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4.2 D ISKURSLINGUISTIK NACH F OUCAULT

4.2.1 Foucaults Diskursbegriff

86 Zum Foucault’schen Diskursbegriff vgl. Auer (1999: 232-239), Busch (2004: 49-51) und Warnke (2007b: 10-15)

87 Das Thema – so Busse (1997: 18) – darf jedoch „nicht zu sehr in jenem oberflächensemantischen Sinne verstanden werden, in dem er etwa in der Textlinguistik verwendet wird. Gemeint sein können damit eben auch bestimmte Teilbedeutungen, Konnotationslinien, analytisch-tiefensemantisch bestimmbare Bedeutungsmerkmale oder epistemische Möglichkeitsbedingungen für solche Teilbedeutungen, Konnotationen oder Bedeutungsmerkmale […].“ Zum Begriff Thema vgl. noch Konerding (2007)

88 Siehe Kap. 4.2.1 Foucaults Diskursbegriff

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sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen […]

und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden. (Busse/Teubert 1994:

14)

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Zugehörigkeitskriterien von Busse und Teubert, wie semantische Beziehungen, Aussagenzusammenhänge bzw. Intertextualität in dem Kriterium gemeinsames Thema nicht gleich mit eingeschlossen wären. JUNG (1996a) wirft BUSSE und TEUBERTS (1994) Definition starke Überlappungen vor und stellt fest, dass ein gemeinsames Thema zugleich auch schon die weiteren Kriterien voraussetzt. Sie seien schlechthin überflüssig:

De facto ist das Verweiskriterium für die Zugehörigkeit von Texten zu einem Diskurs äquivalent mit dem Kriterium „gemeinsames Thema“. Das gilt insbesondere im Sprachgebrauch der Print-Medien, in denen Texte in einem weitgehend identischen „Funktions- und Zweckzusammenhang“ stehen und durch deren öffentlicher Charakter die Vernetzung mit anderen Texten auch unausgesprochen garantiert ist. (Jung 1996a: 456)

HERMANNS (1995: 88) versteht den Diskurs als „Dialog zu einem Thema“ und schreibt den zu dem Diskurs zugehörigen Texten ebenfalls thematische bzw. intertextuelle Zusammenhänge zu. Die späteren Diskursdefinitionen mögen in vielen Aspekten unterschiedlich sein, die geteilte Thematik blieb jedoch ein konstitutives Merkmal für die linguistische Diskursdefinition. Ein Diskurs besteht also – so BÖKE/JUNG/NIEHR/WENGELER (2000: 248) – aus „thematisch zusammengehörigen Aussagen“, er ist bei BUSCH (2004: 12) „thematisch definiert“, bei WICHTER (2005: 308) „thematisch bestimmt“ und auch bei GARDT (2007: 30) sei der Diskurs „die Auseinandersetzung mit einem Thema“.

Die thematische Bestimmtheit ist dementsprechend auch ein grundsätzliches Merkmal des Diskursbegriffs der vorliegenden Arbeit. Die Diskurse, die anschließend analysiert werden, stellen eine Menge von Aussagen dar, die sich auf das Thema bzw. Wissenskomplex „Integration“ oder allgemeiner „das Zusammenleben von Mehrheit und Minderheit“ beziehen.

39 4.2.2.2 Aussage

Ein weiterer fundamentaler Aspekt des sprachwissenschaftlichen Diskursbegriffes ist der sogenannte kommunikative Charakter. Der Diskurs wird als ein „kommunikatives Phänomen“89, als

„Gesellschaftsgespräch“90, bzw. als „Zeitgespräch“91 aufgefasst. Er stellt sowohl die Form von als auch den Raum für die „öffentliche[n] Kommunikation“ dar92. HERMANNS (1995: 88) schreibt dem Diskurs als „eine[…] Art Gespräch“ das Merkmal der Quasi-Dialogizität zu, die durch die thematische bzw.

intertextuelle Bezugnahme gewährleistet wird. WICHTER (1999) stellt Analogien zwischen den Kommunikationsarten Gespräch im Sinne von Mikrogespräch und Diskurs als Gesellschaftsgespräch93 fest und erstellt ein Drei-Ebenen-Modell der gesellschaftlichen Kommunikation als linguistischer Gegenstand. Die mittlere Ebene bilden die Gesprächs-, Text- und Mischkommunikate, die aus Subkommunikaten – sowie Teilgesprächen und -texten, d.h. Sprechakten, Sätzen usw. – bestehen (untere Ebene). Die höchste Ebene bilden die Superkommunikate, die WICHTER (2005: 194) Reihen94 nennt. Der Diskurs ist demnach eine Reihe „von sehr hoher Ordnung, von äußerst großem Umfang“95.

