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Nach absolviertem Streifzug durch die Gefilde moderner Rechtstheorie soll nun zum Ausgangspunkt, der Suche nach einem passenden Rechtsbegriff für frühmittelal-terliche Verhältnisse, zurückgekehrt werden und in gleichsam naiver Weise – ohne Beachtung all der Unstimmigkeiten in sich, auf die zu stoßen war – pars pro toto einer dieser konkurrierenden modernen Aspiranten für einen Rechtsbegriff mit dem rechtsgeschichtlichen Befund konfrontiert werden –, um zu sehen, was passiert1.

Der in rechtspositivistischer Tradition stehende Rechtsbegriff oder, wie der Autor es bescheidener formuliert, der »Versuch einer Definition des Rechts«2, der für den Zweck dieser Konfrontation herangezogen werden soll, ist der von Peter Koller in seiner Theorie des Rechts folgendermaßen formulierte : »Recht ist in seinem we-sentlichen Kern eine Menge von sozialen Normen, (1) deren Wirksamkeit zumin-dest im Großen und Ganzen durch organisierten Zwang garantiert wird, (2) deren Anwendung und Erzeugung auf Ermächtigung beruht und (3) deren Anspruch auf Verbindlichkeit die Überzeugung ihrer Legitimität voraussetzt«3. Genügen soll dieser

1 Es sei damit einer Aufforderung Gerhard Köblers Genüge getan : »Der natürliche Ausgangspunkt der Untersuchung des Rechts im frühen Mittelalter ist die Betrachtung des modernen Begriffes Recht. Wer immer nämlich ein Vorstellungssystem erkennen will, welches möglicherweise von dem mit Recht, Gesetz, Sitte und Gewohnheit gebildeten gegenwärtigen verschieden ist, tut gut daran, sich über den Sachinhalt der eigenen Kernbegriffe Klarheit zu verschaffen.« G. Köbler – Das Recht im frühen Mittelal-ter, S. 5. Vgl. auch K. Kroeschell – Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte, S. 310 : »Als Juristen, die wir sind, gehen wir auch an rechtshistorische Probleme zunächst ganz unreflektiert mit dem Rechtsbegriff heran, den wir im geltenden Recht verwenden.«

2 P. Koller – Theorie des Rechts, S. 41 ff.

3 P. Koller, a.a.O. S. 44. Die Wahl einer rechtspositivistisch orientierten Rechtsdefinition müßte den Vorzug genießen, Recht einer Gesellschaft als Phänomen unabhängig von jeglichem metaphysi-schen, religiösem Hintergrund beschreiben zu können, also gleichermaßen tauglich sein für moderne prononciert säkulare Rechtssysteme wie für solche traditionaler oder archaisch strukturierter Gesell-schaften.

Positivistische Rechtsdefinitionen existieren in verschiedenen mehr oder minder verwandten Varian-ten, die für eine Konfrontation mit der mittelalterlichen Welt herangezogen werden könnten ; es wird dabei überwiegend davon ausgegangen, es ließe sich »so etwas wie ein gemeinsamer Kern einer rechts-positivistischen Rechtsposition herauspräparieren. Dieser Kern lautet etwa so : Eine Rechtsordnung ist (1) eine hierarchisch strukturierte Normenordnung, die (2) unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendung von physischem Zwang vorsieht und die (3) sich in einer bestimmten Gesellschaft in dem Sinne als wirksam erweist, daß sie sich gegebenenfalls gegenüber anderen Normenordnungen im

Rechtsbegriff drei von Koller zuvor aufgestellten Bedingungen der Angemessen-heit, die an jeden Rechtsbegriff zu stellen seien : »(1) Die zum Recht gehörenden Normen müssen sich im Allgemeinen in irgend einer Weise anhand bestimmter em-pirischer Tatsachen feststellen lassen. (2) Die Normen des Rechts müssen von ande-ren geltenden sozialen Normen abgegande-renzt werden. (3) Die Ausübung rechtlichen Zwanges muss von blanker Gewalt unterschieden werden«4.

