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Friederike Mayröckers ekstatische Trauergedichte

Im Dokument The Rhetoric of Topics and Forms (Seite 40-50)

Abstract: Friederike Mayröckers hochkomplexe Trauermetaphern sind der Aus-druck intensivster Emotionen. In ihnen gelingt die Übersetzung des Unaussprech-lichen ins Medium der Sprache. Den Grundtenor ihrer späten Lyrik bildet neben der Trauer um den verlorenen Geliebten auch die um das eigene, schwindende Leben und um den fliehenden Genius. ‚Ekstatische Metaphern‘ dienen hier dem verzweifelten Anschreiben gegen den Tod und das Verstummen. Mayröckers paradoxe Trauermetaphern integrieren zwei Gegenbewegungen: einerseits das Nahen des unendlichen Todes, andererseits die ihm entgegenwirkende Kraft des kreativen Geistes. Sie erfassen die zwischen Glück und Verzweiflung changie-rende Verstörung des lyrischen Ichs. Der Aufsatz analysiert die Metaphern − ihre Lexik, ihren Rhythmus und ihre Musikalität − im Lichte der kognitiven Literatur-wissenschaft.

Keywords: Metaphern der Trauer; konzeptuelle Metaphern; kognitive Literatur-wissenschaft; ‚ekstatische‘ Lyrik; lyrische Intensität; Friederike Mayröcker

Im Juni 2000 schrieb Friederike Mayröcker ein Gedicht von außerordentlicher emotioneller Intensität. In leuchtenden Metaphern und eindringlichen Rhythmen formuliert hier das lyrische Ich sein ekstatisches Bekenntnis zum Leben:

dies dies dies dieses Entzücken ich klebe an dieser Erde an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines Junihimmels dessen Bläue in Wellen gebauscht und mit tiefen Schwalben: ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven Holunderbäumen : wilden Monstranzen … die Luft ist wie damals, ja, die Luft

wie damals in D., die Zirren nein Zirben die Wolfsmilchstauden von Anbeginn : alle Schmerzen aller Wahn schon Ewigkeiten vorher seit Ewigkeiten erlitten, die lilies Magnolienfelder, von oben von irgendwoher ich glaube aus verhülltem Gezweig diese einzelne Stimme mich durchdringt : mein unsichtbarer Liebster in dieser Baumkrone ach jubiliert! diese Lust diese Süsze ich klebe an dieser Flammen Erpressung an diesem Licht an diesem Himmel, sage ich, etwas Hawaii oder möchte in Burgundischen Gärten über Maszliebchen Erde … was!

Flitzerei / plötzlicher Engel, habe diesmal versäumt

Open Access. © 2021 Eleonore De Felip, published by De Gruyter. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

https://doi.org/10.1515/9783110642032-003

die ersten Schwalben zu sichten in ihrer Inbrunst nicht wahr, diese Luftbeute, Wollust der Augen, ach ich klebe an diesem Leben an diesem Lebendgedicht.

4. 6. 00 (Mayröcker 2014, 692–693)

Das lyrische Ich befindet sich in einem Zustand tiefen Entzückens. Von der über-wältigenden Schönheit eines strahlenden Junitages umfangen, empfindet es intensives Glück, wobei seine Emotionen nicht beschrieben und kaum benannt werden, sondern durch die sprachliche Wiedergabe multipler Sinneseindrücke unmittelbar gezeigt werden. Optische und akustische Eindrücke stürmen gleich-zeitig auf die lyrische Person ein: Schwalben, die durch das tiefe Blau des Himmels flitzen, Malven, Holunderbäume, Zirben, Wolfsmilchstauden, Lilien, Magnolien-felder und das Jubilieren des ‚unsichtbaren Liebsten‘ in der Baumkrone. Die reale Kulisse verschmilzt mit einer ‚inneren‘, erinnerten Landschaft. „Wie damals in D.“

heißt es: das Jetzt und die fernen Tage der Kindheit fallen in eins. „D.“, das ist bei Mayröcker das niederösterreichische Deinzendorf, in dem die Autorin eine sehr glückliche Kindheit verbracht hat. Elliptische Satzkonstruktionen, Interjektionen wie „ach!“ und „was!“ oder ‚Korrekturen‘ wie „die Zirren nein Zirben“ suggerieren die Simultaneität von Sinneseindrücken und Gedanken, die sich überlagern. In die leuchtenden Bilder, die vor allem dem visuellen Bereich entnommen sind, scheint sich nur ein einziger dunkler Gedanke zu schieben, nämlich der an alle Schmerzen und allen Wahn „schon Ewigkeiten vorher seit Ewigkeiten erlitten“.

