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Die Neurolinguistik ist eine stark interdisziplinär ausgerichtete Teildisziplin der Linguistik und integriert u.a die relevanten Erkenntnisse der Neurologie, der Neuro-biologie und der Neuropsychologie. Sie beschäftigt sich u.a mit den neurologischen Grundlagen der Sprache und den zerebral bedingten Sprach- und Sprechstörungen.

(vgl. Müller 2002:406, Peuser & Winter 2000:133).

Die Neuropsychologie ist eine Teildisziplin der Klinischen Psychologie und beruht auf Ansätzen der Allgemeinen, der Experimentellen und der Physiologischen Psy-chologie. Sie beschäftigt sich mit den so genannten höheren Hirnleistungen, worunter man u.a. Sprache, Wahrnehmung, Kognition, Emotion und Bewusstheit versteht.

Ihre Anfänge gehen auf den deutschen Arzt und Anatom Franz Joseph Gall (1758-1828) zurück, der die Gall'sche Schädellehre bzw. Phrenologie begründete, die aus der Form des Schädels u.a. auf geistige und seelische Anlagen zu schlieÿen versuchte.

Ein Teilgebiet der Neuropsychologie ist die die Klinische Neuropsychologie, die sich mit den Folgen zentralnervöser Schädigungen auf das menschliche Verhalten und Empnden beschäftigt. Die durch experimentelle Forschung gewonnenen Erkenntnis-se werden für die Diagnostik und Therapie von Patienten mit Hirnfunktionsstörungen eingesetzt.

Nach einer Einführung in die Phänomenologie der aphasischen Standard- und Sonderformen als Folgen linkshemisphärischer Läsionen folgt eine Darstellung der Störungen der Objekterkennung. Das Kapitel schlieÿt mit einer Betrachtung der au-ditiven Agnosien, wobei der Schwerpunkt speziell auf der für die vorliegende Arbeit relevanten Phonagnosie liegt.

In etwa 65 bis 80 % der Aphasien liegt die Ursache in apoplektischen Insulten (Schlaganfälle). Auslöser dafür sind i.d.R. linkshemisphärische ischämische Hirnin-farkte, Hirnblutungen oder Subarachnoidalblutungen. Unter Hirninfarkten versteht man zerebrale Durchblutungsstörungen, die zu einer Nekrose des Gewebes führen.

Die Ursachen solcher Durchblutungsstörungen liegen entweder in Thrombosen, also lokalen Gerinnselbildungen, oder Embolien, die durch verschleppte Gerinnsel entste-hen können. Weitere Auslöser für Aphasien können Schädel-Hirn-Traumata, Hirntu-moren, Atrophien, oder Enzephalitiden sein (vgl. Leischner 21987:68f). Diese kön-nen jedoch zu einer Vermischung der Syndrome und verstärkt zu nicht-sprachlichen Symptomen führen (vgl. Huber, Poeck & Weniger 52002:121).

Der neoklassischen Lehrmeinung und dem Aachener Klassikationsschema folgend, werden im nächsten Unterkapitel die aphasischen Standard- und Sonderformen vor-gestellt. Dieser neoklassische Ansatz basiert auf den Annahmen von Franz Joseph Gall (1758-1828), Pierre Paul Broca (1824-1880), Carl Wernicke (1848-1905) und Ludwig Lichtheim (1845-1928), die annahmen, dass je nach Läsionsort im Ge-hirn des Patienten spezische Symptomenbündel zu beobachten seien (vgl. Tesak

22006:26).

7.1.1. Standardsyndrome

Zu den so genannten Standardsyndromen gehören die:

ˆ amnestische Aphasie,

ˆ Broca-Aphasie,

ˆ Wernicke-Aphasie und

ˆ globale Aphasie.

Amnestische Aphasie

Die Sprache der Betroenen zeigt i.d.R. einen relativ intakten Satzbau und zahl-reiche Wortndungsstörungen (insbesondere beim Benennen). In den meisten Fällen gelingt es den Patienten jedoch, mit Hilfe von Umweg- und Ersatzstrategien diese De-zite zu kompensieren. Zusätzlich zeigen sie Satzabbrüche, semantische Paraphasien mit geringer Abweichung vom Zielwort sowie vereinzelt auch phonematische Para-phasien bei Inhaltswörtern. Da das Sprachverständnis der Patienten meist nur wenig beeinträchtigt ist, zeigen sich nur geringfügige Einschränkungen bei der Kommuni-kationsfähigkeit (vgl. Tesak22006:28, Huber, Poeck & Weniger52002:121, Schöler &

Grötzbach 2002:26, Biniek 21997:2).