Kollers Rechtsbegriff präsentiert sich als konsequente Ausformung rechtspositi-vistischer Ideen, knüpft insbesondere an Hans Kelsen und H.L.A. Hart an, aber auch an die Lehren Ota Weinbergers. Im Zentrum seiner Rechtstheorie steht die bedingte Rechtsnorm, die ›Rechtsregel‹5, als rechtslogischer Operator in der Basisoperation ›Subsumtion‹ und zugleich wesentliches Element in einem norma-tiven Stufenbau, der auch die Integration von Rechtsprinzipien nicht ausschließt.

Der Begriff vermeidet aber einseitige Formalisierungen und hält sich offen gegen-über rechtstheoretischen wie philosophischen Überlegungen, etwa zu immanenten Gerechtigkeitsanforderungen, darin nicht unähnlich dem Rechtsbegriff Otfried Höffes6, allerdings ohne dessen philosophische Hintergrundtheorie von der »Ge-rechtigkeit als Tausch« zu teilen. Im vorliegenden Zusammenhang erfährt Kollers Rechtsbegriff eine abstrakt-methodische Anwendung, er soll – wohl nicht ganz in der Intention des Erfinders – als ›Strukturaufklärungsoperator‹ fungieren. Damit soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit mit einem Rechtsbegriff positivi-stischen Zuschnitts mittelalterliche Verhältnisse beschrieben werden können, ohne dabei Eigenart und Fremdartigkeit dieses Rechts zu verfehlen.

Ob Recht im Mittelalter sinnvoll als Untermenge sozialer Normen beschrieben werden kann, wird noch Gegenstand ausführlicher Erörterungen sein. An dieser Stelle erinnert sei an das breite Spektrum möglicher Bedeutungen der nach den Ergebnissen des ersten Abschnitts nicht mehr so harmlos anmutenden Wendung

›Menge von Normen‹, je nachdem, ob darunter bloß das Vorhandensein eines prä-skriptiven Komplexes zur Verhaltensanleitung im weitesten Sinn, ob artikuliert oder nicht, ob schriftlich fixiert, oder in Gebrauchstraditionen unscharf faßbar,

verstan-großen und ganzen durchsetzt.« N. Hoerster – Zur Verteidigung der rechtspositivistischen Trennungs-these, S. 28.

4 P. Koller, a.a.O. S. 40 f.

5 »Im allgemeinen kann man sagen, dass generelle Rechtsvorschriften bedingten Charakter haben, also generelle und bedingte Normen sind. Solche Rechtsnormen werden – im Unterschied zu Prinzipien – ge-wöhnlich als Rechtsregeln bezeichnet.« Koller, a.a.O. S. 78.

6 Dieser wird von Koller allerdings wegen seines unmittelbaren Anknüpfens an moralische Kriterien, die als objektiv gültig angenommen werden, den Vertretern einer Naturrechtslehre zugeordnet ; a.a.O. S. 33 f.

Zu Höffes Rechtsbegriff siehe O. Höffe – Politische Gerechtigkeit ; ders. – Vernunft und Recht.

den wird, oder ob aber das strenge Regime einer Systematik einschließlich rechtslogi-scher Operationen gemeint ist, das auf Literalität angewiesen ist, und dessen Projek-tion auf oral oder semioral organisierte Gesellschaften daselbst zu mehr Verfremdung als Aufklärung führt, indem es ›zu moderne‹ Verhältnisse unterstellt.

In weiterer Folge sei auf die einzelnen Elemente der Definition Kollers vor dem Befund, den die rechtsgeschichtliche Forschung für das Frühmittelalter herausgear-beitet hat, näher eingegangen.

