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Grundlegende Herangehensweisen und Angebote

Kapitel 3: Ergebnisse

4.1 Grundlegende Herangehensweisen und Angebote

1. Die in den vergangenen Jahrzehnten gesammelten Praxiserfahrungen sowie die (wenigen) arbeitsfeldbezogenen Evaluationen lassen den Schluss zu: Eine Erfolg versprechende direkte soziale und pädagogi-sche Arbeit mit rechtsextrem gefährdeten und auch mit rechtsextrem orientierten jungen Menschen ist möglich, ja sie ist erforderlich. Des-halb ist unverständlich, dass nur rd. 4% der Projekte der Bundespro-gramme sie betreffen. Ein Ausbau dieses Ansatzes ist unbedingt an-zustreben.

2. Seine zentralen Zielsetzungen liegen darin,

 der Gesellschaft als Ganzer ein Zusammenleben innerhalb demokrati-scher Verhältnisse zu ermöglichen und Gefährdungen solcher Ver-hältnisse entgegenzutreten,

 für die jungen Generationen ein Aufwachsen und politische Sozialisa-tionsprozesse sicherzustellen, die ‚demokratiekompatibel’ sind,

 rechtsextrem gefährdete Jugendliche aus ihrer Gefährdung herauszu-lösen bzw. ihnen bei aktiven Prozessen des Sich-Herausarbeitens aus entsprechenden Gefährdungslagen Unterstützung zu leisten,

 bereits rechtsextrem orientierte Jugendliche für die Demokratie zu-rückzugewinnen.

Gewünschte Effekte entsprechend zielgerichteter Praxen, einerlei ob sie als ,Erfolg‘, ,Wirksamkeit‘, ,Nutzen‘ oder ähnlich bezeichnet wer-den, sind in ihrer Realisierung an der Erreichung eben dieser Zielset-zungen zu bemessen.

3. Direkte soziale und pädagogische Arbeit mit rechtsextrem gefährde-ten und mit rechtsextrem orientiergefährde-ten jungen Menschen ist im Allge-meinen umso eher gegenüber rechtsextremen Haltungen und Organi-sierungsversuchen distanzfördernd bzw. distanzierungswirksam, je früher sie im biografischen Verlauf von Gefährdeten und Orientierten auf (potentielle) Affinisierungsprozesse Einfluss nimmt.

4. Die Adressat_innengruppierungen, auf die in diesem Sinne von Ju-gendarbeit, Schule und anderen auf Jugendliche ausgerichteten In-stanzen (nicht ausschließlich41 aber) schwerpunktmäßig fokussiert werden sollte, sind

 lebensaltersspezifisch betrachtet die Altersgruppierung der ca. 12- bis 16-Jährigen,

 prozessbezogen betrachtet die Gruppierung der möglichst noch nicht in einen Konsolidierungsprozess ihrer rechtsextremen Orientierung eingetretenen – zumindest dort nicht weit fortgeschrittenen – Ju-gendlichen,

 organisierungsbezogen betrachtet die Gruppierung der (noch) nicht Organisierten bzw. nicht fest in rechtsextreme Szenen und Bewe-gungselemente Eingebundenen,

 nach den ‚klassischen’ sozialarbeiterischen Methoden betrachtet nicht nur Jugendliche, die sich in lebensweltlich strukturierten (extrem)

‚rechten Cliquen’ zusammenschließen, sondern auch vermehrt einzel-ne Jugendliche oder situativ wechselnde ‚Klein-Kollektive’ von zwei bis drei, vier Personen, die weder die Größe noch die Struktur von Cliquenförmigkeit aufweisen und dabei entweder ‚unterhalb’ des Selbstorganisierungsgrades dieser sozialen Assoziationen liegen o-der(/und) an ein breiteres, dann aber auch zumeist eher unverbindli-ches Szenegeflecht angebunden sind.

5. Die grundlegende Strategie im Umgang mit rechtsextrem gefährde-ten bzw. orientiergefährde-ten jungen Leugefährde-ten besteht in der Strategie des Offe-rierens funktionaler Äquivalente. Zu verstehen ist darunter das Vor-halten von subjektiv aus der Adressat_innenperspektive als gleich-wertig zu betrachtenden Angeboten für jene Befriedigungsformen von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen, die junge Menschen in-nerhalb extrem rechter Haltungs- und Organisierungszusammenhän-ge suchen. Denn nicht die Bedürfnisse selbst, die zu einer Hinwen-dung nach ‚rechtsaußen’ führen, sind das zentrale Problem; die Art und Weise der Befriedigung ist es, die von den Rechtsextremen ver-sprochen und z. T. bei ihnen auch erfahren wird.

