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8. Diskussion der Ergebnisse, Gesamtbeurteilung

8.5 Gesamtbeurteilung

Beratung und Behandlung

Die vorliegende Studie belegt ein bedeutsames Anwachsen der Beratungs- und Behandlungsangebote für internetbasiertes Suchtverhalten seit der Erhebung von Petersen

& Thomasius (2010). Gleichzeitig berichten viele Einrichtungen bereits über ungenutzte Kapazitäten. Möglicherweise hat die Zahl der Behandlung nachfragenden Personen in einem geringeren Maße zugenommen als die Entwicklung der Angebote fortgeschritten ist. Selbst aber wenn die verfügbaren epidemiologischen Daten die tatsächliche Zahl der behandlungs-bedürftigen Personen mit internetbasiertem Suchtverhalten überschätzen, dürfte ein erheblicher Personenkreis von Betroffenen existieren, der trotz einer gravierenden Problematik keine adäquate Hilfe findet und vielleicht auch nicht einmal sucht. Dies mag der Grund dafür sein, dass die bestehenden Angebote von den Personen aus dem administrativen Bereich und von den Vertreterinnen und Vertretern suchtbezogener

Fachgesellschaften in den Befragungen nur mit der Schulnote knapp „ausreichend“ bewertet worden sind.

Damit nicht aufgrund der tatsächlich zu erwartenden Zahl an Betroffenen dringend benötigte und bereits aufgebaute Beratungs- und Behandlungsangebote mangels Nachfrage wieder abgebaut werden müssen, bedarf es einer Verbesserung der Zugangswege in die Beratung und Behandlung. Des Weiteren wird die Entwicklung und Implementierung von Interventionen insbesondere der sekundären und indizierten Prävention benötigt. In diesem Zusammenhang ist die Evaluation der Frühintervention „iPin“ (Bischof et al., 2014) zu begrüßen, der zu wünschen ist, dass ihr im Falle einer erfolgreichen Evaluation eine deutschlandweite Implementierung gelingen möge. Durch ihre Evaluation nach internationalem Standard dürfte mit iPin das erste deutsche evidenzbasierte Verfahren der Frühintervention entwickelt werden, das zum Vorbild für weitere hochwertige und hochwertig evaluierte Interventionen werden dürfte. Auch im Behandlungsbereich des internetbasierten Suchtverhaltens gelingt es noch zu selten, randomisiert-kontrollierte Evaluationsstudien auf internationalem Niveau durchzuführen – nicht nur in Deutschland. Es reicht nicht, nur qualitativ hochwertige Interventionen zu entwickeln, denn nur hochwertige Evaluationen können spätere starke Empfehlungen in mittel- bis langfristig zu erarbeitenden Behandlungsleitlinien (Rumpf et al., 2015) für internetbasiertes Suchtverhalten begründen.

Die STICA-Studie (Wölfling et al., 2014) bildet hier eine weitere seltene Ausnahme. Aus diesem Grund ist zu fordern, dass der Aufwand derartiger Evaluationen durch öffentliche Forschungsförderung mit Vorrang ermöglicht wird.

Besondere Bedarfe an zielgruppenspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten scheinen für Migranten zu bestehen, hier war die Bewertung der bestehenden Angebote am schlechtesten. Das allerdings am meisten beunruhigende Ergebnis der vorliegenden Studie bleibt, dass Frauen nur zu etwa 9% Beratungs- und Behandlungsangebote in Anspruch nehmen, obwohl sie nach den epidemiologischen Studien in vergleichbarem Ausmaß von internetbasiertem Suchtverhalten wie Männer betroffen sein dürften. Zur Erklärung dieses Befundes kann weitgehend nur spekuliert werden und es besteht dringlicher Forschungsbedarf, damit die Beratungs- und Behandlungseinrichtungen auf diesem zu erarbeitenden Wissen aufbauend Angebote entwickeln können, die für betroffene Frauen attraktiv sind und von ihnen nachgefragt werden.

