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Friedliche Geschäfte? Der Kriegshandel über Hamburg und Bremen

Im Dokument Ideale und Interessen (Seite 60-118)

„Strohmänner“ für Weser und Elbe

Geopolitische Ereignisse agglomerierten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Haupt-, Handels- und Hafenstädten.1 Solche Orte waren und sind Räume, an denen sich „Kommunikation und Interaktion verdichten“.2 Auch der amerikanische Außenminister William Seward wusste um die Bedeutung von Europas urbanen Zentren. Sie waren Transmitter des Amerikanischen Bürgerkrieges. „An almost electric political connection, however, exists bet-ween the several capitals of western Europe“, ermahnte Seward seinen Gesand-ten in Berlin kurz vor Kriegsausbruch. Alle „possible forms of offence or irri-tation“ gegenüber der preußischen oder anderen Regierungen galt es deshalb zu vermeiden.3 Sollte es Emissären der Konföderation gelingen, erfolgreich um die Gunst der europäischen Mächte zu werben, würden bald weitere Staaten folgen, so der Leitgedanke des Außenministers.

Die Diplomatie der Vereinigten Staaten war seit ihrem Bestehen erstrangig Handelsdiplomatie.4 Ihr Primat war der Erhalt und die Expansion wirtschaft-licher Beziehungen zu anderen Regionen der Welt. „We are a commercial peo-ple, and of course cultivate acquaintance first and chiefly with other commer-cial nations“, schrieb Seward einen Tag nach Beginn der Bombardierung Fort

1 Vgl. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1, 426.

2 Kaltmeier, Politische Räume, 98.

3 Seward an Judd, Washington, 22. März 1861, United States Department of State, Papers Rela-ting to the Foreign Relations of the United States, 1861, 37.

4 Vgl. Gabacchia, Foreign Relations, 43 f.

Sumters nach Wien.5 Zu diesem Zeitpunkt waren die USA, aller postulierter Isolation zum Trotz, schon längst ein zentraler Knoten im Weltteppich. Handel bildete für die junge Nation die Basis ihrer internationalen Beziehungen. Doch das sollte der Bürgerkrieg nachhaltig ändern.

Der Krieg läutete für die USA ein neues außenpolitisches Zeitalter ein.6 Schon früh erkannten die beteiligten Zeitgenossen diesen sich anbahnenden, außenpolitischen Umbruch. All die Jahre zuvor hätten sich die USA dank der Warnung George Washingtons vor „entangling alliances“ und der Monroe-Doktrin gegen Verwicklungen in die europäische Politik entschieden.7 Doch die Gefahr einer europäischen Intervention  – während des Bürgerkrieges mehrfach in greifbarer Nähe – forderte einen Kurswechsel der USA, der, so prognostizierte Heinrich Börnstein treffend, künftig dazu führen sollte, dass

„not a gun may be fired from Europe, without the permission of America“.8 Sowohl der Norden als auch der Süden standen im Frühling 1861 unweigerlich im Scheinwerferlicht einer Weltbühne. Errichtet war diese Bühne schon einige Jahre zuvor, doch Art und Zeitpunkt des Auftritts kamen für beide Akteure überraschend.

Den Bürgerkrieg einen Bürgerkrieg sein zu lassen, ihn nicht zu einem welt-weiten Flächenbrand auszuwelt-weiten, war oberste außenpolitische Priorität des Außenministeriums in Washington. Doch das war leichter gesagt als getan. Zu sehr hatten sich die USA in den letzten Jahrzehnten in das globale Netzwerk von Handel und Auswanderung verstrickt, als dass ihr Krieg ohne Bedeutung für Europa und andere Teile des Erdballs bleiben konnte. Es war von immenser Wichtigkeit, in den Schaltstellen transnationaler Beziehungen, den ausländi-schen Haupt-, Hafen- und Handelsstädten,9 loyale oder wenigstens neutrale Pufferzonen zu errichten. Ein angemessener Ton für Europa war nötig, der sowohl die Ziele von Union als auch die der Konföderation mit Legitimität erfüllte. Kurz: Beide Außenministerien mussten sich rasch um effektive Öf-fentlichkeitsarbeit bemühen.

