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Gründe, Bosnien-Herzegowina (nicht) zu besetzen, und die Entwicklung des Gebiets von 1878–1914

[…] ein fruchtbares, geordnetes Land, ein Absatzgebiet für unsere Industrie, ein Gebiet für den Schaffensgeist unserer Unternehmer; die Sicherung eines strategisch unent-behrlichen Gebietes für die Sicherheit unserer Monarchie gegen Süden vom Meere und vom Lande her.30

Während sich die Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosniens und der Her-zegowina 1878 bei den konsultierten Forscher/inne/n ziemlich konsistent aus-nimmt, sind die unmittelbaren Beweggründe für diese letzte – und letztlich fatale – territoriale Expansion der Habsburger Monarchie vor dem Ersten Welt-krieg weniger eindeutig; üblicherweise werden in der Geschichtsschreibung drei Motive genannt, hinter denen allesamt ein imperialistischer Bezugsrahmen sichtbar wird:

1. Strategische Gründe. Hier wird angenommen, dass Österreich-Ungarn den Bedarf verspürte, sein gefährdetes Kronland Dalmatien durch die militäri-sche und infrastrukturelle Besetzung des bosnisch-herzegowinimilitäri-schen Hin-terlands zunächst gegen das Osmanische Reich und später gegen den Pan-slawismus bzw. serbische Expansionsgelüste abzusichern31 – wozu schon

Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1978 [dt.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett Cotta 1991].

29 Vgl. auch den Beitrag von Raymond Detrez zum vorl. Sammelband.

30 Spaits, Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Illustriert von Otto Gstöttnek. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Ein-zeldarstellungen I), p. 94.

31 Vgl. Sugar 1963, pp. 20 ff.; Jelavich 1983, p. 59; Haselsteiner 1996, pp. 16 ff. Malcolm, Noel:

Bosnia. A Short History. New York: NYU Pr. 1994; Pan Macmillan 1996, 2002, p. 136; De-trez, Raymond: Reluctance and Determination. The Prelude to the Austro-Hungarian Oc-cupation of Bosnia-Herzegovina in 1878. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.):WechselWir-kungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918.

New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41), pp. 21–40, hier p. 22.

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Feldmarschall Radetzky 1856 und Admiral Tegetthoff 1869 geraten hatten.32 Diese Motivation erwies sich jedoch durch die bereits damals absehbare Tat-sache geschwächt, dass ein slawischer Bevölkerungszuwachs von mehr als einer Million Menschen die bereits existierenden ethnischen Spannungen im Habsburger Reich nur verstärken würde.33 (Überliefert sind hier etwa die geflügelten Worte des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Tisza, man müsse „zwischen den beiden Übeln das kleinere wählen“.34)

2. Wirtschaftliche Gründe. Bosnien-Herzegowina beherbergt(e) große Lager-stätten an Kohle, Eisenerz und anderen Metallen (deren Ausbeutung erst in Titos zweitem Jugoslawien in Angriff genommen werden sollte). Dieser Reichtum an Bodenschätzen brachte Historiker wie Bérenger35 dazu, gewisse ökonomische Interessen hinter Österreich-Ungarns Invasionsplänen anzu-nehmen. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Quellen ist es jedoch generell schwierig festzustellen, inwiefern dieses Motiv – zusammen mit der Gewinnung eines neuen Absatzmarktes – 1878 tatsächlich eine große Rolle spielte.36 Andererseits werden die „Naturschätze“ des Landes in den Schlussbemerkungen zum Operationsbericht des Okkupationsfeldzugs ex-plizit erwähnt.37

32 Vgl. Spaits 1907, p. 83; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische Studie. Wien: Reisser 1909, p. 5.

33 Vgl. Sugar 1963, p. 26; Pinson 1994, p. 119; Malcolm 1996, p. 136.

34 Wertheimer 1913, p. 144.

35 Bérenger 1997, p. 255; vgl. Malcolm 1996, p. 136; Kolm 2001, pp. 18 f., 105 f., 244 ff.

36 Dies wird etwa von Robin Okey 2007, p. 17, bestritten.- Die Behörden Österreich-Un-garns waren später äußerst zurückhaltend mit Subventionen und verfügten einerseits, dass die besetzten Gebiete sich von ihrem eigenen Einkünften zu finanzieren hätten (vgl.

dazu etwa Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österr.-ungarischen Epoche (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93, p. 235); auf diese Weise kamen keine großen Staats-investitionen für die Wirtschaftsentwicklung zustande – außer für den Eisenbahnbau.

