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Die Intelligenzija und ihr kompliziertes Verhältnis zu den politischen Eliten in der Sowjetunion

A. Fursov/ Kustarev

Andrej Fursov (geb. 1951) und Aleksandr Kustarev (geb. 1938) sind herausragende russische Historiker, Soziologen und Publizisten. Kustarev beschäftigte sich bis zu seiner Emigration aus der Sowjetunion (1981) mit Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung von Dritte-Welt-Staaten. In den 1980/90er Jahren war er für den russischsprachigen Auslandsdienst der BBC tätig. Nach seiner Rückkehr in die Heimat arbeitete er von 1997 bis 2006 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Insitut für russische Geschichte der RGGU in Moskau. Dieses Institut wurde von Andrej Fursov ins Leben gerufen; dieser leitete es auch von 1997 bis 2006. 2007 verließ Fursov die RGGU und ging an die MosGU (Moskauer Geisteswissenschaftliche Universität), wo er seither das Zentrum für russische Forschungen leitet. Bekannt wurden Fursov und Kustarev im Jahre 2006, als von ihnen der intelligenzijakritische Sammelband Nervnye ljudi (Oþerki ob intelligencii) herausgebracht wurde, der in intellektuellen Kreisen Russlands heftige Diskussionen auslöste.37

36 Ebd., S. 169.

37 Siehe unter anderem die Diskussion zum Sammelband in Heft 3 (2006) der Zeitschrift Neprikosnovennyj zapas.

Der Sammelband Nernye ljudi beinhaltet 15 Essays von Aleksandr Kustarev, die dieser in der Emigration und nach seiner Rückkehr in die Heimat verfasste. Den Essays vorangestellt sind ein einführender Artikel und ein Vorwort von Andrej Fursov. Den Sammelband beschließt eine Übersetzung des berühmten Essays Der Verrat der Intellektuellen des französischen Philosophen Julien Benda aus dem Jahre 1927. Der gesamte Sammelband stellt eine Kampfansage an die bestehenden Intelligenzija-Modelle dar.

Eine Neubewertung der Wechselbeziehungen zwischen den politischen Eliten und der (künstlerischen) Intelligenzija in der Sowjetunion der Brežnev-Ära finden wir in den Kapiteln 12-15 des von Fursov verfassten Vorwortes zum Sammelband sowie in Kustarevs Essay „Sovetskaja intelligencija: poiski samoopredelenija i ideologii (60 – 80-e gody)“ aus dem Jahre 1999.38 Beide Autoren beschäftigen sich in ihren Texten mit der Rolle, die die Intelligenzija in den 1960er-1980er Jahren in der Sowjetunion spielte.

Dabei gilt ihr besonderes Interesse dem Anteil, den die Sowjetintelligenzija an den gesellschaftlichen Prozessen hatte, die zur Perestroika und letztendlich zum Untergang der Sowjetunion führten. In diesen Prozessen, so Fursov und Kustarev, spielte die Sowjetintelligenzija, oder zumindest ihr Establishment (d. h. die intellektuelle Elite des Landes), eine herausragende Rolle. Fursov und Kustarev sind sich dahingehend einig, dass sich die Sowjetintelligenzija ab den 1960er Jahren in eine Art

„Kulturbourgeoisie“39 verwandelte und als solche zum „Totengräber des Sozialismus“40 wurde. Diese Verwandlung führen die Autoren auf den Umstand zurück, dass sich gerade in den 1960er Jahren eine „Vermassung der Sowjetintelligenzija“ (russ.:

massovizacija sovintelligencii)41 vollzog, die zu ihrer ideologischen Neuausrichtung führte. In jener Zeit hörte die Sowjetintelligenzija auf, sich dem Sowjetstaat für die kostenlos erhaltene Ausbildung verbunden zu fühlen. Sie begann, ihr hohes kulturelles und Bildungsniveau als ihren Verdienst anzusehen und wollte vom Staat als gleichberechtigter Partner wahrgenommen werden. Die überhöhten sozialen

38 Im Folgenden zitiert nach: A. Fursov, Intelligencija i intellektualy, a. a. O., S. 48-86; A. Kustarev, Sovetskaja intelligencija: poiski samoopredelenija i ideologii (60 – 80-e gody), a. a. O., S. 92-112.