Das lyrische Ich tritt zum gegenwärtigen Augenblick in starke Resonanz, es umarmt die Gesamtheit des Moments, darin auch Schmerz und Wahn. Es ist ein Moment großer Achtsamkeit und existenziellen Berührt-Seins.

Doch vor dem biographischen Hintergrund der Niederschrift gelesen ‒ das Gedicht ist mit 4.6.2000 datiert ‒, bekommen die Metaphern eine neue Tiefen-dimension. Als Mayröcker das Gedicht schrieb, lag ihr Lebens- und Schreibge-fährte Ernst Jandl im Sterben. Fünf Tage später verlor sie mit ihm den ihr liebsten Menschen. Bedenkt man beim Lesen den akut drohenden Verlust, verändert sich der emotionelle ‚Effekt‘ der Metaphern; sie werden tiefgründig und ambivalent.

Die Metaphorik des Gedichts steht nicht mehr in krassem Kontrast zu jenen Emotionen, die angesichts des Sterbens des liebsten Menschen ‚üblich‘ sind;

das Glück erscheint nun in einem anderen Licht. Um es in der Terminologie der cognitive poetics zu sagen: die Bilder rücken nun in den Vordergrund. Sie werden zu ‚Gestalten‘ (vgl. Tsur 2008, 111–154) ‒ hinter denen sich eine ‚gestaltlose‘

Dimension auftut. Der Beginn des Gedichts „dies dies dies dieses Entzücken ich klebe an dieser Erde / an dieser hinschmelzenden Erde  …“, Verse wie

„mein unsichtbarer / Liebster in dieser Baumkrone ach jubiliert!“ und „etwas Hawaii oder möchte in Burgundischen Gärten über Maszliebchen …“ sind nur verständlich als ‚Dichtung eines veränderten Bewusstseinszustands‘ („poetry of

Metaphern gegen den Tod  31 altered state of consciousness“, Tsur 2008, 451–471), als ‚ekstatische Dichtung‘

(„ecstatic poetry“, Tsur 2008, 495–510), wie Reuven Tsur sagen würde. Sie sind der Ausdruck eines scheinbar paradoxen emotionellen Zustands, den man als

‚ekstatische Verzweiflung‘ umschreiben könnte. Im Zustand der extremen Angst scheint der Augenblick still zu stehen, das Bewusstsein öffnet sich für die Tota-lität der Existenz, für die Koexistenz von Leben und Tod. Das Gedicht wird ver-ständlich als ‚Dichtung eines Ausnahmezustands‘ im Sinne Reuven Tsurs1, worin sich der Mensch seiner Endlichkeit in höchstem Maße bewusst ist. ‚Ekstatische Metaphern‘ dienen einem verzweifelten Anschreiben gegen den Tod. Es ist, als stünde das lyrische Ich an der Schwelle zum absolut Unbekannten, zum Nichts.

Im Ausnahmezustand mystischer Verzückung (der Text trägt Züge mystischer Poesie) lockern sich die Schranken des Bewusstseins. Die Grenzen zwischen dem betrachtenden Subjekt und den betrachteten Objekten lösen sich auf. Außen und Innen, An- und Abwesendes, Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen. In den Erscheinungen der Welt offenbart sich das Göttliche. In seinem Buch On the shore of Nothingness sagt Reuven Tsur, mystischer bzw. religiöser Dichtung liege oft dieselbe konzeptuelle Metapher zugrunde, nämlich die Vorstellung, dass das in Anbetung versunkene lyrische Subjekt am Ufer einer unendlichen Dimension stehe. (Vgl. Tsur 2003, 231–261) Während es mit seinen Füßen fest in der konkre-ten, gestalteten Welt verwurzelt ist, blickt es gleichzeitig durch die Dinge hin-durch in eine Dimension jenseits von Gestalt und Konzept. Die Erscheinungen ringsum werden zu Narrativen einer gestaltfreien Vision.

