(nach einem Skript von Prof. H. Krueger)
Nicht jede Möglichkeit, die mechanisch theore-tisch denkbar ist, wird vom Menschen tatsäch-lich genutzt. Personen bewegen sich in ihrer Umwelt. Dadurch ergeben sich Beschränkun-gen der mit der „statischen“ Anthropometrie gewonnenen Daten. Wir definieren deshalb die an den Funktionen von Menschen orientierte Anthropometrie als „funktionelle" Anthropo-metrie. Folgende Faktoren bestimmen den tatsächlich genutzten Bewegungsraum:
• ererbte Bewegungsmuster
• erworbenes Verhalten,
• energetischer Aufwand (Ökonomie)
• nervöser Aufwand (Ökologie),
• mögliche Kraftentwicklung, Leistung
• schmerzhafte Gelenkstellungen,
• interne Kräfte (Haltearbeit)
• gesundheitlich nachteilige Auswirkungen Einschränkungen des optimalen Bewegungs-raumes im Hinblick auf Tätigkeiten führt im all-gemeinen nicht nur zu einer verminderten Ar-beitsleistung, sondern erhöht auch die Unfallge-fahr und führt häufig zu gesundheitlichen Ein-schränkungen. Im Folgenden werden Beispiele aufgezeigt, die zeigen, wie sich die gestaltete Umgebung des Menschen auf sein Verhalten, seinen Energieverbrauch, seine Kraftentfaltung, sein Komfortempfinden und auf biomechani-sche Kräfte im Körperinneren auswirkt.
Verhalten
Aufenthaltshäufigkeit [ % ]
Bewegungsdistanzen [ cm ] links rechts vorn hinten
0
20 20
40 40
60
20 40
0 60
20 40
040 20 0 20 40
1669
Abb. 6-7: Bewegungsraum der Füsse bei langan-dauernder Schreibtischtätigkeit für den linken und den rechten Fuss.
Die uneingeschränkte Bewegungsfläche der Füsse beim Sitzen hat nach Abb. 6-7 ein Aus-dehnung von 70 cm (Breite) x 60 cm (Tiefe).
Hinzugerechnet werden muss die Breite und die Länge der Füsse (Schuhe).
Hinweis: Jede Fussstütze mit kleinerer Auflageflä-che ist unzureiAuflageflä-chend und potentiell gesundheitsge-fährdend.
Energieverbrauch
Die Probanden mussten im Sitzen in vorgege-bene Richtungen wiederholt Gewichte von 1 kg versetzen. Ohne Sichtkontrolle ist die Richtung von 60° bezüglich Energieverbrauch am güns-tigsten (Abb. 6-8). Der Energieverbrauch kann über den Sauerstoffverbrauch (O2-Verbrauch) in der Atemluft bestimmt werden.
0
Abb. 6-8: Energieverbrauch (gemessen als Sauer-stoffverbrauch) bei verschiedenen Bewe-gungsrichtungen der Hand bei Transport-aufgaben im Greifraum.
Hinweis: Bei der Einrichtung von Montageplätzen spielt die Positionierung der Vorratsbehälter im Hin-blick auf den physiologischen Arbeitsaufwand (Ener-gieeinsatz) eine wichtige Rolle.
Unterschiedliche Haltungen des Oberarms er-geben unterschiedlichen Arbeitsumsatz (Ener-gieverbrauch) und resultieren in unterschiedli-cher Arbeitsleistung (Abb. 6-9).
0
Abduktionswinkel [°]
relative Werte Arbeitsumsatz Arbeitsleistung
Abduktionswinkel [°]
relative Werte Arbeitsumsatz Arbeitsleistung
0540
Abb. 6-9: Energieverbrauch (Arbeitsumsatz) und Leistung bei verschiedenen Haltungen (Abduktionswinkel) des Oberarms beim Verpacken von Lebensmitteln.
Hinweis: Es gibt einen Bereich optimaler Abduk-tionswinkel bei der die Leistung optimal ist und gleichzeitig der physiologische Aufwand minimal ist.
Für eine Treppe gibt es einen optimalen Nei-gungswinkel und eine optimale Auftritttiefe (Abb. 6-10). In alten Treppenhäusern geben die
„Einschleifspuren“ einen Hinweis auf günstige Dimensionen.
0528
Steigung Auftritt [cm]
Steigung [cm]
Steigung Auftritt [cm]
Steigung [cm]
Abb. 6-10: Energieverbrauch bei verschiedenen Nei-gungswinkeln und Auftritttiefen von Trep-pen.
Hinweis: Nicht nur der physiologische Aufwand (Energieverbrauch) ist bedeutend, sondern auch der Aspekt der Unfallgefahr. Treppen, die das natürliche Schrittmuster nicht beachten sind unfallgefährdend.
Die Leistung von Probanden an einem Fahr-radergometer hängt von der Tretgeschwindig-keit ab (Abb. 6-11). Ergometer sind Arbeitsge-räte, mit denen auf einfache Art körperliche Ar-beit im Labor simuliert wird (Abb. 6-12).
20-38 mNs-1
39-58 mNs-1
59-77 mNs-1 59-77 mNs-1
0 20 40 60 80 100 120
0597
1,6
0 1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
Pedalumdrehungen [min-1]
Energieumsatz / Arbeitseinheit [kJ/mN]
Abb. 6-11: Energieverbrauch bei Fahrradergome-terarbeit.
Abb. 6-12: Fahrradergometer mit PC-Schnittstelle zur Aufzeichnung der Leistung und zur Simulation unterschiedlicher Belastungs-profile.
Hinweis: Die dynamische gemessene Muskelkraft unterscheidet sich deutlich von der statisch gemes-senen. Im allgemeinen ist die dynamische grösser als die statische.