Zum Anderen waren weder die neu geschaffene k. u. k. Bergwerksbehörde noch die Bos-na-Bergbaugesellschaft selbst in der Lage, die örtlichen Bodenschätze konsequent und umfassend zu erschließen; auch der Informationsfluss mit privaten Investoren funkti-onierte nicht wirklich. Details bei Sugar 1963, pp. 105 ff., 159 ff.; vgl. weiters Malcolm 1996, p. 141; Wessely, Kurt: Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina.

In: Wandruszka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habs burger monarchie 1848–1918.

Wien: ÖAW 1973–1989, vol. 1, pp. 528–566; Lampe, John / Jackson, Marvin: Balkan Eco-nomic History 1550–1950. From imperial borderlands to developing nation. Blooming-ton: Indiana Univ. Pr. 1982, pp. 264–322.

37 Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegsarchivs: Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen darge-stellt. Wien: Verlag des k. k. Generalstabes/ W. Seidel 1879, p. 908. Ebenso finden sie auch in einer Denkschrift von Graf Burián, einem der ehem. k. u. k. Gouverneure des Gebiets,

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3. Territoriale Expansion. Diese Argumentation geht davon aus, dass nach den erlittenen Niederlagen und Gebietseinbußen von 1859 bzw. 1866 und der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die einzig verbleibende Mög-lichkeit zu einem (kompensatorischen?) Gebietszuwachs für die Habsburger Monarchie im Südosten des Kontinents lag, d. h. in den Rückzugsgebieten des niedergehenden Osmanischen Reichs.38 Andere Großmächte nahmen eine ähnliche Haltung gegenüber dem „kranken Mann Europas“ ein, was von den meisten Historiker/inne/n gemeinhin mit dem Etikett des Kolonialismus versehen wird: so etwa die Usurpation von Tunis durch Frankreich 1881 und von Ägypten durch Großbritannien 1882.39

Allerdings standen auch mögliche finanzielle Nachteile auf der Kostenseite den geopolitischen Vorteilen einer Okkupation gegenüber. Der austro-amerikani-sche Historiker Robert A. Kann schreibt dazu:

In financial sense the acquisition was considered not only no gain but a definite loss […]. Occupation was considered the lesser of two evils. It would mean bad busi ness economically but it might offer some relief against the threat of Balkan nationalism and Russian-inspired Panslavism.40

Neben einer Zunahme der Ausgaben des k. u. k. Reiches sowie seiner südsla-wischen Bevölkerung (aus letzterer sollten kroatische Herrschaftsansprüche im Sinne eines angestrebten „Trialismus“ ebenso erwachsen wie großserbi-scher Nationalismus41), darf der Faktor nicht unterschätzt werden, dass mit der Okkupation Bosnien und der Herzegowinas zum ersten Mal in der habs-burgischen Geschichte eine signifikante muslimische Gemeinschaft Teil der österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur wurde.42 Diese neue Be-völkerungsgruppe bestand keineswegs aus einigen Konvertiten, sondern um-fasste die regionalen Eliten: Landbesitzer, osmanische Funktionäre, Kleriker und die Intelligenzija sowie etliche Kaufleute.43 Durch dieses Setting waren die in Bosnien-Herzegowina zunehmend ethnisierten religiösen Differenzen eng

Erwähnung; vgl. Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Kriege. Berlin: Ullstein 1923, p. 223.

38 Vgl. Pinson 1994, p. 87; Sugar 1963, p. 20; Plaschka 2000, vol I, p. 89.

39 Vgl. Hösch 2002, p. 137.

40 Kann, Robert A.: Trends To wards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878–1918. The Case of Bosnia-Herze govina, 1878–1914. In: Rowney, D.K./ Orchard, G.E. (Hg.): Russian and Slavonic Hi story. Columbus OH: Sla vica Pub l. 1977, pp. 164–180, hier p. 168.

41 Vgl. Jelavich 1983, p. 60.

42 Vgl. Pinson 1994, p. 9.

43 Vgl. Donia 1981; Pinson 1994; Neweklowsky, Gerhard: Die bosnisch-herzegowinischen Mus li me. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur. Unter Mitarbeit v. Besim Ibišević and Žarko Bebić. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1996 (= Austrian-Bosnian Relations 1).

