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Bildungsbiographien zwischen Autodidaxie und Vereinskultur

„Kenntnisse in dem Gebiet der Weltweisheit erwerben“ 1

3. Bildungsbiographien zwischen Autodidaxie und Vereinskultur

In den Erzählungen der beiden hier skizzierten Fälle lassen sich Bildungsprozesse und Bildungserfahrungen auf mehreren Ebenen rekonstruieren. Gemeinsam ist bei-den Biographien eine rudimentäre Schulbildung im Herkunftsland, die sie mit bei-den schlechten – damaligen – Verhältnissen der Franco-Zeit in Verbindung bringen.

Beide nutzen sowohl in Spanien als auch in Deutschland die sich ihnen bietenden Möglichkeiten zur persönlichen und kulturellen Horizonterweiterung. Dabei fällt nicht nur der bedeutende Anteil autodidaktischer bzw. selbstinitiierter Bildungsbestre-bungen auf (kompensatorische Bildungsaktivitäten, Sprachenstudien, Lesen von Zeitschriften, Kinobesuch), sondern auch die Bedeutung von persönlichen Vorbil-dern (republikanischer Privatlehrer, Arbeitsdolmetscher) und selektiv genutzten in-stitutionellen Hilfen (Fernlehrgang, Universität und Volkshochschule, berufskundliche Kurse).

Entscheidende Bildungserfahrungen durchlaufen beide Biographien in verschiede-nen Vereiverschiede-nen, die sie selbst maßgeblich mitbestimmen und prägen. Eine zentrale Stellung nimmt dabei – allerdings mit unterschiedlicher Akzentsetzung – der Spani-sche Kulturkreis ein. Dieser Verein wurde bereits 1961 gegründet und entwickelte sich in Frankfurt zum bedeutendsten spanischen Verein, der auch Pilotfunktion für Vereine in anderen Städten besaß. Im Zuge der Ausdifferenzierung des spanischen Vereinswesens (Eltern-, Sport- und landsmannschaftliche Vereinigungen) und im Gefolge der Spanienrückkehr vieler Intellektueller nach dem Tode Francos (1975) verlor der Verein seine zentrale Stellung. Trotz des Versuchs einer Öffnung nach außen und der Einbeziehung von aktuellen deutschlandbezogenen Themen durch-lebt der Verein zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine bedrohliche Existenzkrise, so

daß für die aktivsten Vereinsmitglieder – auch für Herrn Sánchez und Frau García – seine Schließung nur noch eine Zeitfrage ist. In Herrn Sánchez’ Erzählung ist seine Biographie auf das engste mit der Geschichte des Kulturkreises verbunden.

Er übt in diesem Verein vielfältige und langjährige Funktionen als Gründer, Organi-sator, Politiker, Lehrer und Redakteur aus. Die Mission des Vereins begreift er als seine eigene und stellt sich ganz in den Dienst der dort übernommenen Aufgaben.

In der erzählenden Rückschau parallelisiert er die Geschichte des Vereins und sei-ne eigesei-ne Lebensgeschichte in Deutschland, die sich beide dem Ende zusei-neigen und über die er bereits in historischer Perspektive zu resümieren beginnt. In Frau Garcías Erzählung hat der Kulturkreis dagegen vor allem eine emanzipatorische Bedeutung für die eigene Biographie. Durch ihr engagiertes Auftreten im Verein gelingt es ihr – im Verbund mit anderen Frauen –, die Dominanz der männlichen Entscheidungsmacht zu brechen und Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten durchzusetzen, die Frauen bisher verwehrt waren. Der Verein wird für sie zur Be-währungsprobe gleichberechtigter Teilhabe, auch wenn sie bis zum Schluß mit per-sönlichen Anfeindungen zu kämpfen hat.

In geschlechtsspezifischer Perspektive lassen sich ebenfalls deutliche Differenzen aufzeigen. Herr Sánchez ist in seiner Erzählung stark auf seine Arbeit sowie auf seine Organisations- und Bildungsaktivitäten im Verein orientiert. Seine Familie taucht nur am Rande bzw. am Ende seiner Erzählung (Rückkehr) auf. Er präsentiert sich als Politiker und Vereinsaktiver, dessen Zukunft auch durch diese Bereiche stark mitge-prägt ist. Frau García erzählt ihre Migrationserfahrung dagegen vor allem aus der Perspektive als Frau und Mutter (Identitätssuche, Erziehung der Söhne, Kindergar-ten- und Schulprobleme) und der darauf bezogenen Bildungs- und Vereinsarbeit.