Mit welchen poetischen Mitteln gelingt es Mayröcker, die Erfahrung einer mystischen Vereinigung mit dem Daseinsgrund sprachlich zu übertragen, sodass auch wir Lesende in den Metaphern eine ‚ekstatische Qualität‘ wahrnehmen? Wie gelingt es ihr, in sprachlichen Bildern das Unaussprechliche einzufangen? Wie kann im System der sprachlichen Zeichen eine Erfahrung wiedergegeben werden, die einem anderen System, dem der menschlichen Emotionen, zugehört? Tatsäch-lich verlangt die Übertragung einer unaussprechTatsäch-lichen, nicht-konzeptuellen Erfahrung ins Medium der Sprache bestimmte Konfigurationen im Zielbereich (der Sprache), die fein genug sind, um mit der Erfahrung des Quellbereichs (dem Unaussprechlichen) vergleichbar zu werden. Oder, um es mit einem Bild zu sagen: je feiner die sprachliche Bildauflösung, desto größer die Ähnlichkeit mit dem Original (vgl. Tsur 2003, 31).

1 Tsur spricht von einer „‚extreme situation‘, in which man’s sense of limitedness is ‚heightened, to any degree heightened‘. I propose to call this kind of literature ‚literature of extreme situati-ons‘.“ (Tsur 2008, 527)

In Anlehnung an Henri Bergsons Beschreibung der ‚metaphysischen Intui-tion‘ (vgl. Bergson 1964, 10) kann auch von den Mayröckerschen Metaphern gesagt werden, dass sie ihre Bedeutungen schrittweise entfalten, wenn man sie in einer Art Inwärts-Bewegung von der Peripherie hin zu ihrem Zentrum liest.

In der Meditation unterscheidet Bergson zwischen der Wahrnehmung der Ober-fläche und der Vision der Tiefe. Wenn er seine Aufmerksamkeit nach innen lenkt, um sein eigenes Selbst zu betrachten, so nehme er zuerst die Oberflächenkruste wahr, all die Sinneseindrücke, die von der materiellen Welt auf ihn eindringen.

Diese Eindrücke seien klar und deutlich. Sobald er jedoch die Aufmerksamkeit von der Peripherie zum Zentrum lenke, finde er unter der Kruste ein stetiges Fließen, das keinem anderen Fließen vergleichbar sei. Hier kündigt jeder Zustand den nächsten an, so wie er seinerseits alles Vorhergehende in sich enthält. Es gibt keinen Anfang und kein Ende; alles setzt sich ineinander fort. So gibt es auch in Metaphern wie „diese hinschmelzende Erde“ zunächst eine Oberflächenkruste, die konkrete Dimension der Jahreszeit: Die noch froststarre Erde schmilzt in der Wärme der Junisonne. Darunter gibt es zweitens die emotionelle Dimension, in der das lyrische Ich vor Entzücken über die Schönheit dieser Erde dahinschmilzt;

die diesem Bild zugrundeliegende konzeptuelle Metapher besagt: Entzücken ist ein inneres Feuer. Und dann gibt es schließlich, gewissermaßen im ‚Innersten‘

der Metapher, die spirituelle Dimension, wo das Leben selbst in einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen dahin-schmilzt, zer-fließt. Die konzeptuelle Metapher ‚dahinter‘ sagt: Das Leben ist ein unaufhaltsamer Fluss. Damit wird die Metapher auch ‚unheimlich‘ im Sinne von Sigmund Freud (vgl. Freud 1999, 227–278). Unheimlich ist für Freud das, was zugleich unvertraut und vertraut ist. In das vertraute Bild des Junihimmels, durch welchen die Schwalben flitzen, schiebt sich der Tod als der große Unvertraute.

Der „Baldachin eines Junihimmels“ evoziert zunächst ein konkretes Sonnen- oder Zierdach, doch die Tiefe des Himmels ist unendlich, seine „Bläue“ ist „in Wellen gebauscht“; er ist ein offenes Meer, das sich dem Ordnungsprinzip „oben – unten“ entzieht. Auf der rhythmischen Ebene suggerieren die ruhigen Daktylen das Rauschen eines friedlichen Meeres: „dessen Bläúe in Wéllen gebáuscht und mit tíefen Schwálben“.

