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6. Möglichkeiten des pädagogischen Umgangs

6.3. Eine Halt gebende Beziehung

Eine gesunde Autonomie innerhalb von Bindungen entwickelt sich im Rahmen von sicherern Bindungen bis ins spätere Jugendalter, so die Bindungsforscher Klaus und Karin Großmann. „Dabei können vor allem Erzieher und andere wichtige Per-sonen auch außerhalb der engen Kernfamilie eine entscheidende Rolle spielen“

(2002, S. 51). Das bisherige Erfahrungswissen aus Psychotraumatologie und Bin-dungsforschung weist darauf hin, dass eine Korrektur des Verlustes von Vertrauen durch neue und positive Beziehungsmodelle den vielleicht wichtigsten Ansatz-punkt zur Bearbeitung von traumatischen Kindheitserfahrungen darstellt (vgl. Weiß 2008, S. 99; Hüther 2006). Aus diesem Grund brauchen traumatisierte Kinder und Jugendliche Halt gebende und kontinuierliche Beziehungsangebote.

Auch wenn es Kindern und Jugendlichen in Heimerziehung schwer fällt bzw.

manchmal sogar unmöglich erscheint zu vertrauen, sind sie auf diese Beziehungs-angebote angewiesen. „Sie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten, nach Erwachsenen, die persönliche Verantwortung gerade für sie ü-bernehmen würden […]“ (Wieland et al. 1992, S. 95). Wilma Weiß beschreibt das Heim dann als akzeptable Alternative, wenn es gelingt mindestens eine „exklusive

47So ermittelte Weiß in einer Studie zu Belastungen von Pädagogen im Alltag mit traumatisierten Kindern, dass viele professionelle Helfer diesen Mangel mit einer Angst vor Stigmatisierungen be-gründen. Viele PädagogInnen gaben an, dass sie betroffene Kinder zunächst ohne jegliches Vor-wissen kennen lernen wollen, damit Gefühle wie Mitleid oder Hilflosigkeit das professionelle Handeln nicht blockierten. Auch der Erziehungswissenschaftler Wolf bewertet die fehlende Auseinanderset-zung mit den Lebensgeschichten v. Jugendlichen in Heimerziehung als eine „Mangelsituation“ (vgl.

Weiß 1999; Wolf 2000, S. 20).

Beziehung“ (2008, S. 100) anzubieten. Eine solche Beziehung bedeutet nicht un-bedingt die Investition von viel Zeit, sie zeichnet sich vor allem durch Respekt, Zu-verlässigkeit und Transparenz aus. Eine vertrauensvolle und exklusive Beziehung kann dabei nur entstehen, wenn die Lebensgeschichte und Herkunftsfamilie des Kindes nicht verleugnet wird. Oftmals bedeutet die Auseinandersetzung mit der Le-bensgeschichte der Mädchen und Jungen in Heimerziehung sogar eine erstaunli-che Intensivierung der professionellen Beziehung (vgl. ebd., S. 100f). Judith L.

Herman benennt als grundlegende Prinzipien einer „heilenden Beziehung“ zum ei-nem die Persönlichkeitsstärkung bei gleichzeitiger Übernahme der Rolle eines be-schützenden Elternteils (vgl. Herman 1996, S. 183). Eine derart gestaltete Bezie-hung erlaubt es den Kindern, sich im Sinne von Autonomiebestrebungen neue und positive Entwicklungsräume zu erschließen, anstatt sich in der eingrenzenden Welt des Traumas zu bewegen (vgl. Baierl 2008, S. 221). Wenn es dann noch gelingt, frühe Bindungserfahrungen und damit verknüpfte emotionale Erfahrungen, auf der sprachlichen Ebene kommunizierbar zu machen, sind betroffene Kinder diesen ne-gativen Gefühlen nicht mehr hilflos ausgesetzt (vgl. Weiß 2008, S. 101). In dieser Bearbeitung liegt die Chance der Pädagogik:

„Mit Vorsicht und Behutsamkeit können PädagogInnen die Kinder und Ju-gendlichen dabei unterstützen, ihre alten Bindungserfahrungen mit den aktu-ellen Bindungserfahrungen zu vergleichen. Möglicherweise ist dies ein Weg für sie, selbst- und fremdschädigende Bindungsmodelle zu korrigieren, unsi-chere, vermeidende oder desorganisierte Bindungsmuster in ein sicheres bzw. ein weniger sicheres Bindungsverhalten verwandeln zu können“ (ebd., S. 101).

Zur Veränderung traumatischer Bindungsmodelle schlägt John Bowlby fünf thera-peutische Aufgaben vor, die auch in der Pädagogik anwendbar sind:

Fünf pädagogische Aufgaben

1. Die Pädagogen sollten als sichere Basis verfügbar sein.

2. Der Pädagoge kann die Kinder und Jugendlichen zum Reden über unbe-wusste Voreingenommenheiten und Übertragungen alter Bindungsinhalte ermutigen.