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mit sozialer Hierarchie verflochten, zumal die Mehrheit der freien Bauern und abhängigen Landpächter (kmetovi) christlichen Glaubens war, also entweder der orthodoxen oder der katholischen Kirche angehörten.44 Auf diese Weise waren alle Eingriffe der österreichisch-ungarischen Behörden in dieses problematisch spätfeudale Netzwerk religiöser, kultureller und sozialer Differenzen von vorn-herein heikel.

Auf der anderen Seite war die militärische Invasion Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878 keineswegs jener friedliche „Parademarsch“, den Außenminister Andrássy der k. u. k. Armee vorausgesagt hatte;45 vielmehr han-delte es sich um einen blutigen Eroberungsfeldzug, der von osmanischen Trup-penresten und eilig aufgestellten lokalen Milizen der Bevölkerung heftig be-kämpft wurde und so eine viel größere Truppenmobilisierung als ursprünglich geplant nötig machte.46 Erst nach drei Monaten kriegerischen Konflikts, mehre-ren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen war die Okkupation zu Ende (von ihr wird im Folgenden noch im Detail die Rede sein47).

Nach dem Schweigen der Waffen sollte jedenfalls die k. u. k. „Friedens- und Kulturmission“, von der am Berliner Kongress die Rede war, in Angriff genom-men werden. Der Kommandant der Invasionstruppen, Feldzeugmeister Phi-lippovich von Philippsberg, wurde Ende Oktober 1878 (wegen seiner großen Feindseligkeit den bosnischen Muslimen gegenüber) abgesetzt und durch einen seiner Unterführer, den Herzog von Württemberg, ersetzt.48 Nachdem 1881 die Besatzungsmacht noch einmal durch Aufstände in der Herzegowina in Bedräng-nis gekommen war,49 wurde 1882 anstelle der Militärverwaltung eine Ziviladmi-nistration via das k. u. k. Gemeinsame Finanzministerium eingesetzt,50 die sich in

44 Vgl. Pinson 1994, p. 117f.

45 Vgl. Wertheimer 1913, p. 153.- „Nicht unerwähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, son-dern einen harten Kampf darstellte“; es sei wohl wegen der erlittenen Verluste adäquater,

„von einer Eroberung […] zu sprechen“ (Woinovich, Emil v.: In der Herzegowina 1878.

Skizzen, zusammengestellt von FML E. v. W. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908, p. 2).

46 Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904–1945. London, New York: Long-man 1999, p. 116.- Militärische Details dazu finden sich u. a. in Militaria Austriaca 12 (1993), dem militärhistorischen Periodikum des österreichischen Bundesheeres.

47 Vgl. meinen Beitrag Besetzungen (1) zum vorl. Sammelband, der eben diesen Okkupa-tionsfeldzug zum Gegenstand hat.

48 Vgl. Wertheimer 1913, p. 101f.

49 Vgl. dazu z. B. Jelavich, Charles: The Revolt in Bosnia-Hercegovina, 1881–82. In: Slavonic and East European Review [London] 31 (1953), pp. 420–436; Kapidžić, Hamdija: Der Auf-stand in der Hercegovina im Jahre 1882. Graz: Historisches Inst. der Univ. 1972 (= Zur Kunde Südosteuropas, Bd. 1/2).

50 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die österreichische Okkupationsverwaltung in Bosnien-Herze-gowina. Einige Aspeket der Beziehungen zwischen den Militär- und Zivilbehörden. In:

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weiterer Folge eine grundlegende Modernisierung des Landes auf ihre Fahnen schrieb. Federführend, einschneidend und prägend für Bosnien-Herzegowina war hier vor allem der ungarische Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay (eigentlich Béni Kállay de Nagy-Kálló ), der erste Gouverneur der besetzten Ge-biete von 1882 bis zu seinem Tod 1903.51 Rückblickend schreibt sein – ebenso ungarischer – Nachfolger Stephan (István) Graf Burián, 1923:

Die ersten Jahre der Okkupation galten der Erschließung des Landes sowie der Her-stellung geordneter materieller Verhältnisse und des konfessionellen Friedens. Dann folgte die Schaffung eines verläßlichen Verwaltungsapparates, eines Straßen- und Eisenbahnnetzes, geordneter Finanzen, eines geeigneten Schulwesens, Regelung der komplizierten Grundbesitzverhältnisse auf Grund der bestehenden Rechtsverhält-nisse, Ausarbeitung eines Katasters, Beginn der rationellen Ausnützung der reichen Bodenschätze des Landes durch Einrichtung moderner Industriebetriebe.52

Als eine von vielen Stimmen zum Thema schreibt Burián weiter, die k. u. k.