Kontinuierlicher Referenzrahmen ihrer Erzählung sind geschlechtstypische Konflikt-lagen wie die starre Rollenerwartung im spanischen Dorf, die autoritäre vaterzentrierte Familienstruktur, der männerzentrierte Verein oder die ökonomische Abhängigkeit in ihrer Ehe sowie identitätsfördernde emanzipatorische Bildungsprozesse durch den Ausbruch von zu Hause, durch die Theatergruppe oder durch die erfolgreiche Vereins-übernahme.

In beiden Fällen werden auch der Kontrast Spanien-Deutschland, die Konfrontati-on mit unterschiedlichen Lebensstilen und die Auseinandersetzung mit kulturellen Stereotypen permanent reflektiert und auf die eigene Biographie bezogen. Die Abarbeitung von Klischees in beiden Sozialwelten (Deutsche und Spanier), der Be-zug auf die doppelte kulturelle Prägung oder die Reflexion über zukünftige lebens-weltliche Präferenzen sind wiederkehrende Themen ihrer Erzählung. Ebenso wird der spanisch-spanische Kontrast, die Situation von ‘damals’ (Diktatur, Unterdrük-kung) und ‘heute’ (Veränderung, Demokratisierung), gerade auch im Hinblick auf die beabsichtigte Rückkehr, in den Erzählungen thematisiert. Heimatstadt und Hei-matdorf erweisen sich in beiden Fällen als prägende Sozialisationsinstanzen, die – selbst über die geographische und zeitliche Distanz hinweg – Zugehörigkeit und Zukunft vermitteln.

Anmerkungen

(1) Einen aktuellen Überblick über die Schwerpunkte erziehungswissenschaftlicher Migrations-forschung geben der Sozialwissenschaftliche Fachinformationsdienst „Migration und eth-nische Minderheiten“ sowie die Bibliographiereihe „Interkulturelle Pädagogik“.

(2) Zur Situation spanischer MigrantInnen in der BRD vgl. Breitenbach 1979 und 1982, Sánchez-Otero 1984, Thränhardt 1985, Sayler 1987, Aguirre 1989.

(3) Die beiden Interviews wurden vom Verfasser am 14.3.1995 und 21.6.1995 auf spanisch in der Wohnung von Herrn Sánchez bzw. in den Räumen des Spanischen Kulturkreises geführt. Originalzitate sind vom Verfasser unter möglichst genauer Beibehaltung der ur-sprünglichen Satz- und Sprechstruktur ins Deutsche übertragen worden, wobei deutsche Einschubsätze der beiden Interviewpartner durch Kursivdruck als solche kenntlich gemacht wurden.

Literatur

Aguirre, J.: Umfrage unter Spaniern in der BRD. Freiburg 1989

Apitzsch, U.: Migration und Erwachsenenbildung. In: Erwachsenenbildung in Österreich 3/1995, S. 2–8

Breitenbach, B. von: Der spanische Elternverband. Wiesbaden 1979

Breitenbach, B. von: Italiener und Spanier als Arbeitnehmer in der BRD. München u.a. 1982 Nauck, B.: Erziehungsklima, intergenerative Transmission und Sozialisation von Jugendlichen

in türkischen Migrantenfamilien. In: Zeitschrift für Pädagogik 1/1994, S. 43–62

Sánchez-Otero, J.: Die aktive Integration spanischer Arbeitsmigranten und ihrer Kinder. Duis-burg 1984

Sayler, W.: Wider die Xenophobie: Ausländer zwischen Ablehnung und Integration – am Beispiel spanischer Migranten in Deutschland. Saarbrücken 1987

Thränhardt, D.: Die Selbstorganisation von Türken, Griechen und Spaniern in der BRD. In: Ders.

(Hrsg.): Ausländerpolitik und Ausländerintegration in Belgien, den Niederlanden und der BRD.

Bocholt 1985, S. 130–160

Sigrid Nolda