• Keine Ergebnisse gefunden

Gisela K.: Biographie als „Selbst-Bildung“ – ein weiblicher Lebensentwurf zwischen Beruf und Familie

Gisela K. wird Ende der 1930er Jahre als erstes von drei Geschwistern in einer süddeutschen Kleinstadt geboren. Die Mutter ist Kindergärtnerin, übt ihren Beruf aber nicht mehr aus. Der Vater ist Feinmechaniker, ein geschickter Handwerker, der sich als Gewerkschafter im Betrieb und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen engagiert. Trotz eingeschränkter materieller Bedingungen wachsen die Kinder „frei“

auf und erhalten vielfältige Anregungen von den Eltern, z.B. durch Wanderungen, das Sammeln von Wildfrüchten, abendliches Vorlesen und Erzählen.

Giselas Schulkarriere ist durch die ökonomischen Verhältnisse begrenzt. Trotz guter Leistungen und Interesse am Lernen kann sie wegen des monatlichen Schulgeldes nicht das Gymnasium besuchen. Nach Abschluß der Volksschule möchte Gisela Säuglingsschwester werden, wofür sie aber noch zu jung ist. Die Suche nach einer geeigneten Lehrstelle erweist sich Mitte der 1950er Jahre als schwierig, und erst nach mehr als zwei Jahren, in denen Gisela verschiedene Arbeitserfahrungen sammelt und ihre eigenen Interessen auslotet, mündet sie in ein reguläres Ausbildungsverhältnis als Köchin ein. Dieser Berufswunsch hat sich in der Zwischenzeit bei ihr „herauskri-stallisiert“. Die Lehrzeit selbst steht unter dem Eindruck der rigiden hierarchischen Strukturen, die für das Gaststättengewerbe dieser Zeit typisch sind und von sexisti-scher Anmache über engmaschige Kontrolle des Privatlebens bis hin zu körperlicher Züchtigung reichen. Dennoch hält Gisela an ihrem Berufswunsch fest und erwirbt fachliche Kompetenzen und Selbstbewußtsein. Auf dieser Basis steigt sie nach ihrer Gesellenprüfung in die berufstypische Saisonarbeit ein und sammelt Erfahrungen in verschiedenen Hotels und Gaststätten.

Bemerkenswert an Giselas Ausbildungsweg ist, daß sie von Kindheit an eine ausge-prägte Doppelorientierung entwickelt. Sie beschreibt rückblickend, daß ihre Eltern durchaus die zeittypische Geschlechtsrollenerwartung geteilt haben, daß die Tochter heiraten und eine Familie gründen wird: „Irgendwie war das schon eingeimpft … wurdest du praktisch so automatisch darauf hinprogrammiert – du heiratest.“ Wäh-rend diese Orientierung aber eher „automatisch“ weitergegeben wird, d.h. einem tief verwurzelten gesellschaftlichen Konsens entspringt und durch vielfältige Normen und alltägliche Kodierungen abgestützt ist, haben die Eltern andererseits einen expliziten Auftrag an ihre Tochter: „Davon abgesehen – ich kriegte gesagt, ‘n Beruf mußt du lernen, nech, also, Gesellenbrief mußt du haben, damit du immer später sagen kannst:

hier ich hab mein Beruf. Kannste was werden.“ Neben der besonderen Unterstützung und Vorbildfunktion des Vaters, zu dem Gisela eine starke emotionale Beziehung hat, dürfte auch das Beispiel der Mutter dazu beigetragen haben, daß Gisela selbstver-ständlich eine Berufsperspektive entwickelt. Sie soll und will „was werden“.

