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„Kinder – und Jugendliteratur in ihren ästhetischen, poetologischen und sozialhistorischen Varianten ist seit ihrer Herausbildung stark von Geschlechternormen geprägt und hat ihrerseits als diskursive Hüterin dieser Normierungsprozesse fungiert. Die Trennung in Literatur für Mädchen und Jungen ist verknüpft mit dem stets drohenden Verlust eines kindlichen androgynen Ideals und der anzustrebenden geglückten Entwicklung der adoleszenten Geschlechtsidentität. Überspitzt formuliert lässt sich die Kinder- und Jugendliteratur als als historisch und ästhetisch variables Schlachtfeld der Geschlechternormen lesen, auf dem spätestens seit der Reformpädagogik um 1900 um Durchsetzung und Kritik an diesen Normen gerungen wurde. Darüber hinaus bieten fantastische Texte ihren jungen LeserInnen stets die Möglichkeit, diese und andere Normen für die Dauer der Lektüre wirksam außer Kraft zu setzen[…].“3

Was hier von Sigrid Nieberle so pointiert beschrieben wird, möchte ich in Bezug auf die explizit für Mädchen verfasste Literatur etwas näher ausführen. Vorerst prägt Ratgeberliteratur, die sich an junge Frauen wendet, das Feld. Später wird Geschlechtsrollenkonformität auch in fiktionaler Form verhandelt. An der in der feministischen Literaturwissenschaft nachgezeichneten Entwicklung von Mädchenliteratur lässt sich der Stand des jeweiligen Geschlechterdiskurses ablesen.4

Während es im 18. Jahrhundert noch um Tugenden ging, die als notwendig für das Funktionieren des ganzen Hauses gedacht wurden, veränderten sich mit dem Empfindsamkeitsdiskurs auch die Anforderungen an junge Frauen: nicht mehr die vernünftige Hausfrau, sondern die den Mann mit Gefühl komplettierende Frau wurde das neue Modell.

Die Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Backfischbücher verarbeiten Emanzipationsbestrebungen dahingehend, als sie entgegen jugendlicher Wildheit und Widerstand die Mädchen schließlich doch ihrer Bestimmung, der Ehe, zuführen.

Die emanzipatorischen Aufbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden genauso in der Literatur Niederschlag wie das konservative Geschlechtermodell der Nazi- und Nachkriegszeit, welches im Wesentlichen auch das der antifeministischen Neuen Rechten ist. Mit der Zweiten Frauenbewegung verändern sich die Stoffe der Kinder- und Jugendliteratur, das emanzipatorische Mädchenbuch integriert Themen wie selbstbestimmte Sexualität oder Homosexualität und stellt Rollenzuschreibungen infrage.

In der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur werden vermehrt Trans- und Intersexualität zum Thema. Gerade die Auseinandersetzung mit intersexuellen Figuren birgt das Potential, sich dessen bewusst zu werden, welche Ausschlüsse das Konzept der Binarität produziert und wie rigide

3 Nieberle 2016, S. 25

4 Vgl. Grenz 1981 und 2000

Verstöße gegen die geschlechtliche Eindeutigkeit geahndet wurden und trotz Erfolge hinsichtlich der rechtlichen Anerkennung immer noch werden. Die Thematisierung von Transsexualität wiederum kann deutlich und bewusst machen, dass die Verkörperung eines Geschlechts nichts mit den „richtigen“ primären Geschlechtsmerkmalen zu tun hat, sondern dass Geschlecht durch doing gender auch permanent hergestellt werden muss.

Parallel zur progressiven Themen- und Formenvielfalt der Kinder- und Jugendliteratur sind Strömungen auszumachen, die ein konservatives Geschlechtermodell propagieren, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.

Einerseits wird auch am Buchmarkt versucht, Umsatzsteigerung durch Gendermarketing zu erreichen: durch Gestaltung (Farben, Motive), Themen, explizite Ansprache am Cover („Nur für Jungs“, „Erstlesegeschichten für Mädchen“ usw.) werden geschlechtsrollenkonforme Lektürewahlen gefördert und verstärkt.

