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Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Frage „Sind die Länder Berlin und Brandenburg neugliederungsreif nach Art. 118 a GG?“ zu beantworten. Die Beant-wortung erfordert die Benennung der verfassungsrechtlich normierten Vorausset-zungen und die der Verfassungswirklichkeit Rechnung tragenden sonstigen Rah-menbedingungen sowie die Subsumtion des Lebenssachverhaltes. In einem ersten Schritt sind somit die Neugliederungsnormen darzustellen und zu interpretieren.

Den Ausgangspunkt bildet hier die Sonderneugliederungsvorschrift Art. 118 a GG, als kurze, aus einem Satz bestehende Verfassungsnorm, die für die Länderfusion den landespolitischen Willen als Grundlage der Fusionsvereinbarung und den Neugliederungswillen der Wahlberechtigten als plebiszitäres Element voraussetzt.14 Ob und ggf. warum die landesverfassungsrechtlichen Ausführungsvorschriften Art.

116 BbgVerf und Art. 97 a VvB die von der Bundesverfassung vorgegebenen Fusi-onshürden erhöhen, wird die Darstellung dieser Normen offenbaren.15

In einem zweiten Schritt ist zu untersuchen, ob die Verfassungswirklichkeit wei-tere Fusionsvoraussetzungen bereithält, die den Verfassungsinhalt unter Berück-sichtigung der Handhabung der Neugliederungsoption in der politischen Praxis konkretisieren.16 Mit Hilfe der Verfassungswirklichkeit, eines vieldeutigen Wortes,17 soll der tatsächliche Zustand in Staat und Gesellschaft beschrieben werden,18 der sich aus dem Auseinanderklaffen von geschriebenem Verfassungsrecht und politi-scher Dynamik ergeben kann19 und den Grenzen der Wirkungsmöglichkeit von Verfassungsrecht Rechnung trägt.20 Die gelebte Verfassung kann neben dem Inhalt der Norm u. a. rechtliche, politische, soziologische und ökonomische Komponenten erfassen.21 In diesem Sinne, also zur Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens der Agierenden,22 soll der Begriff Verfassungswirklichkeit nachfolgend Verwendung finden.

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14 Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum landespolitischen Willen und zum Volkswillen siehe Ausführungen 1. Teil, II., 2. b) bb) und cc).

15 Siehe zu Art. 116 BbgVerf und Art. 97 a VvB: Ausführungen 1. Teil, II., 3. und 4.

16 Siehe zur Verfassungswirklichkeit und der Differenz zwischen Normengebot und Normvollzug die Ausführungen von Tilch/Arloth, Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, Stichpunkt „Verfassungswirklich-keit“, S. 4454. Vgl. auch zur Verfassungswirklichkeit als Rechtsquelle Ritter, in: Der Staat, 1968, 352 ff.

17 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 115, Rn. 27.

18 Siehe Wipfelder, in: BayVerwBl. 1982, 161, 165.

19 Siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 3, IV., 2.

20 Siehe Hesse, in: Benda, Maihöfer, Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 3; II, Rn. 28.

21 Siehe Wipfelder, BayVerwBl. 1982, 161, 166.

22 Siehe Maunz, in: BayVerwBl. 1969, 1, der ferner darauf verweist, dass trotz des Einflusses der verschiede-nen Kompoverschiede-nenten zu beachten ist, dass die Wirklichkeit des politischen Lebens soweit wie möglich der geltenden Verfassungslage anzunähern ist.

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Der Untersuchungszeitraum ist hierbei einzugrenzen auf die Spanne ab 1990, als im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands die ersten Fusionsdiskussionen geführt wurden, bis Mitte Oktober 2007, dem Untersuchungsende. Dem Ende des Untersuchungszeitraumes ging nach dem Berlin-Urteil des Bundesverfassungsge-richts, seit dem Klarheit darüber herrscht, dass Berlin den Schuldenberg aus eigener Kraft ohne zusätzliche Bundeshilfen bewältigen muss, eine einjährige Besinnungs-phase voraus, in der die Fusionsinitiatoren ihre Haltung prüfen konnten.

Das gegenwärtige Argumentieren der politischen Entscheidungsträger in Berlin und Brandenburg, das Parallelen zum ersten Fusionsanlauf aufweist, ist besonders auf ein Feld ausgerichtet, den Finanzsektor. Den aktuellen finanzpolitischen Rah-menbedingungen und der zukünftigen Finanzausstattung des fusionierten Landes messen sie eine zentrale Bedeutung bei, da die Finanzausstattung der Länder den Gestaltungsraum für die Neugliederungsmaßnahme vorgibt.23 Der Senat von Berlin räumte seit 2002 ein, dass die Hauptstadt aus eigener Kraft die Haushaltskonsolidie-rung nebst Schuldenabbau nicht realisieren könne, sondern zur Rückkehr zu einer planvollen Haushaltspolitik auf externe Bundeshilfen angewiesen sei. Da das von Berlin angestrengte Normenkontrollverfahren nicht den erhofften Erfolg brachte, erschwert die Haushaltslage Berlins, die auch Folge der Regelungen des bundes-staatlichen Finanzausgleichssystems ist, die Fortführung des Fusionsprozesses.24