Ein „war for public and world opinion“ entbrannte zeitgleich mit den Kämpfen auf den Schlachtfeldern.10 Norden und Süden mussten ihre Kriegs-ziele in einer Weise rechtfertigen, die in Europa Zuspruch und Unterstützung finden würde. Die Herausforderung der nordstaatlichen Diplomatie bestand darin, den überwiegend monarchischen Staatsoberhäuptern Europas zu ver-mitteln, dass die USA für den Erhalt der eigenen Staatsgewalt kämpften,

ob-5 Seward an Burlingame, 13. April 1861, United States Department of State, Papers Relating to the Foreign Relations of the United States, 1861, 183.

6 Vgl. Sexton, The Monroe Doctrine, 137–185.

7 Börnstein an Seward, 3. März 1862, NA Bremen.

8 Ebd.

9 Zur transnationalen Bedeutung von (Groß-)Städten vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 381 ff.

10 Fleche, The Revolution of 1861, 62.

wohl große Teile der US-Amerikaner in den vorangegangenen 13 Jahren na-tionalistische und separatistische Bewegungen in Europa begrüßten.11 Bis zur Emanzipationsproklamation im Herbst 1862 mieden die diplomatischen Ins-truktionen des Außenministeriums in Washington libertäre Töne zugunsten einer gemäßigt liberalen Positionierung mit konservativem Grundton.12 Die Regierung vertrat eine Direktive, die sich staatliche Ordnung, Integrität und nationale Einheit auf die Fahne schrieb. Viele europäische Regierungen hatten vor Kurzem noch selbst Revolutionen im Namen der staatlichen Zentralgewalt unterdrückt, nun beabsichtigte die Union das Gleiche.13 Diese Maxime prägte die nordstaatliche Diplomatie zu Beginn des Krieges. Sie zielte auf die Solidari-tät der überwiegend konservativen Staatsoberhäupter Europas, was auch die Auswahl der Gesandten und Konsuln bestimmte.

Emissäre und Journalisten der Konföderation hingegen arbeiteten im Grunde mit zwei Rechtfertigungsnarrativen, die ihnen auf dem Weg zu An-erkennung und staatlicher Unabhängigkeit helfen sollten. Auf der einen Seite verstanden sie sich als Bewahrer einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die von revolutionären Impulsen regierungsnaher und radikaler Gruppen, al-len voran den Abolitionisten, in die Enge gedrängt worden war.14 Andererseits, so argumentieren neuere, globalhistorische Studien, gaben die Südstaaten- Repräsentanten in Europa zu verstehen, dass sie als (konter-)revolutionäre Na-tionalisten für ihr Recht auf Selbstbestimmung und nationale Existenz kämpf-ten.15 Dabei verwiesen einige auf Parallelen zu den europäischen Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen, wie sie in Polen, Italien, Irland oder Ungarn anzutreffen waren.16 Alle nationalistischen Bewegungen würden daran arbei-ten, die oftmals künstlichen Grenzen der Wiener Ordnung von 1815 sukzessive wieder aufzuheben, las man in einer südstaatlich-gesinnten Zeitung aus Lon-don.17

Die Sezession des Südens, so die Argumentation vieler seiner Fürsprecher, sei der Beweis, dass der gleiche Prozess nun auch in Amerika zutage trete.

Mit diesen Vergleichen wollte der Süden die Rechtmäßigkeit seiner Abspal-tung bekräftigen. Dass die diplomatische und öffentliche Agitation des Südens schon im Voraus zum Scheitern verurteilt gewesen war, ist hauptsächlich den Urteilen späterer Historiker und Historikerinnen anzurechnen. Die in Europa tätigen Konföderierten waren überaus bemüht, ihre Sache dem örtlichen

Pub-11 Vgl. Lerg, Amerika als Argument, 141–155; Moltmann, Isolation oder Intervention, 24–51;

Morrison, American Reaction to European Revolutions, 111–132; Fleche, The Revolution of 1861, 63, Roberts, Distant Revolutions, 42–104.

12 Vgl. Fleche, The Revolution of 1861, 63.

13 Vgl. ebd., 60–68.

14 Vgl. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur, 175–187.

15 Vgl. Fleche, The Revolution of 1861, 68.

16 Vgl. ebd., 91–100; Quigley, Secessionists, 151–173.

17 Vgl. Fleche, The Revolution of 1861, 87–88.

likum möglichst greif- und erfahrbar zu verkaufen, indem sie ihre Abspaltung von der Union erstens in den Kontext europäischer Revolutions- und Sezessi-onsbewegungen einzubetten versuchten, um damit die liberal-demokratische Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, und zweitens als konservativer Korpus auftraten, der für den Erhalt von Ordnung und des Status quo kämpfte. Für die Konföderierten schien es offensichtlich, dass für sie der Gang der Welt-geschichte günstig war. Zur Not hoffte der Süden, seit Mitte April 1861 von einem Blockadering der Unionsmarine in seinen Kontakten zu Europa ein-geschränkt, durch ein „heroic suffering“ ähnliche materielle und ideologische Unterstützung zu erhalten, wie sie den nach Unabhängigkeit strebenden Be-völkerungsteilen Italiens, Polens und Irlands zuteil wurde.18