Malven und Holunderbäume werden zu „wilden Monstranzen“, die dem intui-tiv erkennenden Auge das Allerheiligste zeigen. Eine Monstranz2 ist ein kostbar verziertes Behältnis, in dem in der katholischen Liturgie die Hostie zur Verehrung und Anbetung gezeigt wird, vor allem Ende Mai oder Juni beim Fronleichnams-fest. Das Allerheiligste, das sind bei Mayröcker die kleinen Schwalben, die von

2 Vom lat. „monstrare“ = zeigen.

Metaphern gegen den Tod  33 einer Hemisphäre zur anderen wechselnden Zugvögel, die Botschafter des Früh-lings, Inbegriff des vergehenden und wiederkehrenden Lebens. Mühelos wech-seln sie von der sichtbaren Dimension in die unsichtbare („ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen / sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven Holunderbäumen“). Sie spiegeln die Trunkenheit des betrachtenden Ichs, sind nun selbst „trunken“, wie in Ekstase. „Trunken“ kann sich gleichermaßen auf das lyrische Subjekt wie auf die Vögel beziehen. Es gibt keine klar definierten Sätze, sondern nur grammatisch und semantisch weit offene Satzfragmente. Die

‚fließende‘ Oberfläche des Gedichts spiegelt die ‚gestaltlose‘, ‚ozeanische‘ Tiefen-dimension wider. Das Allerheiligste (Gott, die Schwalben) erscheint nicht nur als unsichtbares Mysterium, sondern zugleich als sichtbare Präsenz. Es ist ein schüt-zender Baldachin. Tsur verwendet in seiner kognitiven Theorie der Metapher Jungs Terminus „Archetypus“, um die meist unbewussten emotionellen Muster zu beschreiben, die ‚gängigen‘ (d.  h. in verschiedenen Kulturen anzutreffenden) Bildern zugrunde liegen. So gesehen, drückt der Baldachin das archetypische Bedürfnis des Menschen nach Schutz und Zuflucht aus. Er soll die lyrische Person und ihren unsichtbaren Liebsten während ihrer Grenzerfahrung beschützen.

Die Begrenztheit der Sinne und des irdischen Lebens ‒ ein ‚gestaltloses‘

Konzept ‒ wird in konkrete, doch ambivalente ‚Gestalten‘ ‚übersetzt‘: Nicht nur die Schwalben sind sichtbar und unsichtbar zugleich, auch der in der Baumkrone jubilierende Liebste ist zwar deutlich vernehmbar, doch unsichtbar; ja selbst das Gezweig, aus dem die Stimme dringt, ist verhüllt („von oben / von irgendwoher ich glaube aus verhülltem Gezweig diese / einzelne Stimme mich durchdringt“).

Sie alle markieren den gleitenden Übergang von den konkreten Phänomenen des Diesseits ins abstrakte Jenseits.

Die Stimme des Liebsten wird so intensiv wahrgenommen, dass sie das lau-schende Subjekt wie etwas Physisches durchdringt. Die emotionelle Wirkung dieser ‚Berührung‘ ist überwältigend. Das lyrische Ich wird von Glücksgefühlen überflutet. Es empfindet tiefe Liebe für das ambivalente Wunder des Lebens.

Da ihm das Leben zum absoluten Wert wird, werden Schmerzen, Wahn und die Kürze des Daseins willig ertragen; das lyrische Ich wird erpressbar: „ich klebe an dieser Flammen Erpressung an diesem / Licht an diesem Himmel“. Es verspürt den Wunsch, die ihm gesetzten Grenzen zu überwinden, selbst wie Schwalben über wunderschöne Landschaften, über Blumen und die Erde zu fliegen, zu flitzen: „etwas Hawaii oder möchte / in Burgundischen Gärten über Maszlieb-chen Erde…“. Hier endet die Metapher abrupt, der Satz bleibt elliptisch, doch wie eine Wellenbewegung pflanzt sich das Bild fort: „was! / Flitzerei / plötzlicher Engel“. Der Wunsch des lyrischen Ichs wird nicht ausgesprochen, er gehört in den Bereich des Verborgenen, wird aber in der Auslassung als ‚Spur‘ ‚spürbar‘. Auch die Metapher „Flitzerei / plötzlicher Engel“ positioniert sich an einer ‚Grenze‘,

diese wird durch den Schrägstrich sogar ins Schriftbild geholt. ‚Diesseits‘ der Grenze erscheint noch ein sinnlich wahrgenommenes Flitzen (wobei auch