Verwaltung habe „sich durch ihre Leistungen im Lande zu Ansehen gebracht, wenngleich sie in den Augen der Bevölkerung immerfort als Fremdherrschaft galt“.53 Allerdings sei sie nichts anderes als das „Weiterschleppen eines Über-gangsregimes“ gewesen.54

Das staats- und völkerrechtliche Provisorium der Okkupationszeit ging erst 1908 zuende, als Bosnien und die Herzegowina schließlich von der Habsburger Monarchie annektiert wurden, was aufgrund der dadurch provozierten interna-tionalen Spannungen und Proteste55 beinahe dazu führte, dass der große Krieg

Priloga [Sarajevo] 34 (2005), pp. 81–112.

51 Zu Kállays Regime bzw. zur österr.-ungar. Herrschaft im Allgemeinen vgl. etwa Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule.

In: Kakanien revisited, http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/ RDonia1.pdf (2007). Reprint in: In: Ruthner, Clemens et al., 2015 pp. 67–82; Babuna, Aydin: The Story of Bošnjaštvo. In: ibid., pp. 123–128; Sethre, Ian: The Emergence and Influence of Natio-nal Identities in the Era of Moderni zation. Nation-Building in Bosnia and Herzegovi-na, 1878–1914. In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ISethre1.pdf (2004). Reprint in Ruthner et al. 2015, pp. 41–66; Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini, 1882–1903. Sarajevo: Veselin Masleša 1987 ‒ Donias Beitrag ist auch im vorl. Sammelband abgedruckt.

52 Burián 1923, p. 219.

53 Ibid., p. 220.

54 Ibid., p. 221.

55 Leo Tolstoi etwa klagt den Imperialismus der Annexion mit folgenden Worten an: „Die österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina, die bis zur letzten Zeit Österreichs Oberherrschaft noch nicht in vollem Maße anerkann-ten, als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Woranerkann-ten, sie nahm sich das Recht, ohne die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen hunderttausend Menschen zu verfügen.“ (Tolstoi, Leo [Lev] N.: Die Annexion Bosniens

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von 1914 vorzeitig ausgebrochen wäre. Zugleich nehmen sich die Resultate je-ner „Friedens- und Kulturmission“ in Bosnien-Herzegowina, die sich die Dop-pelmonarchie bei der Okkupation 1878 auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch in dieser Spätphase wenig überzeugend aus. Die politischen Spannungen in den annektierten Gebieten nahmen als Folge (zivil)gesellschaftlicher Modernisie-rung eher zu als ab, 1906 kam es etwa zu einem Generalstreik, 1910 zu einer Bau-ernrevolte, und die Zustände wurden generell mehr und mehr „unhaltbar“.56 So sind denn auch – ironischerweise, trotz und wegen aller k. u. k. ‘ Kulturarbeit’ – am 28. Juni 1914 jene beiden Pistolenschüsse auf den österreichischen Thronfol-ger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie, die später zum Auftakt des Ersten Weltkrieg stilisiert werden sollten, nicht zufällig in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo abgefeuert worden.57

Nach einem Intermezzo von Ausnahmezustand, Kriegsrecht und Krieg brach-te der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 schließlich auch das Ende der habsburgischen Herrschaft über Bosnien-Herzegowina mit sich; dieses wurde in den neu gegründeten südslawischen Staates der Serben, Kroaten und Slowenen („SHS“) eingegliedert, der sich später Jugoslawien nennen sollte, und – nach einem zweiten Anlauf 1945–1991 – selbst zu den untergegangenen Vielvölkerstaaten Europas zählt.

3. ‘K. u. k. colonial’: zeitgenössische und heutige Zuschreibungen Das habsburgische Intermezzo in Bosnien-Herzegowina 1878–1918 hat in der imperial-österreichischen Literatur jener Zeit erstaunlich wenig Niederschlag gefunden – ungeachtet der großen Exotik der neuen Gebiete, die die Reisebe-richte immer wieder hervorheben.58 Dennoch ist auch in den wenigen Texten literarischer Autoren, in denen Bosnien-Herzegowina überhaupt vorkommt, ein gewisser kolonialer Ton nicht überhörbar. So schreibt etwa Franz Kafka in

und der Herzegowina. Übers. v. Edmund Rot. Berlin: H. Walther 1909, p. 6) Die Habsbur-ger Monarchie sei damit „eins von diesen Räubernestern, das immer mehr und mehr die Herrschaft über hunderttausende ihm völlig fremder Menschen slavischen Stammes an sich reißt […]“ (ibid., p. 7).