Nach Kriegsausbruch begann die Union, ihr äußeres Verteidigungs- und Überwachungssystem in Europa zu verdichten und mit geeigneten Vermitt-lern zu besetzen. Der Kongress ermächtigte Lincoln im August 1861, für die Dauer der „insurrection“ so viele Konsuln in den Hafenstädten Europas, Asi-ens, Mittel- und Südamerikas einzusetzen, wie er für angemessen erachtete.19

Verlässliche Konsuln in den europäischen Handelsmetropolen waren be-sonders wichtig für das nordstaatliche Verteidigungs- und Informationsnetz.

Vor dem Krieg dominierten im Außenministerium, in den Gesandtschaften und Konsulaten über viele Jahre Sklavereibefürworter aus den Südstaaten oder ihre nördlichen Sympathisanten aus der demokratischen Partei.20 Nach der Se-zession des Südens traten viele Diplomaten und Konsuln freiwillig von ihrem Amt zurück, um die neue Konföderation nach Kräften zu unterstützen.21 Die meisten anderen Angestellten im auswärtigen Dienst ließ Lincoln durch uni-onstreue Emissäre ersetzen, was der Unionsdiplomatie langfristig äußert zu-träglich war.22

Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein war es in der US-amerikanischen Außenpolitik üblich, dass der neue Präsident die Gesandtschafts- und Konsu-latsposten im Ausland mit verdienten Wahlkampfunterstützern besetzte.23 Lin-coln wusste, dass die deutschstämmigen Mitglieder der Republikanischen Par-tei, die ihn zahlreich im Wahlkampf unterstützt hatten, oftmals leidenschaftli-chere Förderer der Unionsziele waren als ihre in den USA geborenen

Parteikol-18 Ebd., 104.

19 Vgl. Statutes at Large Vol. xii, 285, zit. n. Abbot, The United States Consul’s Manual, 369.

20 Vgl. Hochgeschwender, Der amerikanische Bürgerkrieg, 97 f.; Karp, This Vast Southern Em-pire, 4–8.

21 So trat zum Beispiel der Konsul für Hannover zurück, nachdem sein Heimatstaat Georgia die Sezession ratifiziert hatte. Das Amt fiel daraufhin dem amerikanischen Generalkonsul in Frank-furt zu, der nach seiner Amtsentlassung in FrankFrank-furt blieb und als inoffizieller Agent für die Konföderation arbeitete. Vgl. Hutton an Black, 9. Februar 1861, Despatches from United States Consuls in Hanover, Roll 1, NARA.

22 Vgl. Jones, Blue & Gray Diplomacy, 322.

23 Vgl. Paterson, American Businessmen, 77–97.

legen.24 Dies dürfte die Ernennung Heinrich Börnsteins zum neuen Konsul für Bremen motiviert haben. Börnsteins Leben war von Unrast gekennzeichnet.

Geboren 1805 in Hamburg, verbrachte er seine Jugend im damals österreichi-schen Lemberg. Mit Anfang zwanzig verdingte er sich als Theaterjournalist für verschiedene Zeitungen, 1842 verschlug es ihn nach Paris, wo er als Theater-regisseur arbeitete.25 Ende 1848 verließ Börnstein Europa und wanderte in die USA aus. Er ließ sich in St. Louis nieder und erwarb den Anzeiger des Westens, den er zu einer der meistgelesenen deutsch-amerikanischen Zeitungen aus-baute. Bei Kriegsausbruch übernahm der damals 55-Jährige das Kommando über eine Freiwilligenkompanie in Missouri.26 Nach Ablauf seines dreimonati-gen Wehrdienstes wollte sich Börnstein wieder dem Zeitungsgeschäft widmen, doch seinem Blatt fehlten die Einnahmen. Das Anzeigengeschäft war durch den Krieg eingebrochen.27 Auf der Suche nach einem alternativen Einkommen wollte sich Börnstein nun ganz „der Unionsregierung nach […] besten Kräften nützlich […] machen“ und reiste im August 1861 nach Washington.28 Dass er bei seiner Ankunft bereits zum Konsul für Bremen ernannt worden war, er-fuhr Börnstein erst später. Die Zustellung des Ernennungsschreibens hatte sich mit seiner Abreise aus St. Louis überschnitten.29 Außenminister Seward hatte Börnstein für den Posten in Bremen vorgeschlagen, in Absprache mit Rudolf Schleiden, dem Gesandten der Hansestädte in Washington.30 Seward wollte