Fragen wir genauer, welcher Art diese „prätentiöse“ Orientierung6 ist, die für ein Mäd-chen aus einer Facharbeiterfamilie in den 1950er Jahren keineswegs die Regel ge-wesen sein dürfte: Gewiß spielt – gerade nach der Erfahrung des Krieges – das öko-nomische Kalkül eine wichtige Rolle, im Notfall auch unabhängig von der Heirats-perspektive („davon abgesehen“) die soziale Existenz absichern zu können. Darüber hinaus ist die Berufsorientierung jedoch mit einer expliziten Bildungsidee verknüpft, mit der Perspektive, „etwas zu werden“. Damit sind Bildung und Beruf zum Gegen-stand und Medium biographischer Planungen und Aspirationen geworden. Das zeigt sich bereits in der Phase der Berufswahl, in der es nicht nur um den prinzipiellen Zugang zum Arbeitsmarkt geht, sondern um eine inhaltliche Perspektive. Die Eltern hegen keine hochfliegenden Aufstiegspläne für ihre Tochter, aber sie wollen ihr ein solides Maß an Qualifikation und eine über den Beruf definierte soziale Position („Gesellenbrief“) in-nerhalb des vertrauten Milieus (Facharbeiter) sichern.

Gisela selbst füllt die ihr angetragene Option mit eigenen biographischen Phantasien.

Unterstützt durch die Eltern, sind für sie beide Bereiche, Familie und Beruf, positiv

besetzte Lebensziele, die mit vielfältigen inhaltlichen Gestaltungsvorstellungen und Verwirklichungsansprüchen verknüpft sind. Mit der Berufsperspektive verbindet sie die Idee der Entwicklung von Fähigkeiten und Interessen, die Option auf ein Stück

„Selbstverwirklichung“ oder, anders gesagt, den Entwurf einer Biographie7. Auch ihr geht es dabei nicht primär um sozialen Aufstieg. „Etwas zu werden“ heißt für sie, pointiert gesagt, nicht „etwas Besseres zu werden“, sondern „sie selbst zu werden“.

Diese Perspektive bestimmt nicht nur die Berufserfahrungen, sondern auch die Familiengründung. Als Gisela mit 23 Jahren den Koch Peter K. heiratet, den sie durch ihre Arbeit kennengelernt hat, ratifiziert sie zwar das ihr aufgetragene gesellschaftli-che „Programm“ (s.o.), aber sie macht es zum eigen-sinnigen Teil ihrer Biographie.

Sie hält an ihrer Berufstätigkeit fest und verweigert sich dem baldigen Kinderwunsch ihres Mannes. Die Geburt des ersten Kindes, zwei Jahre nach der Heirat, verbindet sie mit der bewußten Entscheidung, den Beruf aufzugeben, solange ihre Kinder – drei Jahre später bekommt sie ein zweites – sie brauchen.

Die Familie stellt für Frau K. eine Gestaltungsaufgabe dar, die sie aktiv in die Hand nimmt und – auf der Basis biographischer Erfahrungsressourcen aus der eigenen Kindheit und dem im Beruf erworbenen Selbstbewußtsein – mit vielfältigen Aktivitäten und Ideen füllt. Die Familie ist Teil der Verwirklichung ihres eigenen biographischen Entwurfs. Andererseits setzen die konkreten Lebensbedingungen deutliche Gren-zen: Herr K. hat Anfang der 1960er Jahre seinen Beruf wechseln müssen und arbeitet nun als Schichtarbeiter in einem Großbetrieb. Die finanziellen Verhältnisse der Fami-lie sind äußerst eingeschränkt, die Wohnverhältnisse beengt. Frau K. leidet unter der Isolation als Hausfrau. Die Schwiegermutter lebt am Ort und versucht, in die Ehe hineinzuregieren. Besonders belastend ist jedoch die Organisation des Alltags mit der Schichtarbeit. Die Koordination der unterschiedlichen Bedürfnisse ist in der Kleinkinder-phase besonders hart, aber sie bleibt auf Dauer ein Problem, das Frau K. jeden Tag erneut für ihre Familie bewältigen muß.

Diese „Familienphase“ dauert insgesamt 15 Jahre. Dann gelingt Frau K. der Wieder-einstieg in ihren gelernten Beruf. Sie findet eine Vollzeitstelle in einer Werkskantine, wo ihr die Arbeit und vor allem das Verhältnis zwischen KollegInnen und Vorgesetzen gefallen. Durch die neuen sozialen Kontaktmöglichkeiten und die Anerkennung im Beruf gewinnt sie ihr altes Selbstbewußtsein und eine handlungsschematische Hal-tung8 zu ihrem Leben zurück.