Prävention

In den vorliegenden Befragungen wurde ein Bedarf an Prävention internetbasierten Suchtverhaltens vielfach thematisiert. Auf diesen Bereich soll dennoch nur kurz eingegangen werden, hier sei auf die aktuelle Studie von Bitzer, Bleckmann & Mößle (2014) verwiesen,

die sich schwerpunktmäßig mit der Präventionsthematik befasst hat. Zur Verhältnisprävention bezüglich der Computerspielabhängigkeit soll allerdings eine kritische Anmerkung vorgebracht werden.

Die von Bitzer, Bleckmann & Mößle (2014) sowie den Fachgesellschaften DG Sucht (Rumpf et al., 2015) und DGPPN (Mann et al., 2016) vorgeschlagene Maßnahme, unter Einbeziehung von Merkmalen der Suchterzeugung zu höheren Altersgrenzen für Computerspiele zu gelangen und dadurch Verhaltensänderungen bei Kindern und Jugendlichen zu bewirken, dürfte möglicherweise in ihren tatsächlichen Auswirkungen überschätzt sein. Schon jetzt sind unter den beliebtesten Computerspielen von repräsentativ befragten Jugendlichen regelmäßig Spiele, die nur für Erwachsene zugänglich sein dürften (vgl. z.B. MPFS, 2015, S.45). Bei „youtube“ wird über Computerspiele in der Regel ohne Altersbeschränkung berichtet, so dass theoretisch bereits Kinder sich z.B. Beiträge wie

„UNTIL DAWN [001] - Ein Teenie-Schlachtfest der Liebe Let's Play Until Dawn“ (Until Dawn, USK ab 18) oder „YING LIGHT # 1 - Wir wollen Schnetzeln «» Let's Play Dying Light Together | HD Gameplay“ (Dying Light, indiziert) anschauen können (getestet, am 29.03. frei zugänglich). Spiele ab 18 werden für Jugendliche beworben und dann offenbar bei Gefallen beschafft. Spiele werden schon Monate, bevor sie USK-geprüft sind, in den einschlägigen Spielezeitschriften beworben. Warum sollte also ein Vorgehen, das bereits bezüglich exzessiver Gewaltdarstellungen nur so unvollkommen funktioniert, bezüglich der Suchterzeugung besser funktionieren? Funktionierende Prävention sollte dazu führen, dass das soziale Umfeld der oder des Jugendlichen dazu motiviert wird, den Kontakt zu suchen und das Interesse am regelmäßigen Eintauchen und Verschwinden in z.B. Spielwelten und die möglicherweise dazu hinführenden Gefühle von Leere und Strukturlosigkeit (vgl.

Interviews mit Betroffenen dieser Studie) zu hinterfragen. Dies kann durch Frühinterventionen (vgl. iPin, Kapitel 4.3) oder familienbezogene Interventionen (vgl.

ESCapade, Kapitel 4.3) oder weitere noch zu entwickelnde Interventionen erreicht werden.

Die Interviews mit Betroffenen im Rahmen der AbiS-Studie zeigten, dass ein Anstoß von außen zur Aufnahme des Kontakts zu Hilfeeinrichtungen für die Inanspruchnahme von Behandlung als wesentlich erlebt wurde. Mit einer Person aus der Befragung im administrativen Bereich tätiger Menschen könnte daher auch gefordert werden: „Entwicklung von kurzen alters-/zielgruppenspezifischen Spots, die Möglichkeit bieten, an Beispielen zu erkennen, ob man selbst betroffen ist“.

Diagnostik: Diagnostische Instrumente

Petersen & Thomasius (2010) betonten die Notwendigkeit eines deutschsprachigen psychologischen Fragebogens für die Erfassung von internetbasiertem Suchtverhalten.