Fähigkeit zur Kraftentwicklung
Welche Kräfte der Mensch entwickeln kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Abb.
6-13 zeigt als Beispiel die Auftretenshäufigkeit („Frequenz“) der Kräfte für das Heben von Las-ten getrennt nach Körperhaltung bzw. verwen-deter Muskelgruppe (Arme, Beine, Rücken) und nach Geschlecht.
0949
0949 0949
0949
Abb. 6-13: Kraftverteilung von Armen, Beinen und Rücken im Vergleich.
0 20 40 60 80 100
20 40 60 80 100 120 140 160
K r a f t [ %max ]
E l l e n b o g e n w i n k e l [ ° ] 180
536
Abb. 6-14: Kraftentwicklung in Abhängigkeit des El-lenbogenwinkels.
Für jedes Gelenk gibt es einen optimalen Win-kelbereich, in dem maximale Kraft erreicht wird (Abb. 6-14). Für das Ellenbogengelenk wird die
maximale Beugekraft (Heben) zwischen 90 und 120° erreicht.
Die mit den Beinen aufgebrachte maximale Druckkraft mit rückwärtiger Abstützung des Be-ckens ändert sich mit der Richtung der aus-geübten Kraft. Ein wesentliches Element ist die Rücken- bzw. die Beckenstütze, die erst die volle Entfaltung der Beinkraft über das eigene Körpergewicht hinaus erlaubt (Abb. 6-15).
0537
Abb. 6-15: Fusskraft bei verschiedenen Sitzpositio-nen.
Diskomfort, Schmerzen
Die Wahl des Werkzeuges bestimmt die Hand-haltung. Eine ungünstige Abduktion (Verdre-hung nach Aussen) des Handgelenkes über längere Zeit verursacht bei einem Teil der Be-nutzer Beschwerden im Bereich der Handwur-zelknochen (Abb. 6-16). Bei ungünstiger Ar-beitshaltung entwickeln sich nicht nur Be-schwerden, sondern Krankheiten mit einer Ein-schränkung der Arbeitsfähigkeit. Dieses kann in einfachen Fällen eine Sehnenscheidenentzün-dung (Tendosynovitis) oder eine EntzünSehnenscheidenentzün-dung eines Knochenfortsatzes (Epicondylitis, z.B.
Tennis-Ellenbogen) und in schweren Fällen ein Karpaltunnel-Syndrom sein (Abb. 6-17).
Abduktionswinkel [ ° ]
Abb. 6-16: Häufigkeit von Symptomen im Hand-bereich bei verschiedenen Abduktions-winkeln der Hand (n. LÄUBLI).
Hinweis: Bedienen einer Tastatur mit abgewinkelten Handgelenken ist gesundheitsschädlich.
0 25 50 75 100
Anteil Personen mit Beschwerden [ % ]
Tätigkeitszeit [ Wochen ]
0
Abb. 6-17: Erkrankungshäufigkeiten bei unterschied-lich geformten Zangen. Linker Säulenteil:
Tendosynovitis, mittlerer Säulenteil: Epi-condylitis, rechter Säulenteil: Karpal-tunnel-Syndrom (für die Bezeichnungen siehe Text).
Hinweis: Die Wahl eines Werkzeuges sollte nicht nur nach technischen Gesichtspunkt erfolgen. In die fi-nanziellen Gesamtkosten gehen auch die physiolo-gischen Kosten ein, die hier zu Fehlzeiten am Ar-beitsplatz führen.
Interne Kräfte (Biomechanik)
Bei einer aufrechten Haltung (Abb. 6-18 links, Blick geradeaus leicht nach vorn geneigt) benö-tigt deutlich weniger Kraft als eine nach vorn gebeugte Haltung (Abb. 6-18 rechts, Blick auf die Tischoberfläche gerichtet). Die nach unten gerichteten Pfeile sind ein Mass für die erfor-derliche muskuläre Kraft, die das Gewicht des Kopfes bzw. des Rumpfes ausbalanciert. Eine vorgebeugte Haltung belastet zusätzlich die Lendenwirbelsäule, wenn die Arme nicht aufge-stützt werden können.
Fk Fn
Fl
Fl Fr
Fn
Lr Lk
Lr Lk
Ln
Ll Ln
Fr Fk
Ll
k k n
n L F L
F ⋅ = ⋅ und Fl⋅Ll =Fr ⋅Lr Abb. 6-18: Die Kopfhaltung bestimmt massgebend
die Belastung der Halswirbelsäule Eine Zunahme des Körpergewichtes bedeutet eine mehrfache Zunahme der muskulären Hal-tekraft und damit der Belastung der Wirbelsäu-le. Die Verlagerung des Schwerpunktes nach vorn bewirkt eine zusätzliche Vergrösserung des physiologischen Aufwandes (Abb. 6-19).
Auch hier müssen qualitativ die Drehmomente, die aus Belastung (Körpergewicht M1 und He-belarm L1 bzw. M2 und L2 nach Gewichtszu-nahme) und muskulärer Haltekraft (Kraft der Rückenmuskulatur m1 bzw. m2) gleich gross sein. Es gilt:
1 1 1
1 M l m
L ⋅ = ⋅ bzw. L2⋅M2 =l2⋅m2.
M1
M2 m2
m1
l1
l2
L1
L1
L2
L2
Abb. 6-19: Bei der Betrachtung darf der interne phy-siologische Aufwand für Körperhaltungen nicht vernachlässigt werden.
Dabei ist l1 bzw. l2 der Abstand des Angriffs-punktes der Rückenmuskulatur von der Achse der Wirbelsäule.