„Flitzerei“ schon ein Abstraktum ist, das sich in Richtung gestaltfreies Konzept zubewegt); ‚jenseits‘ der Grenze wird es zur plötzlichen Vision des Heiligen.3 Wir erleben hier eine poetische Pendelbewegung zwischen den Bereichen des Kon-kreten und des Abstrakten. Anton Ehrenzweig zufolge liegt dieser Pendelbewe-gung ein emotionelles Muster zugrunde. Er beschreibt es als inneren Rhythmus, mit dem das kreative Ich zwischen differenzierten ‚Gestalten‘ und ozeanischer Undifferenziertheit hin- und herschwingt (vgl. Ehrenzweig 1970, 135).4 Auch Freud und Jung maßen der Fähigkeit, zwischen fokussierten Vorstellungen und

‚ozeanischen Gefühlen‘ hin- und herzuwechseln, eine lebenswichtige Bedeutung für unsere seelische Gesundheit bei. Eine wichtige Funktion der Kunst und der Religion liege darin, diesen Rhythmus in Gang zu setzen. Die im Gedicht unmit-telbar ausgedrückte ekstatische Trauer erinnert an Bewusstseinszustände, wie sie aus der Meditation und der mystischen Ekstase bekannt sind. Allen diesen Erfahrungen gemeinsam ist die Erfahrung des Absoluten (Göttlichen) durch die Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt. Eine solche Erfahrung von

‚absoluter Größe‘ und Heiligkeit, die über das gewöhnlich Schöne hinausreicht, erfordert nach Kant eine „Erweiterung des Gemüts“ (Kant 2006, 120), die er die Erfahrung des ‚Erhabenen‘ nennt, es „zeigt ein Vermögen des Gemüts an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft.“ (Kant 2006, 119)5 Erhaben wirke die Natur in jenen Erscheinungen, deren Anschauung „die Idee der Unendlichkeit bei sich führt“. (Kant 2006, 120)6 Das Erhabene löse, so Kant, Erstaunen aus, das mit Ehr-furcht, sogar mit Schrecken verbunden ist. Auch bei Mayröcker wird das Wunder des Seins als mysterium tremendum und fascinans7 erlebt. Die verzückende Wahr-nehmung höchster Weite, nämlich der Anblick der Zirren, verschmilzt mit der erschütternden Erkenntnis von der Allgegenwart von Schmerzen und Wahn. Die Erfahrung des Erhabenen ereignet sich, strukturell gesehen, genau in der Mitte des Gedichts. ‚Umfangen‘ wird sie durch Bilder des blühenden Lebens. So münden

3 Die Metaphern sind offen und polyvalent, so wie auch die Wahrnehmung der Welt kontingent ist.

4 Anton Ehrenzweig spricht von einem „[…] creative ego rhythm that swings between focussed gestalt and an oceanic undifferentiation“. (Ehrenzweig 1969, 120)

5 Kant (in Die Kritik der Urteilskraft) definiert das Erhabene als „Erhebung“ über das Sinnliche.

(Vgl. Kant 2006, 119)

6 … wobei die geistige Verfassung des Betrachters die entscheidende Rolle spiele, denn die Natur alleine sei ohne die Vernunftideen des Subjekts nicht erhaben. (Vgl. Kant 2006, 120)

7 Den Begriff führt der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937) ein, der ihn aus dem Lateinischen entlehnte, um das Göttliche, das Wunder des Seins, zu beschreiben. (Vgl. Otto 2004, 13–37, 42–52)

Metaphern gegen den Tod  35 die Schmerzen und der Wahn in „diese Lust diese / Süsze ich klebe an dieser Flammen Erpressung an diesem / Licht an diesem Himmel“. Das Bekenntnis zum Leben ‚umarmt‘ den Schmerz. In der Ringkomposition des Gedichts wird diese Idee gespiegelt: die Wendung „ich klebe an dieser Erde“ im ersten Vers wird am Ende wieder aufgegriffen und variiert: „ach ich klebe an diesem / Leben diesem Lebendgedicht“. Und so wird das Bekenntnis zum Leben zum Lobgesang auf die lebenserhaltende Wirkung der Dichtung. So wie das Leben ein schriftloses Gedicht ist, so ist das Gedicht etwas Lebendiges, etwas Leben-Erhaltendes. Solange in der Schönheit dieser Erde das Unendliche wahrgenommen und besungen wird, ver-liert der Tod seinen Schrecken. Der poetische Blick vermag es, die Grenzen der physischen Welt nicht als Ende, sondern als Schwelle wahrzunehmen. Er befähigt das lyrische Ich, sich für die Erpressung des Lebens zu entscheiden. Daher hören wir es auch neun Jahre später in einem Gedicht sagen: „ich beisz die Tödin jag den Winter fort“ (Mayröcker 2009, 327).