Obwohl dieser Verlauf retrospektiv wie eine gelungene Verbindung von Frau K.‘s doppeltem Lebensentwurf aussehen mag, ist er doch weder planbar gewesen,9 noch in seiner biographischen „Dynamik“ vorhersehbar. Betrachten wir deshalb genauer den biographischen Prozeß, wie er in der nach vorne gerichteten, „gelebten“ Zeit-perspektive der Protagonistin erscheint.10

Gerade die Familienphase ist hochambivalent. Die in der selbstbewußten Entschei-dung für die Familienrolle enthaltenen Handlungsentwürfe11 stoßen im Familienalltag rasch an Grenzen, werden gebrochen oder gehen in den täglichen Not-Wendigkeiten verloren. Je länger der beschriebene Zustand andauert und die alltägliche Wie-derholungsstruktur dieser Erfahrung dominiert, desto mehr verliert die Biographie den Aspekt von subjektiver Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Anfängliche

Kon-flikte und aktive Auseinandersetzungen mit den von der Familienrolle ausgehenden Fesselungsversuchen weichen einer resignierten Haltung. Aus dem individuellen Projekt wird die Erfüllung jenes normalbiographischen „Programms“, das die Frau auf Ehe und Familie verpflichtet. Die alltägliche Anpassung hat die biographische Per-spektive „aufgefressen“. Der auf Lernen und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit angelegte Entwurf wird nach der Aufgabe des Berufs in einem schleichenden Prozeß eingefroren. Frau K. beschreibt diese Erfahrung mit einem hohen Maß an Selbst-reflexion:

„Ja, aber im Laufe der Jahre irgendwie – das kam mir dann erst, so richtig bewußt kam mir das erst, wie ich da in der Oststraße gewohnt habe – daß ich nicht mehr gearbeitet habe. Mein ganzes Selbstbewußtsein, das hat sich immer weiter abgebaut. Ich wurde immer irgendwie unzufriedener, deprimierter. Also, mir hat überhaupt nix mehr richtig gepaßt … Da fing das schon mit der Wäsche an: Ich hab nich gern Wäsche gebügelt, ich hab wohl gewaschen, aber die Wäsche immer schön – Haufen. Peter sacht immer:

,Du mit deinen Haufen. Mach ‘n Leichentuch drüber.‘ … Da haben wir viel gestritten miteinander. Das rührte alles wahrscheinlich auch daher – erst mal, ich hatte nicht so viel um mich rum, das Kind hat mich ja lange nicht so auf Trab gehalten. Die Wohnung, das waren zwei Zimmer, Küche und Bad. War auch nicht viel. Und viel Geld hatten wir auch nicht …“.

Frau K. beschreibt hier einen „Abbau“ biographischer Perspektiven, einen Prozeß des Verlernens. Die Erfahrungen in der Familie reichen offensichtlich nicht aus, um ihr genügend Selbstbewußtsein und das Gefühl persönlicher Weiterentwicklung zu geben. Dieses kann sie auch nicht aus der Beziehung zu ihrem Mann gewinnen.

Realistisch sagt sie am Ende ihrer biographischen Erzählung: „Im Grunde kann Peter mir nie das Selbstbewußtsein geben, was ich brauche. Das muß ich mir immer alles selber erarbeiten.“ Sie bewertet damit ihre Biographie als einen Prozeß der Arbeit an sich selbst – einen Prozeß des Selbst-bewußt-Werdens, wie er bereits zu Beginn ihrer Biographie als prätentiöser Entwurf ausgemacht werden konnte. – Daß es Frau K.

gelingt, diese Entwicklung umzusteuern, wieder in den Beruf zu gehen und damit an ihren ursprünglichen biographischen Entwurf anzuknüpfen, kann in diesem Sinn als Prozeß der „Selbst-Bildung“ beschrieben werden. Betrachten wir ihn im folgenden etwas genauer.

4. Nichtintendierte Lernprozesse: Die andere Seite der Erwachsenenbildung