Mittlerweile existieren mit dem „Young Diagnostical Questionnaire“ (YDQ), dem „Internet Addiction Test“ (IAT) und der „Compulsive Internet Use Scale“ (CIUS) auch Übersetzungen international verbreiteter Fragebögen, sowie mit der Skala „Assessment of internet and computer game addiction“ (AICA-S) und der „Computerspielabhängigkeitsskala“ (CSAS, für

„Internet Gaming Disorder“) auch respektable deutschsprachige Konstruktionen, die allerdings außerhalb Deutschlands nicht im Gebrauch sind (vgl. Kapitel 4.2). Die bislang weltweit einzige Behandlungsleitlinie der Indian Psychiatric Society (Chand, Kandasamy &

Murthy, 2016, S.226) empfiehlt wegen ihrer internationalen Verbreitung und der Verwendung in unterschiedlichen Forschergruppen die Fragebögen YDQ, IAT und CIUS. Allerdings fordern sie für diese Fragebögen weitere psychometrische Studien. Es wäre wünschenswert, wenn sich die deutschen Konstrukteure der bislang international noch nicht verbreiteten Instrumente nach Möglichkeit noch stärker um internationale Kooperationen bemühen würden. Es wäre weiter wünschenswert, wenn eine Forschergruppe die psychometrischen Stärken und Schwächen der verschiedenen Instrumente differenziert herausarbeiten könnte.

Insgesamt sind die Weiterentwicklungen im Bereich der psychologischen Fragebögen seit der Studie von Petersen & Thomasius (2010) allerdings als beträchtliche Fortschritte zu würdigen.

Möglicherweise wird es in näherer Zukunft zusätzlich einen diagnostischen Fragebogen der Weltgesundheitsorganisation geben, da die WHO eine Gruppe von Experten mit der Entwicklung eines standardisierten Fragebogens beauftragt hat (WHO, 2015, S.22).

Diagnostik: Der lange Weg zu einer Diagnose für internetbasiertes Suchtverhalten

Nachdem das DSM-5 keine Diagnose für internetbasiertes Suchtverhalten aufgenommen hatte, aber immerhin für „Internet Gaming Disorder“ Forschungskriterien formuliert hatte, werden die Erwartungen an diagnostische Kriterien in der zukünftigen ICD-11 geringer. Wie Grant et al. (2014) lässt auch die Publikation der WHO (2015) eher keine diesbezüglichen Kriterien in der ICD-11 erwarten. Zwar wird die Problematik internetbasierten Suchtverhaltens in fernöstlichen Staaten wie China, Taiwan und Korea intensiv diskutiert, etwas abgeschwächt in Europa und den USA und wurde 2015 die Problematik internetbasierten Suchtverhaltens sogar auf der Konferenz der Gesundheitsminister der islamischen Staaten als dringlich Maßnahmen (z.B. der Prävention) erfordernd beschrieben (ICHM, 2015, S.6.), die WHO allerdings scheint dem bisher erreichten Forschungsstand und insbesondere den diagnostischen Instrumenten weitgehend zu skeptisch gegenüberzustehen, um daraus konkrete Konsequenzen für die ICD-11 ableiten zu können.

Die im Rahmen dieser Studie befragten, in die ICD-11-Entwicklung involvierten Personen entschieden sich mehrheitlich ebenfalls gegen eine Aufnahme des internetbasierten

Suchtverhaltens in die ICD-11. Da sich DSM und ICD in Schritten von mehreren Jahrzehnten durch die Geschichte bewegen, bleibt die Frage, ob dann ein Abwarten ein geeigneter Umgang mit der Problematik sein kann.

In den Befragungen der vorliegenden Studie wurden von den Beratungs- und Behandlungseinrichtungen aber auch den Fachgesellschaften Bedarfe hinsichtlich einer Klärung der diagnostischen Situation des internetbasierten Suchtverhaltens formuliert. Eine derartige Klärung ist ohne die Vorgaben der diagnostischen Manuale DSM und insbesondere ICD nur als Erarbeitung provisorischer Kriterien in einem breit angelegten Konsensverfahren vorstellbar. Ein derartiger Konsens wäre im Sinne der Betroffenen nur dann ein Zugewinn, wenn er weiterhin das ganze Spektrum der bewährten ambulanten und stationären Behandlungsformen zulassen und ihre Finanzierung erleichtern würde. Zusätzlich sollten von internetbasiertem Suchtverhalten Betroffene nicht durch ein Gebot von in diesem Falle schwer zu definierender „Abstinenz“ von der Richtlinien-Psychotherapie (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2016) ausgeschlossen werden.