(4) Wirksamkeit des Rechts durch organisierten Zwang

Ein Eckpfeiler im positivistischen Rechtsbegriff ist die Verschränkung von Recht und organisiertem Zwang : »Die Ausübung organisierten Zwangs hat den Zweck, die Wirksamkeit der für den Bestand der sozialen Ordnung bedeutsamen sozialen Nor-men unter den Bedingungen des ZusamNor-menlebens großer Menschenzahlen sicherzu-stellen, da unter diesen Bedingungen sozialer Druck allein die Wirksamkeit sozialer Normen nicht mehr zu sichern vermag. Um in großen und differenzierten Gesell-schaften ein friedliches soziales Zusammenleben zu ermöglichen, ist organisierter Zwang erforderlich«7. Zu betonen ist, daß es gerade die Kombination von Zwang und Organisation ist, durch die rechtliche Verhältnisse gekennzeichnet sind, was aber weder bedeutet, daß jede Norm Zwangsnorm sein muß, noch, daß nicht andere sozi-ale Normensysteme ebenfalls Zwangsmittel statuieren8. Wir wollen annehmen, daß der mittelalterlichen Gesellschaft, trotz im Vergleich zu heute deutlich geringerer Be-völkerungsdichte, das Attribut ›groß und differenziert‹ zugeschrieben werden kann.

Unter sozialen Normen wird gemeinhin der Oberbegriff zu verschiedenen Typen von Normen mit eigenen Systemen verstanden, Rechtsnormen, Moralnormen, sittliche Normen, Höflichkeitsnormen etc. Zur Stabilisierung all dieser Normen bedarf es also – so die Theorie – bei entsprechender Größe und Differenziertheit, des Zwan-ges, nicht irgendeines ZwanZwan-ges, sondern eines, der organisiert ist, das meint wohl

›rechtlich geregelt‹. In Frage steht nun, gerade auch im Hinblick auf ›vorstaatliche‹

Verhältnisse, die Reichweite dieses Begriffs, der Umfang an Rechtsdurchsetzungsfor-men herrschaftlicher und genossenschaftlicher Provenienz, die im weitesten Sinn als

7 P. Koller, a.a.O. S. 58. Vgl. H. Kelsen – Reine Rechtslehre, S. 34 ff.

8 »It is not true that only the law stipulates coercive sanctions, nor is there any reason for saying that every law stipulates a coercive sanction […]. But it is true that one of the characteristics of the law is that it makes a systematic use of coercive sanctions […]« J. Raz – The Concept of a Legal System, S. 89.

organisierter Zwang gelten können. Dieser Typus zeichnet sich nach Ota Weinber-ger durch folgende Eigenschaften aus : (i) es ist normativ vorherbestimmt, welche Zwangsmaßnahmen als Unrechtsfolge gesetzt werden […] ; (ii) Zwangsmaßnahmen werden aufgrund eines geregelten Verfahrens verhängt ; (iii) es existieren spezialisierte Staatsorgane, die die Zwangsmaßnahmen bestimmen und durchführen«9. Wie schon bei Hans Kelsen, der Recht wesentlich als Zwangsordnung versteht, darauf Wert gelegt wird – übrigens in Berufung auf und gleichzeitiger Verkennung von Augu-stinus –, Staat und Räuberbande auseinanderzuhalten10, steht hinter dem Zwang staatliche Legitimität und mit ihr auch beanspruchtes Monopol der Gewalt, die dem Zwang rechtsförmlichen Charakter verleiht mit der eigentümlichen Rückkopplung, daß Recht Zwang generiert, der wiederum Recht (und andere Sozialnormen) sichert.

Wie steht es damit im frühen Mittelalter ?

Das frühmittelalterliche Recht kennt organisierten Zwang in der Form eines das Monopol legitimer Gewaltanwendung behauptenden Staates moderner Prägung mit einer eigens ausdifferenzierten Exekutivgewalt nicht. Als kennzeichnend für die Ver-hältnisse wurde vielmehr gerade die »Schwäche eines obrigkeitlichen Rechtsdurch-setzungs- und Repressionsapparates« angesehen11. Es fehlt dieser Welt darum nicht an Gewalt, nicht an durchaus als rechtlich qualifizierbarem Zwang, auch nicht an Organisation z.B. des ›Gerichts‹ als regelmäßiger Streiterledigungsinstitution ; was fehlt, ist jedoch Vorstellung und Existenz eines einheitlichen – sich sehr viel später