6. Wissenschaftlich fundiert innerhalb von sozialer und pädagogischer Arbeit mit rechtsextrem gefährdeten bzw. orientierten Jugendlichen zu arbeiten, bedeutet deshalb, konzeptionell von jenen Funktionszu-sammenhängen auszugehen, die das ‚Rechtssein’ bzw. die extrem rechte Inszenierung für ihre Träger erfüllen sollen. Diese sind wissen-schaftlich (mehr oder minder) gut untersucht und daher bekannt. Sie betreffen die Lebensgestaltungsbedürfnisse von Jugendlichen in den Bereichen der Kontrolle des eigenen Lebensgeschicks, der Integration in soziale Kontexte, des befriedigenden sinnlichen Erlebens sowie der Sinnerfahrung und tangieren die Entwicklung persönlicher Selbst- und Sozialkompetenzen (vgl. Unterkapitel 3.3.7).

7. Wenn es also gilt, den Deutungs- und Aktionsangeboten, die von der extremen Rechten – manchmal aber auch von Angehörigen der ‚Mitte’

der Gesellschaft (s. o.) – an Jugendliche herangetragen werden, durch eigene Angebote den ‚Wind aus dem Segel’ zu nehmen und so für die dahinter liegenden Bedürfnisse mindestens gleichwertige, besser aber:

attraktivere Befriedigungen zugänglich zu machen, so ist zu reflektie-ren, dass es im Wesentlichen (Alltags-)Erfahrungen sind, die Jugendli-41 Ausstiegshilfen etwa oder Projekte politischer Bildung im Gefängnis sind anders zugeschnitten, stellen sehr wohl aber Formen der direkten Arbeit mit rechtsextrem Orientierten dar, deren Notwendigkeit und Bestand nicht in Frage zu stellen sind.

che für Rechtsextremismus, einzelne Bestandteile davon und sie er-gänzende und bestärkende Ablehnungskonstruktionen, wie sie die sog. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit beinhaltet, anfällig macht. Daraus wiederum ist zu schlussfolgern, dass die Strategie funk-tionaler Äquivalenzvermittlung darauf ausgerichtet sein muss, die für Rechtsextremismus anfällig machenden Erfahrungen durch andere Er-fahrungen zu ersetzen, denn Belehrungen können gegen Erfahrungen nichts ausrichten. Dementsprechend ist nach wie vor Alltags- und So-zialisationshilfe das, was eher als ‚verkopfte’ politische Bildung rechts-extremen Orientierungen und Gefährdungen effektiv entgegenarbei-ten kann.

8. Erfahrungsorientierung inkludiert, sich nicht in erster Linie darauf zu konzentrieren, bei der sog. Klientel Defizite abzubauen, sondern dort Ansatzpunkte für sozialarbeiterisches/pädagogisches Handeln zu se-hen, wo Ressourcen vorliegen. Dies können z. B. legitime Interessens-gebiete, sozio-emotionale Kompetenzen und Verhaltensweisen ein-zelner Jugendlicher selbst sein, die (noch) nicht rechtsextrem über-formt sind. Es kann sich um sozial repräsentierte Ressourcen z. B. im Peer-Kontext handeln. Es können aber auch Ressourcen sein, die sich im weiteren Umfeld der Jugendlichen (Familie, Verwandtschaft, Ver-ein, Kirchengemeinde etc.) finden. Die zentrale strategisch-praxisbezogene Frage ist: Wie können diese Ressourcen genutzt und ausgebaut werden, um für die Jugendlichen den Sinn und den Nutzen demokratischen Handelns im Alltag möglichst unmittelbar erfahrbar werden zu lassen?

