4 MYKOTOXIN‐RISIKOMANAGEMENT
4.4 Grundlagen der wissenschaftlichen Klassifizierung von Risiken entsprechend des
Vom dem Begriff der intuitiven Risikowahrnehmung durch Laien, der in Kapitel 4.3 beschrieben wurde, muss die wissenschaftliche Risikoanalyse und die Risikoklassifizierung unterschieden werden. Die Risikoanalyse wird von Experten vorgenommen und vielfach als rational bezeichnet, weil sie sich im Wesentlichen auf Sach‐, Gesundheits‐ und Umweltschäden beschränkt (WBGU, 1999, S. 40). Damit bildet die Risikoanalyse die Basis für eine wissenschaftliche Klassifizierung eines Risikos (WBGU, 1999). Laut WBGU (1999, S. 308) lässt sich der Begriff „Risiko“ rational folgendermaßen pauschal charakterisieren:
R = W • A,
wobei W {0, 1} die Eintrittswahrscheinlichkeit des schadenswirksamen Ereignisses und A > 0 das Schadensausmaß bezeichnet. Damit stellen die Eintrittswahrscheinlichkeit und das Schadensausmaß die beiden zentralen Kategorien des wissenschaftlichen Risikokonzepts laut WBGU (1999) dar. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zudem die Abschätzungssicherheit dieser beiden Größen. Der Begriff der Abschätzungssicherheit bezeichnet den Grad der Verlässlichkeit, mit der eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit von Schadensereignissen getroffen werden kann (WBGU, 1999, S. 53).
Das Schadensausmaß und die Eintrittswahrscheinlichkeit sowie deren Abschätzungssicherheit sind nach Auffassung des WBGUs (1999) für die wissenschaftliche Einordnung eines Risikos allein nicht ausreichend. Vor diesem Hintergrund hat der WBGU (1999, S. 55f.) weitere Kriterien für die Klassifizierung eines Risikos vorgeschlagen, die in einigen Ländern (Dänemark, Schweiz, Niederlande) bereits berücksichtigt werden. Diese zusätzlichen Kriterien sind in Tabelle 5 dargestellt.
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Elterliche Risikowahrnehmung und neue Ansätze für das Risikomanagement
Unter Verwendung der in Tabelle 5 beschriebenen Risikocharakteristika und der zentralen Kategorien Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß hat der WBGU (1999, S. 58ff.) sechs unterschiedliche Risikotypen entwickelt. Diese sind in Tabelle 6 überblickartig zusammengefasst. Die Zuordnung eines Risikos zu einem der Risikotypen erfolgt entsprechend seiner Ausprägungen der durch den WBGU (1999) benannten Risikocharakteristika, insbesondere der Eintrittswahrscheinlichkeit, des Schadensausmaßes und der Abschätzungssicherheit dieser zentralen Kriterien der Risikocharakteristika.
Die Risikoklassifizierung dient dem Zweck, Risiken gruppenweise beurteilen und managen zu können. In diesem Zusammenhang hat Renn (2008, S. 291) grundlegende Managementstrategien für jeden der dargestellten Risikotypen vorgeschlagen (Tabelle 7).
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Mykotoxine und Kindergesundheit
Elterliche Risikowahrnehmung und neue Ansätze für das Risikomanagement
Tabelle 7: Neue Typen von Risiko‐Managementstrategien nach Renn (2008).
Management Risikotyp Schaden Wahrscheinlichkeit Handlungsstrategien Risikoorientiert Damokles hoch gering • Katastrophenpotential
reduzieren
Vorsorgeorientiert Pythia ungewiss ungewiss • Vorsorgeprinzip implementieren
Diskursiv Kassandra hoch hoch • Bewusstseinsbildung
• Vertrauensbildung Risikoexperten und für Risikolaien dar, um eine der Bedrohung angemessene Risikoerfassung und ‐bewertung vorzunehmen zu können. Insofern dienen die Risikoklassifizierung und die dazugehörigen allgemeinen Risikomanagementstrategien der Vereinfachung des Umgangs mit Risiken.
4.4.1 Einordnung des DON‐Risikos in die Risikotypologie des WBGUs
Das Gesundheitsrisiko durch DON zeichnet sich durch seine unsichere Eintrittswahrscheinlichkeit, ein ungewisses, aber potentiell hohes, Schadensausmaß und hohe Ubiquität aus. Die Abschätzungssicherheit von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß sind ungewiss. Das Mobilisierungspotential des Risikos durch DON ist als gering einzuschätzen. Hinsichtlich der Verzögerungswirkung können nach derzeitigem Kenntnisstand keine Aussagen getroffen werden. Die Persistenz und die Reversibilität des
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durch DON verursachten Schadens sind ebenfalls ungewiss (Raupach, 2012, S. 77). Damit muss das Gesundheitsrisiko durch DON dem Risikotyp „Pythia“ zugeordnet werden8.
