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Entwicklung der Bevölkerung bis 2035

2 Die IW-Bevölkerungsprognose

Allein im Jahr 2015 kamen durch die hohe Zuwanderung 1,1 Millionen Menschen mehr nach Deutschland, als von hier fortzogen – so viele wie nie zuvor. 2014 waren es bereits 550.000 Personen. Die Folge: Die Bevölkerung ist deutlich größer, als die Projektionen bisher annahmen. Das Statistische Bundesamt (2016a) schätzt den Be-völkerungsstand zum 31.12.2015 auf mindestens 81,9 Millionen Personen. Dies sind 550.000 Personen mehr als in der im Vorjahr veröffentlichten 13. koordinierten Bevöl-kerungsvorausberechnung.

Aufgrund der methodischen Kritikpunkte und der Abweichung zwischen der projizier-ten Bevölkerung in der 13. koordinierprojizier-ten Bevölkerungsvorausberechnung und dem tatsächlichen Bevölkerungsstand besteht ein Bedarf an aktuellen Informationen über die zukünftige Bevölkerung und ihre Altersstruktur. Bevölkerungsprognosen und Vor-ausberechnungen sind politisch hochrelevante Entscheidungsgrundlagen und sollten deshalb stets die Entwicklung am aktuellen Rand berücksichtigen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat vor diesem Hintergrund die eige-ne Bevölkerungsprognose entwickelt und im Mai 2016 veröffentlicht (Deschermeier, 2016). Sie soll für die kommenden zwei Jahrzehnte eine empirisch fundierte Grund-lage für Analysen und wirtschaftspolitische Empfehlungen bieten. Anders als die 13.

koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts ist die IW-Bevölkerungsprognose eine stochastische Bevölkerungsprognose. Dieser liegen Daten über die einzelnen demografischen Komponenten (Geburten, Sterbefälle und Nettomigration) zugrunde. Die Daten werden nicht mithilfe von Einschätzungen über die Entwicklung in der Zukunft fortgeschrieben, sondern durch statistische Modelle prognostiziert. Diese Methode gilt als aussagekräftiger als die Szenariotechnik und bietet dem Anwender einen inhaltlichen Mehrwert (Booth, 2006).

Denn ein zentrales Problem bei der Verwendung von Szenarien ist, dass den einzelnen Szenarien keine Eintrittswahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann. Hinweise auf

die tatsächliche Unsicherheit fehlen in der Regel. Eine stochastische Bevölkerungs-prognose zeigt dagegen den wahrscheinlichsten Entwicklungsverlauf, während die Spannweite der möglichen Entwicklung – also die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung – durch ein Intervall verdeutlicht wird. Diese Methode findet zunehmend Verbreitung. So existieren stochastische Bevölkerungsprognosen beispielsweise be-reits für das Vereinigte Königreich, Schweden oder die Niederlande.

Für stochastische Bevölkerungsprognosen haben sich Modellierungen auf Basis von Zeitreihenmodellen als methodischer Standard etabliert (Deschermeier, 2011, 737).

Dabei wird in drei Schritten die zukünftige Entwicklung der Bevölkerung berechnet:

Im ersten Schritt wird mit fünf Zeitreihenmodellen die vergangene Entwicklung der Fertilitätsrate, der männlichen und weiblichen Mortalitätsrate sowie der geschlechtsdifferenzierten Nettomigration geschätzt. Der gefundene Zusam-menhang wird auf die Zukunft übertragen. Diese Prognosen umfassen Punkt-schätzungen, die aufgrund der Zufallsvariablen der Modelle innerhalb eines Kon-fidenzintervalls liegen.

Im zweiten Schritt wird eine Ausgangsbevölkerung mit den Rechenregeln der Kohorten-Komponenten-Methode vorausberechnet. Doch anders als beim de-terministischen Ansatz, der mit konkreten Werten für Geburten, Sterbefälle und Nettomigration arbeitet, liegen die stochastischen Prognosewerte in einem Schwankungsbereich. Deshalb werden durch eine Simulation mehrere Tausend Entwicklungsverläufe der Bevölkerung geschätzt und die Ergebnisse in einer Da-tenbank gespeichert. Diesen Berechnungen liegen simulierte Werte für Geburten, Sterbefälle und Nettomigration zugrunde.

Aus diesen Ergebnissen bestimmt sich im dritten Schritt die Verteilung der Bevöl-kerung. Der Median dieser Simulationen dient dabei als mittlere Bevölkerungsent-wicklung und das 10. und 90. Perzentil stellen die Unter- und Obergrenze des Prog-noseintervalls dar. Diese Intervallgröße gilt in der Literatur als Standard, da sie den Trade-off zwischen Größe des Intervalls und Eintrittswahrscheinlichkeit sinnvoll kalibriert (Hyndman/Ullah, 2007, 4950). Die zukünftige Bevölkerung wird somit mit einer Wahrscheinlichkeit von vier zu eins in diesem 80-Prozent-Prognoseintervall liegen (Keilman, 2008, 23).