Der Symptomenkomplex der amnestischen Aphasie lässt sich nur schwer der Läsion einer bestimmten Hirnregion zuordnen. Meist handelt es sich um kleinere temporo-parietale Läsionen im kortikalen oder subkortikalen Bereich (vgl. Huber, Poeck &

Weniger52002:121). Auch Tesak berichtet von retrorolandisch lokalisierten Läsionen im hinteren Teil des Temporal- oder unteren Bereich des Parietallappens sowie von Läsionen im Bereich des Gyrus angularis (22006:38) (siehe auch Abbildung 7.1 auf Seite 84).

Broca-Aphasie

Die Spontansprache der Broca-Aphasiker ist stockend, angestrengt und mitunter stark dysprosodisch. Häug kommt es zu phonematischen Paraphasien, agrammati-schem Satzbau und reduzierten Satzkonstruktionen (Ein- / Zweiwortsätze mit syn-taktischen Mängeln). Bei schriftsprachlichen Äuÿerungen zeigen Broca-Aphasiker häug graphematische Paraphasien und Agrammatismus. Phonationsprobleme, un-deutliche Artikulation und eine Nivellierung der Sprechmelodie können auf eine be-stehende Dysarthrie hinweisen, die in manchen Fällen begleitend auftreten kann. Die mündliche Kommunikation variiert mit dem Schweregrad der expressiven Leistung, ist jedoch, v.a. auf Grund des relativ gut erhaltenen Sprachverständnisses, meist möglich. Als problematisch erweisen sich mitunter jedoch die dysarthrischen Ver-schleifungen und Entstellungen der Äuÿerungen (vgl. Tesak22006:28, Huber, Poeck

& Weniger 52002:125, Schöler & Grötzbach 2002:26, Biniek21997:3).

Die der Broca-Aphasie typischerweise zugeordneten, relativ groÿen Läsionsorte liegen im Versorgungsgebiet der Arteria prearolandica bzw. der vorderen Äste der mittleren Hirnschlagader. Sie umfassen den suprasylvischen, prärolandischen Bereich, unter einer möglichen Beteiligung des Broca-Areals (Brodmann-Area 44 und 45). Die Computertomogramme betroener Patienten zeigen i.d.R. Läsionen dorsal der von Broca ursprünglich beschriebenen Region im Marklager des Stirnhirns, die auch die Insula betreen können (vgl. Huber, Poeck & Weniger 52002:124, Tesak 22006:38) (siehe auch Abbildung 7.1 auf Seite 84).

Wernicke-Aphasie

Spontansprachlich zeigen Wernicke-Aphasiker eine überschieÿende, logorrhoeische Sprachproduktion mit häugen phonematischen und semantischen Paraphasien und Neologismen, die bis zum phonematischen bzw. semantischen Jargon führen können.

Die Satzebene ist geprägt von paragrammatischen Erscheinungen. Das Sprachver-ständnis, insbesondere im Bereich der Inhaltswörter, ist stark eingeschränkt. Dies

gilt auch für den Bereich der Schriftsprache. Das Kommunikationsverhalten der Wernicke-Aphasiker erscheint auf den ersten Blick vermeintlich intakt, ist jedoch bei genauer Prüfung stark eingeschränkt (vgl. Tesak22006:28, Huber, Poeck & Weniger

52002:1, Schöler & Grötzbach 2002:26, Biniek21997:4).

Wernicke-Aphasiker zeigen i.d.R. eine Läsion im Versorgungsbereich der Arteria temporalis posterior aus der Arteria cerebri media. Dabei ist überwiegend der hinte-re Teil des Gyrus temporalis superior betroen. Zeigt der Patient vorwiegend pho-nematische Paraphasien, so ist die Läsion eher parietal lokalisiert; überwiegen die semantischen Paraphasien, so erstreckt sie sich eher nach temporal (Vignolo 1988, nach Huber, Poeck & Weniger 52002:132) (siehe auch Abbildung 7.1 auf Seite 84).

Globale Aphasie

Die globale Aphasie gilt als die schwerste Form der Aphasien. Die Kommunikations-möglichkeiten der Betroenen sind stark eingeschränkt, da häug nur Einzelwörter und Sprachautomatismen aktiviert werden können, die meist zusätzlich perseveriert werden. Die Modalitäten Sprachverständnis, Lesen und Schreiben gelten als stark beeinträchtigt, so dass eine Kommunikation oftmals nur sehr schwer möglich ist (vgl.

Tesak 22006:28, Huber, Poeck & Weniger 52002:139, Schöler & Grötzbach 2002:26, Biniek 21997:4).