56 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jh. München: C.H.Beck 2010, p. 48.- Einen gut brauchbaren, detaillierten Gesamtüberblick über die 40 Jahre der österr.-ungar.

Herrschaft gibt Okey 2007.

57 Hier gibt es Kommentatoren, die das Entstehen einer radikalen Schüler- und Studenten-schaft durch das Bildungssystem des Besatzers auch als kolonialen Zug der Geschichte Bosniens verstehen, vgl. etwa Okey 2007, p. 136.- Zum Sarajevoer Attentat vgl. auch Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The ‘Long Shots’ of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22).

58 Vgl. dazu Sirbubalo 2012 und Ruthner 2018, insbes. Teil C.3.

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einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912, in dem er sich angesichts der bevorstehenden Niederlage des Osmanischen Reiches in den Balkankriegen nachdenklich gibt: „[…] die Türken verlieren, was mich dazu bringen könnte, als ein falscher Prophet nicht nur für Soldaten, sondern für alles den Rückzug zu predigen (es ist auch ein schwerer Schlag für unsere Kolonien) […]“.59

Auch a posteriori ist immer wieder die Frage gestellt worden, inwieweit sich die 40 Jahre österreichisch-ungarischer Präsenz in Bosnien-Herzegowina, die sich im Selbstbild gerne als Erfolgsgeschichte einer selbst auferlegten „Zivili-sierungs-“ und „Europäisierungs“ mission präsentiert, innerhalb des Paradig-mas – und Erbes – des europäischen Kolonialismus um 1900 zu sehen ist. In den letzten 15 Jahren haben nun verschiedene Forscher/innen – nicht nur jene des Kakanien-revisited-Netzwerks60 – die Übertragbarkeit eines ‘post/koloni-alen’ Zugangs auf das habsburgische Zentraleuropa diskutiert, gleichsam als dritten Weg, um den diskursiven Fallen des „Habsburgischen Mythos“61 bzw.

der mit ihm einhergehenden Multikulti-Nostalgie („Viribus unitis“) und dem na-tionalistischen Opfer-Narrativ („Völkerkerker“) gleichermaßen auszuweichen.

Dabei dürfte auch, wie dies verschiedentlich bereits in früheren Publikationen angedacht wurde,62 Bosnien-Herzegowina unter allen Territorien des k. u. k. Im-periums ein Gebiet sein, das sich einfach als Kolonie im engeren Sinne ansehen ließe – wobei es bei Behauptungen dieser Art zwischen einer polemischen, einer kritischen und einer affirmativen Variante zu unterscheiden gilt.

Der Kolonialismus-Vorwurf in Bezug auf die Habsburger Monarchie wurde bereits im ersten jugoslawischen Staat etwa vom Historiker Vladimir Čorović, einem bosnisch-serbischen Zeitzeugen der k. u. k. Zustände, erhoben.63 Dieser auch später wiederholten Kritik wurde jedoch immer wieder – meist wegen

59 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999 (= Schriften Tagebücher Briefe. Krit. Ausg. hg. von Gerhard Neumann u. a.), p. 192.- Mit seiner Strafkolonie ist Kafka im Übrigen auch einer der wichtigsten post/kolonialen der deutschsprachigen Literatur; vgl. Ruthner 2018, Kap. A.0.

60 Vgl. die diversen einschlägigen Beiträge im Webjournal www.kakanien.ac.at.

61 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966].

Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay 32000; Cole, Laurence: Der Habsbur-ger-Mythos. In: Brix, Emil et al. (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten.

Wien: Böhlau 2004, pp. 473–504.

62 Vgl. etwa Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös-terreich-Ungarn, 1867–1918. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 9); Donia 2015; Ruthner et al. 2015.- Für eine eingehendere Diskussion vgl. Ruthner 2003 bzw. Ruthner 2018, Kap. A.1.

63 Vgl. Čorović, Vladimir: Bosna i Hercegovina. Belgrad: Grafički zavod ‘Makarije’ 1925.