Die IW-Bevölkerungsprognose nutzt das Zeitreihenmodell von Hyndman/Ullah (2007) für die Modellierung und Prognose der Fertilitätsraten. Dieses Modell ist robust ge-genüber Strukturbrüchen und zeigt darüber hinaus bessere Prognoseeigenschaften im Vergleich zu herkömmlichen Alternativen, zum Beispiel dem Lee-Carter-Modell (Hyndman/Ullah, 2007, 4953; Hyndman et al., 2013, 265). Die Schätzungen der Morta-litätsrate und der Nettomigration basieren auf dem Modell von Hyndman et al. (2013), einer Erweiterung des Ansatzes von Hyndman/Ullah (2007). Es berücksichtigt die

Kor-relation zwischen den Geschlechtern der zugrunde liegenden demografischen Rate.

Dies ist sinnvoll, da beispielsweise die Faktoren, die zu einem Anstieg der Lebenser-wartung führen (Wissen über gesunde Ernährung, Zugang zu medizinischer Versor-gung), für Männer und Frauen gleichermaßen wirken. Eine verständliche mathema-tische Darstellung der Modelle liefert Deschermeier (2011).

Die für die IW-Bevölkerungsprognose verwendeten Zeitreihenmodelle nutzen das Paradigma funktionaler Daten (Ramsay/Silverman, 2001). Dieser Ansatz beschreibt eine Denkweise für den Umgang mit Datenreihen. Die Grundidee besagt, dass Beob-achtungen einer Reihe nicht unabhängig voneinander sind, sondern einem funktio-nalen Zusammenhang folgen, also durch ein statistisches Modell abgebildet werden können. Optisch ähneln sich diese Kurven, jedoch verschiebt sich die jeweilige Lage über einen Beobachtungshorizont.

Demografische Merkmale haben die Eigenschaft, dass die verschiedenen Kurven eines Merkmals optisch ähnlich aussehen. Abbildung 2.2.1 verdeutlicht dies am Beispiel der logarithmierten Mortalitätsrate. Diese beschreibt das Verhältnis gestorbener Perso-nen eines Alters innerhalb eines Jahres zur Gesamtzahl der PersoPerso-nen dieser Kohorte.

Die logarithmierte Form der Mortalitätsrate eignet sich besonders für die funktionale Datenanalyse, da sie eine charakteristische Optik aufweist. Der Verlauf der einzelnen Kurven, die für ein bestimmtes Betrachtungsjahr stehen, ist über den kompletten Altersbereich sehr ähnlich. Jedoch verschieben sich die Kurven über die Zeit nach

un-Mortalitätsrate von Frauen1) Abbildung 2.2.1

nach Alter, logarithmierte Werte

1) Anteil der Todesfälle von Frauen nach Alter, in Prozent der gleichaltrigen Frauen.

Daten: http://link.iwkoeln.de/330401 Eigene Berechnungen

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 –4,5

–4,0 –3,5 –3,0 –2,5 –2,0 –1,5 –1,0 –0,5 0,0

1970 1980 1990 2000 2010

Alter, in Jahren

ten. Aus diesem Absinken der Sterblichkeit resultiert der stetige Anstieg der Lebens-erwartung, der in Deutschland zu beobachten ist (Gaber/Wildner, 2011, 14). Aufgabe eines Zeitreihenmodells, das auf der funktionalen Datenanalyse aufbaut, ist es, eine derartige Entwicklung abzubilden und eine Prognose über die Entwicklung in der Zu-kunft abzugeben.

Grundsätzlich sind in der funktionalen Datenanalyse zwei Variationen über die Zeit be-deutsam (Ramsay/Silverman, 2001, 5823): Das Amplitudenrauschen beschreibt eine vertikale Veränderung der Kurve, während die Phasenverschiebung eine horizontale Verschiebung der Kurve misst. Ein bekanntes demografisches Beispiel ist die Verän-derung der Fertilitätsrate in den letzten Jahren. So ist der Trend zu beobachten, dass Geburten auf einen späteren Lebensabschnitt verschoben werden. Die Kurve wandert auf der Altersachse nach rechts. Da aber Geburten aus biologischen Gründen nicht beliebig weit verschoben werden können, werden sie in späteren Lebensabschnitten verstärkt nachgeholt. Die Kurve wandert deshalb nicht nur nach rechts, sondern auch der Hochpunkt steigt an. Dieses Verschieben einer Kurve über die Zeit und ihre dyna-mische Veränderung durch Amplitudenrauschen und Phasenverschiebung sind in der Literatur als Time-Warping-Ansatz bekannt (Ramsay/Silverman, 2001, 5823).

3 Die Bevölkerungsentwicklung