„in allen Seehäfen verlässliche Leute als Consuln haben […], um die Waffen-sendungen, Zuzüge und Ausrüstung von Kaperschiffen für die Secessionisten genau zu überwachen und so viel wie als möglich zu verhindern.“31 Börnstein nahm die Konsulatsstelle bereitwillig an.

Die Hansestädte und die USA: sozioökonomische Grundlagen

Bremen, Hamburg und ihr Hinterland gehörten zu den zentralen ökonomi-schen Verbindungsstellen zwiökonomi-schen Nordamerika und Mitteleuropa. Erste Nachweise des Imports von nordamerikanischem Reis, Baumwolle und Tabak durch norddeutsche Kaufleute reichen zurück bis ins erste Drittel des 18. Jahr-hunderts.32 Südstaatliche Häfen wie Charleston, New Orleans und Baltimore waren damals schon Verladestationen für Sklavenprodukte nach

Deutsch-24 Vgl. Fleche, The Revolution of 1861, 63.

25 Vgl. Kosch, Deutsches Theater-Lexikon, Bd. 1.

26 Vgl. Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre, Bd. 2, 269.

27 Vgl. ebd., 333–334.

28 Ebd., 342.

29 Vgl. ebd., 342.

30 Vgl. ebd., 342–343.

31 Ebd., 343.

32 Vgl. Musatafa, Merchants and Migrations, 122.

land gewesen und vereinzelte hanseatische Reeder, Hafenarbeiter und Schiffs-mannschaften beteiligten sich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, entweder direkt oder indirekt, am Sklavenhandel (in Hamburg war dieser noch bis 1837 erlaubt).33 Amerikanische und hanseatische Händler sprachen recht schnell dieselbe Sprache: die des globalen Kapitalismus.34 Alle Interessen Bremens, so hieß es zum Beispiel in einem Artikel des Staats-Lexikons von 1859, seien

„demjenigen des Handels untergeordnet“.35 Für Kleinstaaten war die Einbet-tung in einen möglichst offenen und weitverzweigten Markt überlebenswich-tig. Das schien nationalistischen und protektionistischen Kritikern suspekt:

„Yankee-Affen“, Mangel an Patriotismus, übersteigerter Bereicherungswille und Handlangertum für die Interessen nicht deutscher Staaten gehörten zu den oft gehörten Anfeindungen, die Binnenländer den Hanseaten entgegne-ten.36 Dabei war und ist es ein Charakteristikum des Transithandels, wie ihn die Bremer und Hamburger betrieben, dass er „völlig losgelöst von nationa-len Interessen“ geschieht.37 Je mehr der atlantische Handel und die Auswan-derung über Hamburg und Bremen an Zahl und Menschen zunahm, desto leiser wurden die Kritiker. Der „materielle Zug“ der fünfziger Jahre mit seinen

„großartigen Erfolgen auf dem Gebiete der Industrie und des internationalen Verkehrs“38 überzeugte auch viele zuvor Andersdenkende, dass die Sonder-stellung der Hansestädte als Freihäfen außerhalb des Deutschen Zollvereins, dem größten Einigungsprojekt vor der Reichsgründung 1871, eine Bedingung für die wirtschaftliche Blüte und den Anschluss Deutschlands an die Welt dar-stellte. Es sei ein „hoher Vorteil für Deutschland“, äußerte sich ein Ökonom 1863, „solche Weltmärkte [wie Bremen und Hamburg] an seiner Küste und in den günstigsten Verbindungen mit dem Inlande zu besitzen“.39 Ein Anschluss an den Zollverein würde den freien Städten nur „lästige Fesseln auferlegen, unter denen sie bald zu Märkten zweiten Ranges herabsinken müssten“.40

Ihre wirtschaftliche Sonderstellung gestand man Hamburgern und Bre-mern um 1860 bereitwillig zu: Hanseatische Kaufleute wurden von ihren bin-nenländischen Geschäftspartnern und vom liberalen Bürgertum als die legi-timen Stellvertreter deutscher (Handels-)Interessen in der Welt geschätzt. Sie waren, wenn man so will, die Speerspitze eines informellen Bedürfnisses nach imperialistischer Expansion.41 Auch in der Wahrnehmung vieler dieser

Kauf-33 Vgl. Ressel, Hamburg und die Niederelbe, 92 ff.