9 O. Weinberger – Norm und Institution, S. 36.

10 H. Kelsen – Reine Rechtslehre, S. 45 ff. Kelsens Unterscheidung zwischen dem bloß subjektiven Sinn des Räuberbefehls und dem, weil im Wege autorisierter Gesetzgebung und Verfassung auf die Grund-norm verwiesen, nicht anders denn als objektives Sollen deutbaren Rechtsbefehl trifft nun ganz und gar nicht die Pointe des augustinischen Vergleichs. Im Kapitel IV, 4 von De civitate Dei (»Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia ?« – »Was anders also sind Reiche, wenn ihnen die Gerech-tigkeit fehlt, als große Räuberbanden ?« Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, Buch 1 bis 10, S. 173.) kommt deutlich zum Ausdruck, daß jedes irdische Reich (mit Ausnahme der mystischen Gemeinschaft der civitas Dei) dem Verdikt verfällt, keine (wahre) Gerechtigkeit zu haben, besteht diese doch in der Urheberschaft und Regierung durch Christus selbst (»Vera autem iustitia non est nisi in ea re publica, cuius conditor rectorque Christus est.« De. civ. Dei II, 21 »Jedoch wahre Gerechtigkeit gibt es nur in dem Gemeinwesen, dessen Gründer und Herrscher Christus ist.« Aurelius Augustinus, Vom Gottes-staat, Buch 1 bis 10, S. 95). Für Augustinus wäre auch der grundnormbasierte und mit der positiven Rechtsordnung identische Staat Kelsens ein magnum latrocinium. Zu den Begriffen Ausgustins siehe E.

Bernheim – Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung, S. 10 ff., insbes. S. 36 FN 3 u. 4 ; P. Landau – Der biblische Sündenfall und die Legitimität des Rechts, S. 205 ff.

11 G. Dilcher – Bildung, Konstanz und Wandel von Normen und Verfahren im Bereich mittelal-terlicher Rechtsgewohnheit, S. 190.

im Begriff ›Souveränität‹ manifestierenden – Zentrums dieser Organisation recht-licher Gewalt, gleichsam den Angelpunkt, von dem aus alle die Wirksamkeit des Rechts »im Großen und Ganzen garantierenden Kräfte«, von denen Kollers Defi-nition spricht, ausgehen könnten. Es ist nun konkret der Frage nachzugehen, ob und in welcher Form organisierter Zwang als Wirksamkeitsbedingung für Rechtsnormen im Frühmittelalter dennoch greifbar ist. Der Rechtszwang wird zunächst im Umfeld des ›Gerichts‹ zu suchen sein und in der hinter diesem stehenden öffentlichen Orga-nisationsgewalt.

Der Bußprozeß im Frühmittelalter

Der fränkisch-deutsche Raum kannte das ganze Mittelalter hindurch zweifelsohne organisierte Formen von Gerichtsbarkeit12. In concreto früh faßbar ist das Bußver-fahren (»das, was man herkömmlicherweise den fränkischen Prozeß nennt«13) mit seinem Bestreben, »das sich wie ein roter Faden durch die meisten germanischen Stammesrechte hindurchzieht : das Bestreben, an die Stelle der Selbsthilfe in langen blutigen Fehden den friedlichen Ausgleich durch Zahlung einer Buße zu setzen«14.

Die ›Buße‹, bei der es in diesem Verfahren geht, das »noch in unmittelbarar Nähe des Rache- und Fehdeverhaltens liegt«15, ist im Gegensatz zur ›Strafe‹ »eine vom Tä-ter dem Opfer beziehungsweise der geschädigten Sippe zu erbringende Ausgleichs-leistung, die neben der emotionellen Vergeltung/Genugtuung ›zugleich oder aus-chließlich einen wirtschaftlichen Zweck verfolgt‹«16. Die Rollenverteilung zwischen Richter, Parteien und sonstigen beteiligten Personen (insbesondere der Urteilsfinder) war jedoch in diesem Verfahren von grundlegend anderer Art als die in heutigen Pro-zessen, bei denen der urteilende ans Gesetz gebundene Einzelrichter im Vordergrund