3. Dabei können die Kinder die Beziehung zu den Pädagogen überprüfen.

4. Und aktuelle Wahrnehmungen und Gefühle mit alten Bindungserfahrungen von früher vergleichen.

74 5. Dadurch wird möglicherweise die Erkenntnis erleichtert, dass die alten

Bin-dungsmodelle für die Gestaltung des zukünftigen Lebens unangemessen sind, bzw. sein werden (vgl. Bowlby 1995, S. 129ff; Weiß 2008, S. 101).

Eine solche Unterstützung geschieht im direkten und alltäglichen Kontakt mit den Kindern und erfordert eine veränderte Haltung der Pädagogen. Als Voraussetzung für positive Bindungserfahrungen in der stationären Jugendhilfe beschreibt Barbara Senckel die personenzentrierte Haltung nach Carl Rogers, welche aus drei zentra-len Grundansätzen besteht:

• Eine von Wertschätzung und Respekt getragene Achtung vor dem Kind;

• Eine Bezugsperson, die sich mit ihrem Kopf und Herzen auf die Persönlich-keit des Kindes einlässt und eine Basis sucht von der sie vorbehaltlos „Ja“

zu dem Kind sagen kann;

• Eine grundlegende Echtheit des Beziehungsangebotes (vgl. Senckel 2007, S. 65; Weiß 2008, S. 102).

Respekt und Wertschätzung für das Kind erwachsen dabei zum einem aus dem Blick auf die Lebensgesichte und die daraus entwickelten Überlebensstrategien und zum anderen aus dem Glauben an die Selbstheilungskräfte und positiven Ent-wicklungsmöglichkeiten dieser Kinder. Eine vorbehaltloses „Ja“ ermöglicht ein Ein-fühlen in das Kind und beinhaltet den Wunsch, die teilweise extrem belastenden Verhaltensweisen zu verstehen. Eine derart gestaltete pädagogische Arbeit setzt eine hohe Beziehungskompetenz der Pädagogen in den stationären Jugendhilfen voraus. Sie sollten über Grundkenntnisse der Bindungstheorie, der Entwicklungs-psychologie und der →Psychotraumatologie verfügen. Außerdem bedarf es einer regelmäßigen Reflexion möglicher Übertragungsphänomene und des eigenen Bin-dungsverhaltens (vgl. Weiß 2008, S.102f).

Es gilt sich darauf einzustellen, dass Beziehungen oft hart auf die Probe gestellt werden. Zum einem müssen diese Kinder und Jugendlichen (in Form von unter-schiedlichsten „Beziehungstests“) immer wieder überprüfen, ob sie sich tatsächlich auf ihre Pädagogen verlassen können. Zum anderem sollten Helferbeziehungen fest genug sein, dass „[…] Jugendliche auch Gefühle intensiver Angst, Wut und Aggressivität erleben und ausleben können, ohne zurückgewiesen zu werden“

(Baierl 2008, S. 221). Hierbei kann es sich um Übertragungen früherer Beziehungs-inhalte wie auch um getriggerte Reaktionen handeln. Pädagogen bekommen dann

schnell die Wut zu spüren, die eigentlich dem Missbraucher gilt. In diesem Übertra-gungskontext ist es notwenig Inhalte zu erkennen und mit betroffenen Kindern zu thematisieren. Je klarer sich Pädagogen dabei in der Rolle des professionellen Hel-fers verorten, desto leichter wird es auch betroffenen Kindern fallen, diese Rollen-klarheit für sich anzunehmen. Traumabedingte Dynamiken führen im Alltag immer wieder zu komplexen Situationen. Nähe und Distanz sollten beständig so balan-ciert werden, dass sowohl das Abgrenzen als auch das sensible Eingehen auf das Kind gelingen kann (vgl. ebd., S. 221f). Als Modell für eine professionelle Bezie-hungsgestaltung schlägt Schmid daher die Grundhaltung der →Dialektischen Be-havioralen Therapie von Marsha Linehan mit ihrem mittleren professionellen Bezie-hungsabstand und der Achtsamkeit für die Grenzen der Pädagogen vor (vgl.

Schmid 2008, S. 294). Martin Baierl empfiehlt:

„Es gilt, sich weder von den traumatischen Geschichten noch von den Folgesym-ptomen zu sehr beeindrucken zu lassen, sondern einen pädagogischen Umgang damit zu finden. Geduld mit sich selbst, den Jugendlichen und Veränderungspro-zessen schützt alle Beteiligten vor Überforderung und Versagensgefühlen. Letzt-endlich bestimmen die JugLetzt-endlichen das Tempo der Entwicklung. Darauf zu ver-trauen, dass die Jugendlichen über Ressourcen der Heilung verfügen und man selbst nur einen förderlichen Rahmen dafür zur Verfügung stellt, wird vielfach als Entlastung erlebt“ (ebd., S. 222).