39 Diese Bezeichnung stammt von Fursov. Siehe A. Fursov, Intelligencija i intellektualy, a. a. O., S. 82.

40 Diese Bezeichnung stammt von Kustarev. Siehe A. Kustarev, Sovetskaja intelligencija: poiski samoopredelenija i ideologii (60 – 80-e gody), a. a. O., S. 97.

41 A. Fursov, Intelligencija i intellektualy, a. a. O., S. 79 f.

Vgl. hierzu auch die Aussagen Gudkovs/Dubins zur „massenhaft auftretenden Bürokratie“.

Erwartungen der Sowjetintelligenzija wurden in der Realität jedoch nicht erfüllt, was zu einem kollektiven Trauma großer Teile der Sowjetintelligenzija führte. Um dieses Trauma zu kompensieren, entwickelte die Sowjetintelligenzija jener Zeit eine Reihe von Intelligenzija-Modellen (Kustarev nennt sie „Repräsentationstechniken“), mit deren Hilfe sie ihren Status als Elite bekräftigen wollte.42

Diese „kompensatorische Mythologie“43, die man als Kernstück der Ideologie der mit ihrer sozialen Stellung unzufriedenen Sowjetintelligenzija verstehen kann, entlarven Kustarev und Fursov in den zwei o. g. Texten. Kustarev konzentriert sich dabei auf die Dekonstruktion der Vorstellung von der Intelligenzija als Anhängerin nichtmaterieller Werte sowie auf die Beschreibung der verschiedenen Repräsentationstechniken der späten Sowjetintelligenzija, d. h. der Rollen, die ein Intelligenzler damals zu spielen hatte, wenn er sich als Vertreter der „echten Intelligenzija“ präsentieren wollte.44 Fursov beschränkt sich in seiner Kritik der „kompensatorischen Mythologie“ der Sowjetintelligenzija auf eine Analyse des „Mythos’ der Šestidesjatniki“45. Unter

„Mythos der Šestidesjatniki“ versteht er dabei die Behauptung, dass die liberalen, antistalinistisch eingestellten Teile der Sowjetintelligenzija („Šestidesjatniki“) gegen die konservative Nomenklatura („Macht“) gekämpft hätten. Diese Behauptung entlarvt er als „Geschichtsfälschung“, die zwei Zielen diene: erstens lasse sie die Šestidesjatniki in einem guten Licht erscheinen und steigere damit ihr Ansehen in der Gesellschaft sowie ihr Selbstbewusstsein, zweitens sei solch eine Behauptung auch der Nomenklatura recht gewesen, die durch diesen ausgedachten Konflikt von den wahren Konflikten innerhalb der Macht habe ablenken können. Nach Stalins Tod, so Firsov, habe sich nämlich aus Teilen der Nomenklatura eine „Klasse von Privateigentümern“ entwickelt. Ausserdem sei zur selben Zeit die Avantgarde der liberalen Intelligenzija zu einer Art

„Kulturbourgeoisie“ geworden. Und beide hätten sie letztendlich den Zusammenbruch der UdSSR herbeigeführt.46 Die Šestidesjatniki, so Fursov weiter, seien in dieser Beziehung immer nur die Produzenten von „Legenden“ gewesen. Gerade beim Übergang zum Kapitalismus seien diese „Legenden“ den neuen Privateigentümern aber

42 A. Kustarev, Sovetskaja intelligencija: poiski samoopredelenija i ideologii (60 – 80-e gody), a. a. O., S.

96 f.

43 Dieser Begriff stammt von Kustarev. Siehe A. Kustarev, Sovetskaja intelligencija: poiski samoopredelenija i ideologii (60 – 80-e gody), a. a. O., S. 97.

44 Ebd., S. 97-112.

45 Dieser Begriff stammt von Fursov. Siehe A. Fursov, Intelligencija i intellektualy, a. a. O., S. 81.

46 Ebd., S. 81 f.

sehr von Nutzen gewesen, rechtfertigten sie doch deren kriminelle Privatisierungspolitik vor dem Volk als „liberale Massnahmen im Kampf gegen den Kommunismus“.47

© KOPS 2011

47 Ebd., S. 84.

Alexander Pahl

Über die komplizierte Wechselbeziehung zwischen