4.4.2 Ableitung geeigneter Verbesserungsansätze für das DON‐Risikomanagement zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes von Kindern
Für das Management von Risiken des Typs „Pythia“ werden von Renn (2008, S. 291) vorsorgeorientierte Handlungsstrategien vorgeschlagen (vgl. Tabelle 7). Durch die Festlegung von Grenzwerten für die maximal zulässige Belastung von Nahrungsmitteln mit DON gemäß der VO (EG) Nr. 1881/2006 und der VO (EG) Nr. 1126/2007 sowie die Durchführung regelmäßiger Lebensmittelkontrollen wird diesem Prinzip bereits Rechnung getragen9. Jedoch erscheint eine Verbesserung des derzeitigen Mykotoxin‐Risikomanagements vor dem Hintergrund, dass Kinder auch bei Einhaltung der gültigen DON‐Grenzwerte mehr DON aufnehmen könnten als gesundheitlich unbedenklich ist, wünschenswert.
Für eine Verbesserung des Gesundheitsschutzes von Kindern vor DON käme eine Intensivierung des Vorsorgeprinzips beispielsweise durch die Senkung der aktuellen DON‐
Grenzwerte von 750 μg/kg verzehrfertigem Getreide auf die von Raupach (2012, S. 116) errechneten 189 μg/kg in Betracht. Auf diese Weise ließe sich die Gefahr einer TDI‐
Überschreitung von Kleinkindern deutlich reduzieren. Von den durch Renn (2008) vorgeschlagenen allgemeinen Managementstrategien für Risiken des Typs „Phythia“
erscheint außerdem die Entwicklung von Substituten geeignet, um den Gesundheitsschutz von Kindern vor DON zu verbessern. Vorstellbar wäre die Einführung spezieller Getreideprodukte für die Kinderernährung in Anlehnung an die von Raupach (2012, S. 131;
S. 229f) vorgeschlagene Schaffung von Qualitätskategorien. Diese speziellen Kindergetreideprodukte dürften nur so viele Mykotoxine (DON) enthalten, dass ein Gesundheitsrisiko für Kinder sicher ausgeschlossen werden kann. In der Praxis könnten diese speziellen Kindergetreideprodukte vollständig gemäß der Diätverordnung für Baby‐ und Kleinkindernahrung (DiätV, 2010, §14) produziert werden. Dies hätte zum einen den Vorteil, dass bestehende Konzepte und Produktionsstrukturen für Vorzugsgetreide, welches auch für
8 Siehe hierzu ausführlich: Raupach, 2012, S. 76ff.
9 Beispiele hierfür sind das Lebensmittel‐ und Warenkorbmonitoring, die Besondere Ernte‐ und
Qualitätsermittlung sowie der Bundesweite Überwachungsplan.
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die Herstellung von Babynahrung verwendet wird, genutzt werden könnten. Zum anderen erhöht eine Vermarktung der speziellen Kindergetreideprodukte unter der allgemeinen Kennzeichnung für Baby‐ und Kleinkindernahrung vermutlich die Akzeptanz der Produkte unter Eltern.
Die erstgenannte Verbesserungsoption, die generelle Senkung der DON‐Grenzwerte, stellt eine staatliche Maßnahme dar, auf deren Umsetzung die Eltern keinen unmittelbaren Einfluss haben. Der zweitgenannte Ansatz, die Einführung besonders gering mit Mykotoxinen belasteter Kindergetreideprodukte, kann als eine privat ausgerichtete Verbesserungsstrategie des DON‐Risikomanagements aufgefasst werden, da Eltern selbst darüber entscheiden können, ob sie ihre Kinder mit besonders sicheren Getreideprodukten ernähren. Gemein ist beiden Verbesserungsansätzen, dass sie zu Preiserhöhungen bei Getreideprodukte führen, da die Vermeidung von Mykotoxinen mit Mehrkosten für die Lebensmittelunternehmer verbunden ist (Niens und Hasselmann, 2011). Während bei der ersten Option, der generellen Grenzwertsenkung, jedoch die Preise für alle Getreideprodukte in Deutschland steigen würden, erhöhten sich bei der Einführung besonders gering mit Mykotoxinen belasteter Kindergetreideprodukte nur die Preise für die besonders sicheren Lebensmittel. Dabei bietet die staatliche Verbesserungsmaßnahme jedoch den Vorteil, dass alle Kinder sicher vor einer Gesundheitsgefährdung durch DON geschützt wären. Nachteilig an der generellen Senkung der Mykotoxin‐Grenzwerte ist jedoch, dass weniger anfällige Personen nicht mehr auf unter herkömmlichen Bedingungen produzierte und dadurch preisgünstigere Produkte zurückgreifen könnten. Hingegen hinge die Verbesserung des Gesundheitsschutzes von Kindern durch die Einführung besonders sicherer Kindergetreideprodukte von der Kaufentscheidung der Eltern ab. Somit kann ein vollständiger Gesundheitsschutz aller Kinder vor DON mithilfe der privat ausgerichteten Verbesserungsstrategie nicht garantiert werden.