12 Selbstverständlich gilt das auch für die Nachfolgereiche auf ehemals römischem Boden, hier so-gar mit einer mehr oder minder intensiven Heranziehung von Schriftrecht. Wann exakt der Beginn für organisierte Gerichtsbarkeit anzusetzen ist, darüber besteht in der Literatur keine Einigkeit. Vgl. u. a. die kontroversiellen Ansätze in J. Weitzel – Dinggenossenschaft und Recht, S. 41 f. und 113 ff.; G. Köbler – Richter, richten, Gericht, S. 68 und 113 ; ders. – Klage, klagen, Kläger, S. 19 f.; K. Kroeschell – Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, S. 41 ff.

13 J. Weitzel – Vorverständnisse und Eckpunkte in der Diskussion um ein frühmittelalterlich-frän-kisches Strafrecht, S. 542.

14 K. Kroeschell – Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 43. Zur Kritik, Fehdeführung als eine Art

›Selbsthilfe‹ zu interpretieren, A. Buschmann – Gewalt und Frieden, S. 12.

15 C. Schott – Zur Geltung der Lex Alamannorum, S. 91.

16 J. Weitzel, a.a.O. S. 541 ; zum Verhältnis Buße/Strafe siehe ders. – Begriff und Gegenstand des frühmittelalterlichen Sanktionenrechts.

steht. Dieser Typus findet sich zwar auch schon in der Antike und lebt im Frühmit-telalter in den stärker romanisierten Gebieten weiter, in den germanisch dominier-ten jedoch herrscht mit der ›dinggenossenschaftlichen‹ Urteilsfindung ein anderes Prinzip vor. Im Zusammenstoß zwischen der hochentwickelten schriftlichen Rechts-kultur des späten Rom mit den archaischen Gebräuchen einer frühen Gesellschaft, gelang es letzterer, wie Jürgen Weitzel es ausdrückt, »ihre von staatlich-obrigkeit-lichen Zwangselementen freie ›primitive‹ Rechtsvorstellung selbst gegenüber dem absolutistisch-bürokratischen Vorbild der Spätantike zu behaupten«17. Das Fehlen eben dieser Monopolisierung obrigkeitlichen Zwangs – nicht jeglichen gerichtlichen Zwangs schlechthin – läßt die Vorstellung, an einen ›zu Recht erkennenden‹ Richter-spruch, der zugleich Subsumtion unters allgemeine Gesetz und individuelle Norm wäre, habe sich in irgendeiner Form ein Exekutionsverfahren zur Durchsetzung des Urteils durch eine von den Parteien unabhängige neutrale ›staatliche‹ Instanz