In Mayröckers Texten ist die Melancholie von Anfang an da. Vielleicht hat sie biographische Gründe wie den endgültigen Verlust der glücklichen Kindheit, die unwiederbringlich verflossenen Sommer im Vierkanthof in „D.“ (Deinzendorf) oder den Tod der gütigen Großmutter. Klage über das Verlorene und Beschwörung der glücklichen Erinnerungen kennzeichnen Mayröckers poetische Rede. Mit Burkhard Liebsch könnte man sagen, in ihren Werken zeige sich die „geheim-nisvolle Gastlichkeit der Trauernden, die den Verlust vielfach in sich bewahren wie einen sorgsam gehüteten Schatz“ (Liebsch 2006, 32). Vermutlich beruht ihre Melancholie aber auch auf einer besonderen seelischen Empfänglichkeit, die sie befähigt, sich von den Phänomenen des Lebens im Innersten erfassen zu lassen.

Tränen der Ergriffenheit füllen die Augen des lyrischen Ichs und machen es

‚blind‘. In den Tränen erscheint die gleichermaßen glückliche wie verzweifelte Intensität der sprechenden Instanz. Jandls Tod (aber auch der anderer geliebter Menschen) hat Mayröckers Melancholie für immer besiegelt. Der Gedanke an den eigenen Tod lastet nun unendlich schwerer.

Den Grundtenor von Mayröckers später Lyrik bildet neben der Trauer um den verlorenen Geliebten auch die um das eigene, schwindende Leben und um den ‚fliehenden Genius‘ (den ‚hl. Geist‘, wie er von Mayröcker oft genannt wird), dessen Flüchtigkeit und quälendes Fernbleiben das lyrische Ich in Todesangst versetzt. Als Beispiel für diese Aspekte der Trauer seien hier noch zwei Gedichte aus dem bisher letzten Gedichtband Von den Umarmungen (2012) erwähnt.

Im Jänner 2010 lässt sich Mayröcker von Martin Schongauers berühmtem Altarbild „Madonna im Rosenhag“8 zum Gedicht Vom Küssen der Jungfrau im

8 Der Altar befindet sich in der Dominikanerkirche in Colmar (Elsass).

Schnee im Rosengebüsch, nach Martin Schongauers »La Vierge au buisson de roses« 1473 Detail (Mayröcker 2012, 21) inspirieren. Schongauers zartes Gemälde zeigt die Muttergottes Maria mit dem Jesuskind im Arm unter einer Rosenlaube auf einer Gartenbank sitzend. Nur Vögel bevölkern den himmlischen Garten. Die Schlange als Symbol der Erbsünde ist aus dem Paradies verbannt. Nicht aber bei Mayröcker, denn hier führt das lyrische Ich

… Gespräche mit meinen hl.Schlangen : jg.Ringelnattern und

Blindschleichen unter der Gieszkanne im Gras im Gehege im Hag sie blicken mich an ich streiche ihnen über die feuchte Haut ‒ allwohnend von Engeln. Du darfst sie nicht jagen nicht töten nicht schlagen erschla-gen mit deinem Stock oder Prügel …

Es folgt eine Klammerkonstruktion, in der im (durativ-ewigen) Präsens die Heilig-keit und die königliche Würde der Schlange genannt werden: „(sie ist sehr heilig heiliges Tier hast du ihre Krone gesehen ihr / Schlangenhaut Jäckchen […])“. Ihre Haut, die in Vers 5 als „allwohnend von Engeln“ bezeichnet wird, macht sie zu einem himmlischen, engelsgleichen Wesen. Wenn die Zeit reif dazu ist, streift die Schlange ihre alte Haut ab und lebt in einer neuen, feucht glänzenden weiter.

Die Krone auf ihrem Kopf zeichnet sie vollends vor allen anderen Kreaturen aus.

Die Krone auf ihrem Kopf zeichnet sie vollends vor allen anderen Kreaturen aus.

Im Dokument The Rhetoric of Topics and Forms (Seite 40-50)