mehr Wohlstand

2 Handlungsfeld Arbeit

Das erste Handlungsfeld umfasst Maßnahmen zur Erhöhung des Arbeitsangebots. In Kapitel 2.3 wurde dargelegt, dass ohne solche Maßnahmen mit einer spürbaren Ver-ringerung des Arbeitsvolumens bis zum Jahr 2035 gerechnet werden muss. Kapitel 2.5 verweist auf die daraus resultierenden negativen Wachstumsbeiträge des Faktors Arbeit. Diese können ohne Reformmaßnahmen auch nicht durch die beiden anderen Wachstumsbeiträge der Faktoren Kapital und technischer Fortschritt kompensiert werden, um zum alten Wachstumspfad seit den 1990er Jahren zurückzukehren. Daher ist für die Beschäftigungsstrategie in Kapitel 2.6 von einem höheren Renteneintritts- alter, einer höheren Partizipationsquote und einer steigenden Arbeitszeit, insbeson- dere von Teilzeitbeschäftigten, ausgegangen worden.

Ein höheres Arbeitsangebot kann durch Variationen verschiedener Variablen erreicht werden, die jeweils durch politische Maßnahmen verändert werden können. Eine hö-here Jahresarbeitszeit (mehr Stunden im Jahr) sowie eine höhö-here Lebensarbeitszeit (mehr Arbeitsjahre im Berufsleben) sind wesentliche Stellschrauben für ein erhöhtes Arbeitsangebot. Eine höhere Erwerbsbeteiligung führt zudem dazu, dass mehr Men-schen länger in den Arbeitsmarkt integriert sind. An diesen Variablen im Handlungs-feld Arbeit knüpfen die folgenden Politikmaßnahmen an.

Höhere Jahresarbeitszeit

Die tarifliche Jahressollarbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer ist in Deutschland stark unterdurchschnittlich, der Anteil der Teilzeitbeschäftigung ist dagegen überdurch-schnittlich hoch. Letztere ist aber überwiegend freiwillig so gewählt. Bei den Urlaubs- und Feiertagen nimmt Deutschland einen europäischen Spitzenwert ein. Die Zahl der Überstunden ist im Trend stark rückläufig. Die durchschnittliche tarifliche Wochen-arbeitszeit ist seit einem Jahrzehnt unverändert. Sonn- und Feiertagsarbeit hat in Deutschland eine unterdurchschnittliche Verbreitung, die Zufriedenheit mit der Ver-einbarkeit von Familie und Beruf ist dagegen hoch.

Alles in allem bieten Niveau und Struktur des deutschen Arbeitszeitregimes daher de-finitiv keine Begründung für Forderungen nach einer Beschränkung der geltenden Ar-beitszeitregelungen. Ganz im Gegenteil: Der Arbeitszeitrahmen ist weiter zu flexibi-lisieren. Mit zunehmender Verbreitung von digitalen Kommunikationsmitteln steigt nämlich der zeitliche Flexibilitätsbedarf von Unternehmen, verbessern sich aber auch die Möglichkeiten zu räumlich und zeitlich flexibler Arbeit für die Beschäftigten. Mo-biles Arbeiten entwickelt sich immer mehr zu einer Aushandlungsgröße im betrieb-lichen Personalmanagement, die sich aber bisher in dem vom Arbeitszeitgesetz abge-steckten Rahmen zu bewegen hat.

Hinzu kommt eine weiter zunehmende Bedeutung der Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Belangen, die von der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen unterstrichen wird. Dies drückt sich unter anderem im Wunsch von Frauen nach einer vollzeitnäheren Teilzeitarbeit aus. Unterbeschäftigte in Teilzeit wollten im Jahr 2016 ihre Wochenarbeitszeit um durchschnittlich 14,6 Stunden erhöhen. Saldiert man Ver-kürzungswünsche von Vollzeittätigen und Verlängerungswünsche von Teilzeittätigen, ergibt sich rein rechnerisch ein Verlängerungswunsch von einer halben Wochenar-beitsstunde (Statistisches Bundesamt, 2017).

Angesichts der rasch zunehmenden Möglichkeiten mobilen Arbeitens und sich weiter ausdifferenzierender Erwerbswünsche ist zu begrüßen, dass es – namentlich im Zuge des „Arbeiten 4.0“-Prozesses des Bundesarbeitsministeriums – zu einer Debatte um neue Flexibilitätskompromisse zwischen Unternehmen und Beschäftigten gekom-men ist (BMAS, 2016). Arbeitszeit ist eine zentrale betriebliche Flexibilitätsressource.