Meistens wird die globale Aphasie durch einen embolischen oder thrombotischen Verschluss des Hauptstammes der Arteria cerebri media verursacht und betrit somit die komplette perisylvische Region. Die Läsionen können dabei auch umfassend in die weiÿe Substanz reichen (vgl. Tesak22006:38, Huber, Poeck & Weniger52002:132) (siehe auch Abbildung 7.1 auf Seite 84).

7.1.2. Sonderformen

Zu den Sonder- bzw. Nichtstandardsyndromen zählen die Bostoner und Aachener Schule vier weitere Symptomenbündel. Anders als bei den o.g. Standardsyndromen spielen im Rahmen der Diagnostik einzelne Leistungen insbesondere die Leistung in der Modalität Nachsprechen eine herausragende Rolle.

Leitungsaphasie

Patienten mit einer Leitungsaphasie zeigen spontansprachlich zahlreiche phonemati-sche Paraphasien. Die übrigen Symptome ähneln denen der Wernicke-Aphasie, das Sprachverständnis ist im Vergleich jedoch weniger beeinträchtigt. Besonders auällig ist die stark eingeschränkte Fähigkeit, vorgegebene Sätze nachzusprechen. Dabei

neh-men die phonematischen Entstellungen mit der Länge des nachzusprechenden Mate-rials zu (vgl. Tesak 22006:29, Huber, Poeck & Weniger52002:147, Biniek 21997:5).

Bei der Leitungsaphasie sind jene Regionen betroen, die das Broca- und Wernicke-Areal miteinander verbinden, also die weiÿe Substanz unter dem Gyrus supramar-ginalis (entspricht dem Fasciculus arcuatus) (vgl. Tesak 22006:38, Huber, Poeck &

Weniger 52002:146) (siehe auch Abbildung 7.1 auf der nächsten Seite).

Transkortikal-motorische Aphasie

Die Spontansprache der Betroenen ist sehr stark eingeschränkt, so dass sie sich kaum oder gar nicht spontan äuÿern. Im auälligen Gegensatz dazu können sie je-doch mit intakter Syntax und deutlicher Artikulation vorgegebenes Satzmaterial nachsprechen. Das Sprachverständnis ist gut erhalten und die Patienten sind in der Lage laut vorzulesen (vgl. Tesak22006:29, Huber, Poeck & Weniger52002:147, Biniek

21997:5f).

Die Läsionen bei der transkortikal-motorischen Aphasie liegen typischerweise im supplementären motorischen Kortex bzw. im Frontallappen anterior des Broca-Areals (vgl. Tesak22006:38, Huber, Poeck & Weniger52002:147) (siehe auch Abbildung 7.1 auf der nächsten Seite).

Transkortikal-sensorische Aphasie

Die Symptomatologie der Patienten ähnelt der der Wernicke-Aphasie. Spontansprach-lich zeigen sie zahlreiche semantische Paraphasien und Echolalien. Ihre Leistungen im Bereich Nachsprechen sind gut erhalten, jedoch kann i.d.R. der Sinn des Nachge-sprochenen nicht oder nur stark eingeschränkt erfasst werden (vgl. Tesak22006:29).

Bei transkortikal-sensorischen Patienten nden sich meist Läsionen im temporo-okzipitalen Marklager ohne Beteiligung der Wernicke-Region. Es handelt sich dabei um das Grenzgebiet der Arteria cerebri media und der Arteria cerebri posterior.

Vereinzelt wird auch über transkortikal-sensorische Aphasiker mit Läsionen frontaler Hirnareale berichtet (vgl. Tesak22006:38, Huber, Poeck & Weniger52002:148) (siehe auch Abbildung 7.1 auf der nächsten Seite).

Gemischte transkortikale Aphasie

Patienten mit einer gemischten transkortikalen Aphasie können meist relativ gut nachsprechen, während die Spontansprache angestrengt, stockend und häug echo-lalisch ist und zahlreiche Automatismen und Stereotypien aufweist. Zusätzlich ist

das Sprachverständnis deutlich eingeschränkt (vgl. Tesak 22006:29, Huber, Poeck &

Weniger 52002:148).

Die Läsionen der gemischten transkortikalen Aphasie betreen i.d.R. die Verbin-dungen zwischen der perisylvisch lokalisierten Sprachregion und den entsprechenden Assoziationskortizes. In den letzten Jahren wurde jedoch wiederholt von Patienten berichtet, die nach ausgedehnten Mediainfarkten die Symptome einer gemischten transkortikalen Aphasie zeigten, was die neoklassische Annahme nicht erklären kann (vgl. Huber, Poeck & Weniger 52002:148, siehe auch Abbildung 7.1).

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% Abbildung 7.1.: Läsionsorte bei aphasischen Syndromen

(aus: Tesak22006:39)