Aber selbst im Falle der Überwindung dieses Fusionshindernisses eröffnet sich mit Blick auf die zukünftige Stellung des fusionierten Landes im Finanzausgleichs-system ein weiteres Problemfeld. Angesichts der dramatischen Haushaltslage Berlins und der ebenfalls angespannten Situation in Brandenburg darf eine Lände-rehe nicht zu einer finanziellen Schlechterstellung führen. Zu groß wäre die Gefahr, dass die mittelfristig erwarteten wirtschaftlichen und finanziellen Fusionsvorteile, beispielsweise durch den drohenden Verlust des Stadtstaatenprivilegs, aufgezehrt würden.25 Ob sich die Verhandlungsposition von Berlin und Brandenburg für die unter Mitwirkung des Bundes und der übrigen Länder zu schaffenden Übergangs-vorschriften zur finanziellen Flankierung der Maßnahme im Vergleich zum ersten Fusionsanlauf durch die Novellierung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssys-tems geändert hat, wird die Gegenüberstellung der alten und der neuen, seit 2005 wirkenden fusionsrelevanten Regelungen zeigen.

Wenn Berlin und Brandenburg auf die Mitwirkung der Ländergesamtheit und des Bundes bei der Schaffung der als notwendig angesehenen Übergangsbestim-mungen angewiesen sein sollten, dann liegt die Vermutung nahe, dass unter Be-rücksichtigung der Verfassungswirklichkeit der bundespolitische Einfluss auf das Fusionsprojekt stärker ist als verfassungsrechtlich von Art. 118 a GG vorgegeben.

Dann würde die Verwirklichung der regionalen Neugliederungsmaßnahmen dem

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23 Siehe Ausführungen 1. Teil, I., 2. b).

24 Siehe Ausführungen 2. Teil, II., 1. e).

25 Vgl. Seitz, Die finanzpolitischen Voraussetzungen einer Fusion der beiden Länder Berlin und Branden-burg, Gutachten 2004, S. 29 ff.

© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 23 Einfluss der Bundeskomponente, der in Art. 118 a GG nicht vorgesehen ist, unter-liegen. Zur näheren Beleuchtung der Bedeutung der finanzpolitischen Rahmenbe-dingungen für die Länderfusion wird daher der Untersuchung die Arbeitshypothe-se vorangestellt, wonach dieArbeitshypothe-se Bedingungen die verfassungsrechtlichen subjektiven Fusionsvoraussetzungen des Art. 118 a GG präjudizieren.

Angesichts der Vielzahl von beispielsweise kommunal- und gesellschaftsrechtli-chen Einflüssen auf das Neugliederungsprojekt ist eine Beschränkung des Untersu-chungsgegenstandes erforderlich. So wird der Themenkreis Finanzausstattung der Kommunen nicht vertieft erörtert, sondern nur dort dargestellt, wo die Kommunal-ebene das Handeln auf LandesKommunal-ebene unmittelbar beeinflusst.26 Ebenso unbeleuchtet bleibt der Aspekt der europäischen Regionalisierung, der zum Nachdenken über die föderale Gliederung der Republik anregt.27 Schließlich wird auch der im gesell-schaftlichen Umfeld wurzelnde, insbesondere von den Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen ausgeübte Einfluss auf das Fusionsvorhaben nicht vertieft dargestellt.

Die Initiatoren der Länderehe beabsichtigen, jedenfalls gegenwärtig, zur Schaffung eines breiten politischen und gesellschaftlichen Fusionsfundamentes diese Kreise in den Neugliederungsprozess einzubeziehen, was angesichts der fusionsfreundlichen Haltung der regionalen Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften sowie der In-dustrie- und Handelskammern, die sich mit Nachdruck für die Neugliederungs-maßnahme einsetzen,28 gelingen sollte.29

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26 Der kommunale Finanzausgleich und die Finanzausstattung der Gemeinden war bei den Verhandlungen zum Neugliederungs-Vertrag Mitte der 90er Jahre ein Streitpunkt, siehe hierzu 2. Teil, I., 3. a). Siehe auch Färber, Länderfinanzausgleich und Gemeindefinanzen, in: Bohr (Hrsg.), Föderalismus, S. 85 ff.

27 Siehe zum Regionalismus Umbach, in: Männle (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, Föderalismus und Regionalismus, S. 111 bis 119, Hinsch, Neugliederung des Bundesgebietes und euro-päische Regionalisierung, S. 185 ff und Kopp, in: Bohr Föderalismus, S. 163 ff.

28 Strategiepapier der IHK Berlin vom 07.06.2007, S. 3 und offener Brief der Landesarbeitsgemeinschaft der IHKs Brandenburg vom 10.05.2007, S. 1 ff.

29 Zum Einfluss der verschiedenen gesellschaftlichen Interessenvertreter auf den ersten Fusionsanlauf siehe Wegrich, Der Verhandlungsprozess zur Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg, S. 73.

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3 Methodische Überlegungen und