Die Flexibilitätsbedarfe variieren mit der Komplexität des Geschäfts. Verstärkt durch die Digitalisierung von wirtschaftlichen Prozessen gibt es in vielen Bereichen quali-fizierter Arbeit zudem eine Tendenz zur Ergebnisorientierung von Arbeit.

Die Austarierung zwischen den Arbeitszeitwünschen von Betrieben und Beschäftig-ten einerseits und dem Wunsch nach mehr Arbeitszeitautonomie der BeschäftigBeschäftig-ten andererseits wird noch anspruchsvoller werden. Vor gesetzlichen Regelungen zur Konvergenz der Arbeitszeiten, erweiterten Rückkehrrechten und Wahlarbeitszeiten ist aber eindringlich zu warnen. Sie vermindern das angebotene Arbeitsvolumen bei

Engpassfachkräften – insbesondere im technischen Bereich – und senken die betrieb-liche Flexibilität (Schäfer, 2017).

Stattdessen sollte ausgelotet werden, welche Möglichkeiten zur Ausdehnung der bisherigen Regelungsgrenzen des Arbeitszeitgesetzes tarifdispositiv gestellt werden können. In sogenannten Experimentierräumen (BMAS, 2016, 126, 193) möchte das Arbeitsministerium für die Dauer von zwei Jahren unter anderem herausfinden, ob und unter welchen Bedingungen etwa von den arbeitszeitrechtlich bedingten Mindest - ruhezeiten von 11 Stunden abgewichen oder ein Wechsel von einer täglichen zu einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit vollzogen werden kann.

Längere Lebensarbeitszeit

Die durchschnittliche Dauer eines Arbeitslebens ist in Deutschland mit rund 38 Jah-ren im europäischen Vergleich überdurchschnittlich und hat sich in den vergangenen 15 Jahren um etwa dreieinhalb Jahre erhöht. Gleichzeitig steigt die Zahl der Jahre im Rentenbezug schneller als die Zahl der Erwerbsjahre. Maßnahmen zur Verlänge-rung der Lebensarbeitszeit bleiben daher weiter ganz oben auf der Agenda. Hervorzu-heben ist, dass Deutschland, unter anderem angestoßen durch die Rentenreformen seit den 1990er Jahren, große Fortschritte bei der Erwerbsbeteiligung älterer Arbeit-nehmer gemacht hat. Inzwischen gibt es nur noch in Schweden eine umfangreichere Alterserwerbstätigkeit.

Die Einführung der „Rente mit 63“ stellt demografiepolitisch einen Rückschritt dar.

Daher führt an einer weiteren Erhöhung des gesetzlichen und auch des effektiven Renten eintrittsalters kein Weg vorbei, wenn extreme Anpassungen im Rentenniveau oder beim Beitragssatz vermieden werden sollten (vgl. Kapitel 3.3). Diese Einsicht ist vor allem getrieben von der Entwicklung in der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Aber auch die Gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung stehen vor großen Herausforderungen angesichts eines altersabhängig steigenden Risikos und einer immer stärkeren Besetzung der Altersklassen mit überdurchschnittlich hohen Ausgaben. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Systeme immer wieder mit neuen Leistungen mandatiert, die zusätzliche Finanzierungserfordernisse begründen.

Die wichtigsten rentenpolitischen Eckpfeiler für die nächste Legislaturperiode sind daher (vgl. Kapitel 3.3): Erstens sollten Versorgungsversprechen über die bislang in der Gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Haltelinien hinaus vermieden wer-den. Das regelgebundene Sinken des gesetzlichen Versorgungsniveaus muss im Zweifel über die kapitalgedeckten und mit einem langfristigen Anlagehorizont ver-sehenen Säulen der Alterssicherung kompensiert werden, also über die betriebliche und private Altersvorsorge auf Basis freiwilliger Beitragszahlungen. Zweitens bedarf es einer weiteren schrittweisen Erhöhung des Rentenalters auch über die bereits be-schlossenen 67 Jahre hinaus. Drittens ist es aber auch wichtig, das effektive Renten-zugangsalter zu erhöhen. Dies entzieht sich zwar einem unmittelbaren Einfluss des

Gesetzgebers. Dennoch kann er den gesetzlichen Rahmen für Arbeitgeber und Arbeit-nehmer so gestalten, dass auch eine Beschäftigung im rentennahen Alter für beide Seiten attraktiv bleibt. Seitens des Gesetzgebers gehören hierzu beispielsweise das Arbeitsrecht und Regelungen der Vorruhestandsmöglichkeiten. Gefordert sind aber auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Neben den unmittelbaren rentenpolitischen Maßnahmen sollten auch der Lebens-verlauf und die Lebensphasen stärker in den Blick genommen werden. Wichtige Maß-nahmen sind hier etwa Demografie-Tarifverträge, ein betriebliches Gesundheitsma-nagement, der Abbau von Senioritätsprofilen – hier sind Tarifpolitik wie Arbeitsrecht gleichermaßen gefordert – sowie mehr Anreize zur Weiterbildung. Eine noch unter-entwickelte Maßnahme zur effektiven Verlängerung des Erwerbslebens sind Lang-zeitkonten. Diese müssen allerdings so gestaltet sein, dass sie Anreize zur effektiven Verlängerung der Lebensarbeitszeit setzen – und nicht zugunsten eines Ansparens für einen vorgezogenen Ruhestand.