34 Vgl. Mustafa, Merchants and Migrations, 125, 258.

35 Anonym, Bremen, 87.

36 Vgl. Boehmert, Die Stellung der Hansestädte, 74; Engelsing, England und die USA, 38 ff. Zi-tat: Friedrich Engels zit. n. Engelsing, England und die USA, 50.

37 Haller, Transithandel, 18.

38 Boehmert, Die Stellung der Hansestädte, 91.

39 Ebd., 89–90.

40 Ebd., 90.

41 Vgl. Fitzpatrick, Liberal Imperialism, 83–89.

leute war der freie Handel mit der Welt wichtiger als die Eingliederung in einen nationalen Wirtschaftsraum wie den Zollverein. In der Realität aber „waren die Wirtschaftsvorstellungen der in den Hansestädten regierenden kaufmännisch-juristischen Elite weit entfernt von einer rigorosen Durchsetzung des Freihan-delsprinzips auf Kosten eines Rückschritts im nationalen Einigungsprozess.“42 Die Wirtschaftspolitik der Hansestädte war in der Praxis „wenig prinzipien-treu“.43 Diese Eigenschaft aber sicherte Bremen und Hamburg kaufmännische Flexibilität und sorgte für gute Verbindungen zu außereuropäischen Märkten.

Seit 1827 verband die USA und die Hansestädte ein Freundschafts-, Han-dels- und Schifffahrtsvertrag, der den Kaufleuten, Kapitänen und Bürgern bei-der Seiten freien Handel und Schutz an allen Orten auf dem Territorium des je anderen zusicherte.44 Neben Preußen (1785) waren die Hansestädte die ein-zigen deutschen Staaten, mit denen die Vereinigten Staaten einen solchen Ver-trag abgeschlossen hatten. Nahmen Baumwolle und andere Rohstoffe aus den USA für die deutschen Inlandsmärkte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr-hunderts noch den kostspieligen Umweg über England, sorgten hanseatische Handelshäuser ab den dreißiger Jahren mit Niederlassungen in Charleston, New York, New Orleans und Galveston dafür, dass möglichst viel Ware direkt an die deutsche Nordseeküste verschifft und von dort in die Textilhochburgen Sachsens, Schwabens, Oberfrankens und Böhmens transportiert wurde.45 Seit Ende der fünfziger Jahre importierten Bremens Kaufleute mehr amerikanische Baumwolle als ihre Konkurrenten in Hamburg, die den Rohstoff überwiegend über Liverpool und London bezogen und aufgrund eines Zolls höhere Preise verlangten als die Bremer.46 Auch für südstaatlichen Tabak war der Stadtstaat an der Weser seit vielen Jahren das wichtigste Einfallstor für das europäische Festland. „Für rohe Baumwolle und Taback“, verkündete ein zeitgenössischer Stadtführer, „ist Bremen Weltmarkt geworden.“47 Es gebe keine Stadt auf dem europäischen Kontinent, schrieb das Bremer Handelsblatt 1861, „welche im Ver-hältnis zu ihrem Gesamthandel sich so […] an dem Handel mit den Vereinig-ten StaaVereinig-ten“ beteilige wie Bremen. Handel und Auswanderung hätVereinig-ten der Stadt einen „nordamerikanischen Charakter“ verliehen.48 Mitte des Jahrhunderts ging knapp ein Viertel des US-amerikanischen Tabaks an die Weser, von wo

42 Schulz, Liberalismus in Hamburg, 145.

43 Ebd., 145.

44 Vgl. Bebans, Treaties. Vol. 8, 41 ff. und 78 ff.

45 Vgl. Pitsch, Die wirtschaftlichen Beziehungen Bremens, 157 ff. Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen, die Bremer Handelsleute im Zuge ihrer ökonomischen Etablierung in den USA aufbauten, vgl. Maischak, German Merchants, 50 ff.