9. Um das soziale Umfeld von jugendlichen Adressat_innen einbeziehen zu können, bedarf es im Zuge der Einbringung und Einbindung des Ansatzes der direkten sozialen und pädagogischen Arbeit mit Jugend-lichen in ein Gesamtkonzept der gesellschaftJugend-lichen Bearbeitung der Rechtsextremismus-Problematik einer Vernetzung der daran insge-samt beteiligten Akteure. Dies gilt in erster Linie für die Akteure im unmittelbaren Sozialraum – etwa des Stadtteils oder der Stadt –, aber auch für die darüber hinausreichenden Ebenen des Landkreises, der Region, des Bundeslandes und des Bundes sowie für internationale Bereiche. Konkret bedeutet Vernetzung in diesem Sinne Informations-austausch, wechselseitige Anregung, Abstimmung, Absprache und Zusammenarbeit – soweit dies fachlich und sachlich angezeigt und nicht vergleichsweise wenig anspruchsvollerer Dialog hinreichend ist (vgl. dazu im Verhältnis von Sozialer Arbeit zur Polizei z. B. die Beiträ-ge in Möller 2010; eher noch problematischer ist das Verhältnis zu Or-ganen des Verfassungsschutzes). Kooperatives Zusammenwirken be-trifft dabei in erster Linie die gemeinsame Verantwortungsübernahme bei klarer Zuständigkeitsverteilung von

• Jugendarbeit,

• Schule und Schulsozialarbeit bzw. Sozialarbeit an Schulen,

• Einrichtungen der Erziehungshilfe,

• weiteren Einrichtungen der Sozialen Arbeit,

• Einrichtungen der Familien- und Erwachsenenbildung,

• politischen Akteuren,

• Verwaltungsbediensteten sowie

• zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Eine von den genannten Trägern und Akteuren abgekoppelte direkte Arbeit mit rechtsextrem gefährdeten und orientierten jungen Men-schen kann deshalb keine nachhaltige Wirkung entfalten, weil der so-ziale Raum, in dem sich die (politische) Sozialisation von Jugendli-chen vollzieht, bei einer davon isolierten Arbeit mit potentiellen oder tatsächlichen jugendlichen Problemträger_innen unberücksichtigt bliebe. Angesichts dessen, dass Prozesse rechtsextremer Affinisie-rung aber auf die gesamten AlltagserfahAffinisie-rungen der Betroffenen so-wie ihre subjektiven Bilanzierungen zurückzuführen sind und dabei gerade auch die sozialräumlich verfügbaren Aktions- und Deutungs-angebote orientierend wirken, muss der Einfluss von anti- und/oder undemokratischen Orientierungen aus diesem Raum unterbunden werden. Mehr noch: Die (Re-)Produktion solcher Orientie-rung(svorlag)en, also etwa antisemitischer, ethnisierender und natio-nalistischer Deutungen, muss gestoppt werden.

10. Praxis nur auf die definitorischen Kernbestandteile von rechtsextre-men Haltungen hin auszulegen, zöge im besten Falle nach Durchfüh-rung entsprechend thematisch zugeschnittener Maßnahmen die Kon-sequenz nach sich, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und/oder andere Aspekte von Rechtsextremismus abgebaut zu ha-ben. Ein solcher ‚Erfolg’ wird sich indes rasch als ein vermeintlicher erweisen. Denn zu bedenken ist, dass es sich um Elemente eines Syn-droms handelt, zu dem auch andere Ablehnungskonstruktionen wie Is-lam- und Muslimfeindlichkeit, Heterosexismus, Antiziganismus u. a. m.

gehören, und dass diese Syndromfacetten untereinander Be- und Ver-stärkungsfunktion ausüben, weil ihnen ein Kern gemeinsam ist: gleichheitsvorstellungen im Sinne von Ungleichwertigkeits- und Un-gleichbehandlungsvorstellungen. Die Absicht, Rechtsextremismus nachhaltig abbauen zu wollen, verfehlt ihr Ziel, solange nicht auch die-se (und andere) verwandte Elemente von Ungleichheitsvorstellungen angegangen werden. Pädagogische und sozialarbeiterische Rechts-extremismusbearbeitung ist daher in den Kontext der sog. Gruppen-bezogenen Menschenfeindlichkeit zu stellen.

Dies gilt umso mehr, als in der Migrationsgesellschaft, in der wir leben, auch Jugendliche mit sog. Migrationshintergrund einerseits rechtsext-reme, ethnisierende, antisemitische und nationalisierende Haltungen zeigen, andererseits diese Haltungen in vielen Fällen mit Frauenab-wertung, Heterosexismus, dem Reklamieren von Etabliertenvorrech-ten gegenüber später ZugewanderEtabliertenvorrech-ten und ähnlichen Orientierungen und Verhaltensweisen einhergehen.