an-17 J. Weitzel – Dinggenossenschaft und Recht, S. 12. »In der Welt der barbarisch-germanischen gentes, die erst in und nach der Völkerwanderung historisch greifbar wird, treffen wir auf eine Gemengelage von hergebrachten ›germanischen‹ Rechtsgewohnheiten und römischen, in die spätantik-lateinische Schrift-kultur eingebetteten Rechtsvorstellungen. Alle wesentlichen Elemente der politisch-sozialen Existenz sind durch beide Komponenten bestimmt.« E. Wadle – Frieden, Zwang, Recht, S. 550. Kritik an dieser Auf-fassung des Übergangs von der Antike zum Mittelalter bei W.E. Voß – Vom römischen Provinzialprozeß der Spätantike zum Rechtsgang des frühen Mittelalters, S. 76 f. (mit Gegenkritik wiederum von J. Weit-zel – Die Bedeutung der Dinggenossenschaft für die Herrschaftsordnung, S. 356), oder auch C. Schott – Zur Geltung der Lex Alamannorum, S. 97 : »Recht und Gesetz gehören zu den kultiviertesten Schöp-fungen des Römischen Reiches. Dies ist folgenschwer für die Begegnung der germanischen Völker mit Rom insofern, als hier weniger zwei verschiedene Rechtskonzeptionen miteinander konfrontiert werden, sondern vielmehr die römische Rechtsidee eine germanische überhaupt erst begründet hat.« ; bzw. daß die barbarischen Völker (wie von Schott am Beispiel der Burgunder erläutert wird) »an der Massstäblichkeit des römischen Rechts, das gleichsam als Katalysator wirkte, entsprechende Teile ihres eigenen sozialen Systems als ›Recht‹ verstehen und definieren lernten.« (ders. – Traditionelle Formen der Konfliktlösung in der Lex Burgundionum, S. 939) ; vgl. zu letzterem die Replik von Gerhard Dilcher : »Dieses ›Recht‹ stellt aber, als teilweise in mores und consuetudines bestehend, etwas anderes dar als das Recht des römischen Reiches […] Auch vom sog. Vulgarrecht unterschied es sich – zumindest zunächst – in Struktur und Inhalt. Wir müssen also hier mit dem Eintritt einer normativen Vorstellungswelt anderer Qualität rech-nen.« (G. Dilcher – Leges, Gentes, Regna : Fragen und Probleme, S. 37.) Dilcher unterstreicht, daß »die

›neuen Völker‹ offenbar normative Ordnungsvorstellungen von Verwandtschaft, Ehe, Familie, Erbgang, Boden- und Sachbesitz, wie auch von Konfliktaustragung und Konfliktschlichtung mit sich [brachten]«

(a.a.O. S. 36), die als »Lebenswirklichkeit«, wenn auch nicht als »ausdifferenziertes Recht« (a.a.O. S. 37) existierten. Im übrigen spricht er sich für eine Synthese römischer und germanischer Elemente schon in der Wanderphase aus : »Das germanische Verständnis des Verhältnisses von Person und Familienverband und Erbgang zum Bodenbesitz konnte ja durchaus in ein von den Römern übernommenes System [der Militärorganisation und militärischen Landzuteilung] implantiert werden.« G. Dilcher – Zur Entste-hungs- und Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen Rechtskultur, S. 617.

geschlossen, leicht zum Anachronismus geraten. Hanna Vollrath zeichnet von dieser frühen Gerichtsbarkeit folgendes Bild :

»In der Karolingerzeit führten der Graf und seine Unterbeamten als Vertreter des Königs den Vorsitz im öffentlichen Gericht, aber sie waren nicht die Richter, denn das karolin-gische Rechtswesen stand noch ganz im Zeichen der Selbsthilfe. Es gab keinen allgemei-nen Rechtsschutz des Staates, ein Rechtsbruch war Angelegenheit der schädigenden und der geschädigten Partei […] Die geschädigte Partei konnte für den Rechtsbruch Rache üben – also eine Fehde führen – oder aber vom Schädiger eine Bußsumme annehmen und damit auf die Fehde verzichten. Der König als die öffentliche Gewalt beschränkte sich darauf, die Fehden durch Kontrolle, Ausdehnung und Regelung der Bußverfahren zurückzudrängen.«18

Gleichwohl läßt sich ein Gericht ganz ohne eigene Zwangsbefugnis nicht vorstellen, und es stellt sich daher die Frage : Was bedeutet im Umkreis frühmittelalterlicher Verhältnisse ›Urteil‹ und was meint ›Rechtszwang‹ ?

Die Antwort auf diese Frage muß von einer wesentlichen Einsicht der Rechtsge-schichte ausgehen : Die »Trennung von Urteil (Recht, Rechtsfindung) und Gebot (Rechtszwang) ist die für das fränkisch-deutsche Recht kennzeichnende Struktur«19, heißt es bei Weitzel, der damit die wohl herrschende Ansicht ausspricht. Zunächst klingt das nicht befremdlich, ist doch auch heute im Zivilprozeß das materielle Ur-teil des Richters prozessual vom Exekutionsverfahren getrennt. Die in Rede stehende Trennung meint aber anderes, nämlich daß die Abgabe des Urteils, d.h. die in der Zuweisung der Beweiserfordernisse verborgene mittelbare Feststellung der materiel-len Rechts- und auch Sachlage20, nicht Aufgabe des Richters ist, sondern eines eige-nen Kreises von Urteilern, unter deeige-nen bis ins 8. Jahrhundert zwar auch der Richter