46 Vgl. Schramm, Deutschland und die Welt, 379–380; Beutin, Von 3 Ballen zum Weltmarkt, 74–75.

47 Bremen. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen für Fremde und Einheimische, 95.

48Bremer Handelsblatt, 15. Juni 1861.

aus wiederum drei Viertel innerhalb des deutschen Zollvereins weiterverkauft wurden.49 1852 lebte jeder sechste Bremer mittel- oder unmittelbar von der Zi-garrenproduktion.50 Tausende der benachbarten Oldenburger und Hannove-raner waren ebenfalls auf den Kauf, die Verschiffung, die Spekulation und den Verkauf von Tabak angewiesen. 1861 existierten in der Region 119 Fabriken mit über 1.300 Arbeitern, die amerikanischen Tabak zu Zigarren verarbeiteten.51

Für das norddeutsche Umland ergaben sich durch die wirtschaftlichen Verwicklungen mit Nordamerika weitreichende Folgen: Da Europa immer mehr Baumwolle benötigte, hatten Pflanzer und Farmer in Louisiana und den Carolinas in den ersten Jahrzehnten nach 1800 begonnen, ihre Weizenfelder in Anbauflächen für die profitablere Baumwolle zu verwandeln. Um ihren Bedarf an dem nicht mehr vorhandenen Getreide zu stillen, importierten die Staa-ten vermehrt Weizen aus Norddeutschland, wo besitzlosen Kleinbauern und ihren Familien sprichwörtlich der Boden unter Füßen entrissen wurde, damit die lokalen Landbesitzer mehr Weizen für Amerika produzieren konnten.52 So kam es, dass seit den zwanziger Jahren zahlreiche Familien aus dem nord-westdeutschen Raum ihre Heimat Richtung Nordamerika verließen.53 Solche Kettenwanderungen schufen weitere Bindeglieder des sozioökonomischen Austauschs zwischen den Hansestädten, ihren deutschen Anrainerstaaten und dem amerikanischen Süden.

Im Jahrzehnt vor dem Bürgerkrieg wuchs der Anteil der deutschsprachi-gen Bevölkerung auf dem Gebiet der künftideutschsprachi-gen Konföderierten Staaten um achtzig Prozent.54 Zu den beliebtesten Auswanderungszielen zählten die Han-delszentren Galveston, New Orleans, Charleston, Savannah und Baltimore.

Die Mehrheit der dort lebenden deutschen Einwanderer stammte aus Hanno-ver, Oldenburg, Holstein und Bremen.55 Da sie in landwirtschaftlichen Berufen kaum gegen die Konkurrenz der Sklavenplantagen ankamen, arbeiteten die männlichen Einwanderer dort häufig als Kaufleute, die bevorzugt Import- und Exportgeschäfte mit dem Mutterland betrieben.56 In Wilmington, North Caro-lina, waren 1850 über achtzig Prozent der männlichen deutschstämmigen Ein-wohner als Kaufmann, Händler oder in maritimen Berufen tätig.57 Zahlreiche andere deutsche Südstaatler verdienten als Makler und Importeure an der

Spe-49 Vgl. Pitsch, Die wirtschaftlichen Beziehungen Bremens, 150–154.

50 Vgl. Schaeffer, Bremens Bevölkerung, 48.

51 Kappelhoff, Der Handel in den Küstenregionen, 191.

52 Vgl. ebd., 191 f.

53 Vgl. Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 12 f.

54 Mehrländer, The Germans, 295.

55 Vgl. ebd. Allein in Charleston stammten 73 Prozent der Deutschen aus Oldenburg, Hanno-ver und Holstein.

56 Vgl. Bodamer, Von Hannover in die Südstaaten, 334 f.; Mehrländer, „… überall hiest man Fahnen“, 134 ff.; Kappelhoff, Der Handel in den Küstneregionen, 191.

57 Vgl. Bodamer, Von Hannover in die Südstaaten, 134 ff.

kulation und dem Transport europäischer Waren.58 Rund 200 norddeutsche Firmenniederlassungen in den USA sorgten seit Mitte der vierziger Jahre für einen beständigen Verkehr zwischen Mitteleuropa und Nordamerika.59 Durch Heiratsnetzwerke wurde dieses transatlantische Beziehungsgeflecht weiter ver-dichtet.60

Nicht nur Menschen und Waren pendelten zwischen Amerika, Bremen und Hamburg in großer Zahl, sondern auch Informationen und Wissen. Seit

Nicht nur Menschen und Waren pendelten zwischen Amerika, Bremen und Hamburg in großer Zahl, sondern auch Informationen und Wissen. Seit

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