Höhere Erwerbsbeteiligung

Beim Ziel einer höheren Erwerbsbeteiligung ist realistischerweise davon auszugehen, dass Potenzial im Wesentlichen noch bei Älteren, bei Frauen und bei bisher in unter-durchschnittlichem Umfang erwerbstätigen Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden ist. Der mit der Steigerung der Erwerbsquoten verbundene Hebel ist viel-fach die Erhöhung der pro Kopf geleisteten Arbeitszeit. Mit Blick auf das durch einen kombinierten Effekt mobilisierbare Arbeitsvolumen ist vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – für jüngere Menschen: Kinder und Beruf, für ältere Erwerbstätige:

Pflege und Beruf – eine bedeutsame Stellschraube. Mit der besseren Vereinbarkeit kann gleichzeitig auch eine höhere Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer einher-gehen.

Vereinbarkeitsförderliche Leistungen und Maßnahmen können Rahmenbedingun-gen schaffen oder verbessern, die es Personen mit Familienverantwortung – und hier insbesondere Müttern – ermöglichen, im gewünschten Umfang erwerbstätig zu sein.

Dabei kann es sich um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit von zuvor nicht erwerbs-tätigen Personen (Erhöhung der Beschäftigungsquoten), um eine Ausweitung der Ar-beitsstunden bereits erwerbstätiger Personen (Erhöhung der Jahresarbeitszeit) oder um eine Verkürzung kind- oder pflegebedingter Erwerbsunterbrechungen (Erhöhung der Lebensarbeitszeit) handeln. Familienpolitische Maßnahmen lassen sich stilisiert in die Kategorien Infrastruktur, Geld und Zeit einteilen (BMFSFJ, 2009):

Infrastruktur. Für den Ausbau staatlicher und staatlich geförderter Betreuungs-angebote können positive Effekte für alle familien- und wachstumspolitischen Ziele belegt werden (Prognos, 2014). Betreuungsangebote für unter Dreijährige wirken sich positiv auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auf die Wahl-freiheit aus. Wenn Kinder im Alter von unter drei Jahren betreut werden, dann ist

die Wahrscheinlichkeit, dass die Mütter erwerbstätig sind, deutlich höher als bei Müttern, die ihre Kinder nicht betreuen lassen. Auch die durchschnittliche Arbeits-zeit erwerbstätiger Mütter steigt spürbar, wenn ihre Kinder eine Kita besuchen.

Damit verbessert sich gleichzeitig die wirtschaftliche Stabilität der Familien.

Geld. Monetäre Leistungen wirken sich weniger eindeutig positiv auf die Erreichung der familienpolitischen Ziele aus als die Betreuungsinfrastruktur. Durch Maßnah-men wie etwa das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung für Ehepartner werden die Anreize zu einer eigenen Erwerbstätigkeit von Zweitverdie-nern und Mitversicherten nicht gestärkt. Eine monetäre Leistung, die einen positi-ven Beitrag zur Wachstumsvorsorge leistet, ist hingegen das Elterngeld. Insgesamt ist daher eine Verstärkung des Mitteleinsatzes für solche Maßnahmen anzustreben, die Erwerbsanreize für Frauen verbessern, um ein zusätzliches Arbeitsangebot zu generieren.

Zeit. Zeitpolitische Maßnahmen, wie etwa Elternzeit und Familienpflegezeit, aber auch Maßnahmen der familienbewussten Personalpolitik der Unternehmen, ha-ben unmittelbare Auswirkungen auf das Arbeitsangebot von Familien. Das The-ma Familienfreundlichkeit ist dabei für die Unternehmen wichtig, wie das breite betriebliche Angebot an familienpolitischen Maßnahmen zeigt (Hammermann/

Stettes, 2016). Allerdings ist das Thema Arbeitszeit deshalb so sensibel, weil es Teil individualvertraglicher, betrieblicher und tariflicher Aushandlungsprozesse ist und zudem zunehmend auch noch stark gesetzlich geregelt wird. Generell sind deshalb hier äußerste gesetzgeberische Zurückhaltung und ein größtmöglicher Vorrang für die betriebliche Personalpolitik angezeigt.