18 H. Vollrath – Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehun-gen, S. 61.

19 J. Weitzel, a.a.O. S. 88.

20 Formalistischer akzentuierte Auffassungen des Bußprozesses (z.B. bei Karl Kroeschell) stellen in Abrede, daß es überhaupt so etwas wie einen materiellrechtlichen Gehalt in diesem Verfahren ge-geben habe, der zu thematisieren gewesen wäre. Der Prozeß sei »mitnichten darauf gerichtet, ein vom modernen Standpunkt aus erwartetes Ergebnis zu erbringen. Man muß sich zunächst einmal von dem Gedanken freimachen, daß der Prozeß nur ein Hilfsmittel für die Durchsetzung materieller Ansprüche darstellt, und man hat sich vertraut damit zu machen, daß die historische Entwicklung umgekehrt, nämlich vom Verfahren zum materiellen Recht verläuft. […] Entsprechend besteht dieser Prozeß aus formalen Stationen, die letztlich zu einem Resultat führen, das sich mit der materiellen Berechtigung der Klage gar nicht befaßt.« C. Schott – Zur Geltung der Lex Alamannorum, S. 89.

bzw. der König zu finden sind21, aber nicht in ihrer Eigenschaft als Gerichtsvorsit-zende, sondern in ihrer Position als Rechtsgenossen : »Die ungelehrten Urteiler sind Genossen der Parteien. Der Richter ist im Prinzip auf Vorsitz, Verhandlungsführung und Vollstreckung des Urteils beschränkt. Für diese Entscheidungsstruktur setzt sich zunehmend der Begriff ›Dinggenossenschaft‹ durch«22.

Mit Zwangsbefugnis verbundener Gerichtsvorsitz und Urteilsfindung sind insti-tutionell getrennt23. Damit wird zugleich deutlich, daß der Rechtszwang und der im Urteil fixierte normative Gehalt verschiedene Wurzeln haben. Zielt ersterer ab auf so etwas wie eine Einigung überhaupt, einen Ausgleich, der Frieden schafft, verweist letzterer auf ein weites Feld unvordenklicher nur anlaßbezogen im gerichtlichen Fo-rum artikulierter Gewohnheiten, die als Recht zu qualifizieren die gerichtsförmige Erörterung nahelegt24. Jedenfalls kann die Trennung von Urteil und Gebot »als Aus-druck eines qualitativen Unterschiedes zwischen mittelalterlichem Recht und neu-zeitlich-staatlichem Gesetzesrecht verstanden [werden]«25. Diese Differenz hat gra-vierende Auswirkungen auf die rechtliche Qualität des Urteils und vermittelt durch

21 Zur Funktion der Urteiler J. Weitzel – Die Formel consilio et iudicio im Lichte des fränkisch-deutschen Urteilsverständnisses, S. 580. Weitzel nimmt weiters die Mitwirkung des Richters am Urteil bis ins 8. Jahrhundert als wesentliches Ergebnis seiner Forschungen über die dinggenossenschaftliche Rechtsfindung nördlich der Alpen an ; ders. – Dinggenossenschaft und Recht, S. 218. Zu bedauern ist, daß eine wirklich ausführliche, den Umfang seiner Arbeit würdigende Auseinandersetzung mit den Thesen Weitzels in der Forschung bisher unterblieben ist ; vgl. G. Dilcher – Zur Entstehungs- und Wir-kungsgeschichte der mittelalterlichen Rechtskultur, S. 619.

22 J. Weitzel – Versuch über Normstrukturen und Rechtsbewußtsein im mittelalterlichen Okzident

22 J. Weitzel – Versuch über Normstrukturen und Rechtsbewußtsein im mittelalterlichen Okzident