Ein zweites Phänomen wurde von Kerstin Böhm in Pinkifizierung und Archaisierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur5 ausgeführt: ein aufgrund der ersten Pisa-Testungen, bei denen Jungen im Lesen wesentlich schlechter als Mädchen abschnitten, erfolgter boy turn in der Leseförderung, dem der Ruf nach Kinder- und Jugendliteratur folgte, die (wieder) Identifikationspotential für Jungen bieten soll. Hier gilt es, sich genau anzuschauen, ob und welche Geschlechtermythen transportiert werden: Vorstellungen von archaischer „echter“

Männlichkeit finden sich in der Männer(rechte)bewegung wieder, die sich gerne als Opfer des Feminismus darstellt, und sind weit entfernt von den Konzepten der emanzipatorischen Männlichkeitsforschung und Jungenarbeit.

Wie im Eingangszitat postuliert, ist Kinder- und Jugendliteratur auch Trägerin von Normen. Die Reproduktion und Verhandlung von Gendernormen, um die es hier geht, sind einmal in Hinblick auf die Rezeptionstheorie zu befragen und andererseits soll es um die Werkzeuge der Textanalyse gehen. Welche Fragen können an einen Text herangetragen werden, der auf seine Genderimplikationen hin untersucht werden soll?

Die Medienwirkungsforschung geht schon seit den 60er Jahren von einem einfachen Stimulus-Response Modell ab. In den Vordergrund rückt ein Gratifikations-Ansatz, der mehr die verschiedenen Voraussetzungen der Rezeptionssituation und RezipientInnen untersucht. Das erste

5 Böhm 2017

Modell sieht Kinder und Jugendliche als Opfer von Medien(inhalten), zweiterer Ansatz hebt ihre Kompetenz als MediennutzerInnen hervor.

Schilcher/Müller stellen einen Ansatz vor, der die Wechselwirkungen zwischen Sender und Empfänger in den Mittelpunkt rückt.So können z.B. medial vermittelte Rollenvorbilder abgelehnt, aber eben auch als brauchbar integriert werden oder bereits vorhandene Geschlechtsrollenbilder bestätigt werden: „Die in den Medien eingeschriebenen Geschlechtsrollenstereotype wirken in der Regel nicht unmittelbar auf die Rezipientinnen und Rezipienten, scheinen aber in der Lage zu sein, vorhandene Prädispositionen zu verstärken.“6

Es ist deshalb wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, welche Stereotype mit welchen Mitteln in die Texte eingeschrieben sind und wie eine Analyse aussehen kann.

Hans Krah schlägt verschiedene Analysekategorien vor, die hilfreich sind, einen Text auf seine Genderimplikationen hin zu befragen.

Wie er aufzeigt, sind vordergründig natürlich die Gender-Träger eines Textes, die Merkmale, Beziehungen usw. der Figuren für die Gender-Analyse eines Textes von Bedeutung. Weiters welches Setting der Text konstruiert, in welcher zeitlichen, räumlichen Ordnung die Geschichte sich abspielt, welche Gender-Aktionen gesetzt werden – insbesondere im Sinne der Abweichung und Norm(überschreitung). Wird eine bestimmte Gender-Rhetorik verwendet, also Strategien, die verschleiern, dass die vermittelten Gender-Normen gesetzt werden durch z.B. ein historisierendes Setting? Eine weitere Frage wäre, ob Geschlecht explizit im Text als Gender-Diskurs verhandelt wird und in welcher Weise. Werden im Text Gender-Zeichen verwendet, die auf Dichotomisierungen aufbauen, wie z.B. geschlechtlich konnotierte Zuschreibungen wie Verstand-männlich versus Gefühl – weiblich usw. …7

Für die Arbeit zu Texten und Gender sind die genannten Analysekategorien sehr hilfreich, sie können dazu beitragen, zu durchschauen, warum z.B. oberflächlich als nicht stereotyp gezeichnete Figuren je nach Setting und Handlungsverlauf trotzdem ein konservatives Geschlechtermodell bestätigen können. Für die Vermittlung können diese Kategorien helfen, Fragen zu formulieren.

6 Schilcher/Müller 2016, S. 25

7 Krah 2016, S. 54 ff.