FOUCAULT (1997b: 156) selbst beschreibt den Diskurs als eine „Menge von sprachlichen Performanzen“, „von Formulierungsakten, eine Folge von Sätzen oder Propositionen“ bzw. als „eine Menge von Aussagen“96. Eine diskursive Aussage im Sinne von FOUCAULT ist jedoch nicht mit einer

„‘Satzaussage‘ einer Proposition“97 gleichzusetzen. Eine énoncé (Aussage) ist vielmehr ein

„‘materialistischer‘ Diskursakt, der in einem bestimmten Modus existiert“98. Die Problematik, den Foucault’schen énoncé Begriff für die Sprachwissenschaft zu operationalisieren, besteht unter

89 Busch (2004: 145)

90 Wichter (1999: 274)

91 Hermanns (1995: 88)

92 Busch (2007: 142) und Busch (2004: 12)

93 Zu den Analogien vgl. Wichter (1999: 274-275)

94 „Eine Reihe ist […] eine Kommunikationseinheit: Sie ist ein Ensemble von Elementen, deren Beziehung zueinander vor allem durch ihre funktionale Positionierung und durch ihre zeitliche Abfolge bestimmt sind und deren Aufgabe darin besteht, zur Konstruktion einer zweckbestimmten und thematischen Ganzheit beizutragen, und zwar im Rahmen der wechselseitigen, interaktiven Vermittlung von Inhalten zwischen Personen.“ (Wichter 2005: 199, Hervorhebung im Original) – Jeder Diskurs ist demnach eine Reihe, aber nicht jede Reihe ist ein Diskurs.

95 Wichter (2005: 308)

96 Foucault (1997: 170)

97 Jung (1996a: 461)

98 Angermüller (2007: 60)

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anderem darin, dass der Diskurs – wie WARNKE/SPITZMÜLLER (2008b: 5) betonen – „über das Sprachliche weit hinausgeht: Macht, Verhalten, Visualität, Stimme sind im Diskurs ebenso umfasst, wie alles, was man Aussagen nennen kann“. Die reine Existenz der Diskurslinguistik beruht allerdings auf der grundsätzlichen Annahme, dass der Diskurs über das Sprachliche – wenn auch nicht in seiner vollen Größe – erfassbar ist. Die Frage ist nur wie? Oder anders formuliert: Was sind die konstitutiven Elemente eines als kommunikatives Phänomen aufgefassten Diskurses? Bei BUSSE/TEUBERT (1994: 14) und bei HERMANNS (1999: 86-91) sind es – allerdings im forschungspraktischen Sinne – Texte. Der Diskurs wird von ihnen als Textkorpus definiert.

Diskurse als Textkorpora wurden zunächst vielfach kritisiert. JUNG (1996a: 461) zufolge sei der Text – trotz der Logik der Reihung Laut – Wort – Satz – Text – Diskurs – lediglich „eine notwendige Zwischenetappe“ mit „Kontextualisierungsfunktion“ und nicht der tatsächliche Untersuchungsgegenstand einer Diskursanalyse. Da Texte neben einem Hauptkonzept in der Regel auch Subthemen behandeln und sich so zu mehreren Diskursen zuordnen lassen, bildeten die Aussagen den wahren Gegenstand diskurslinguistischer Untersuchungen. Allerdings weist der Jung‘sche Aussagebegriff bedauerlicherweise eine ähnliche Unschärfe auf wie der von Foucault. Eine Aussage ist nach JUNG (1996a: 461) „eine bestimmte thematisch definierte Behauptung“, die sprachlich vielerlei Gestalt annehmen kann. „Aussagen“ seien demnach sowohl auf der Wort- und Satzebene als auch auf der Textebene zu finden. Ihre Formen reichten von Komposita oder Metaphern bis zu Textabschnitten. Ähnlich wie Jung findet auch Jäger den Text als konstitutives Element eines Diskurses ungeeignet. JÄGER (2001: 120) schlägt den Begriff „Diskursfragment“ vor, erstens weil Texte in der Regel eine thematische Heterogenität aufweisen und „daher Elemente verschiedener Diskursstränge […] transportieren können“, zweitens weil der Begriff alltagssprachlich an schriftliche Äußerungen gebunden sei. Im Gegensatz zu Jung und Jäger fasst BUSCH (2004: 13) den Text durchaus als konstitutives Element eines Diskurses auf, und zwar im Sinne von „sprachliche[r]

Erscheinungsform von Diskurshandlungen“. Er fordert jedoch „eine strikte heuristische und terminologische Trennung zwischen Diskurs und Korpus“99.

In der vorliegenden Arbeit wird der Diskurs als ein kommunikatives Phänomen aufgefasst, das über das Sprachliche hinausgeht, jedoch durch die Sprache – auch wenn nur partiell – erfassbar ist. Der Zugang zu den Aussagen des Integrationsdiskurses wird durch den Text gewährleistet. Das Textkorpus ist allerdings keineswegs mit dem gesamten Diskurs oder mit der gesamten Menge von

99 Busch (2004: 145)

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sprachlichen Diskurshandlungen gleichzusetzen. Es stellt lediglich eine nach dem Forschungsinteresse ausgewählte Menge von Texten dar.100

4.2.2.3 Wissenskonstituierung in der Gesellschaft durch die Zeit

Neben dem gemeinsamen Thema und dem kommunikativen Charakter gibt es noch weitere drei Merkmale wie die historischen bzw. die sozialen Dimensionen und die grundlegende Rolle der Wissenskonstituierung, die für den Diskurs konstitutiv sind. Diese drei Merkmale sind so eng verbunden, dass sie im Folgenden zusammen dargestellt werden. Im Bezugsrahmen eines Diskurses wird das kollektiv zugängliche Wissen ausgehandelt, dieses Wissen ist jedoch sowohl historisch als auch sozial determiniert.

Der Diskurs ist nämlich keine stabile Entität, sondern „eine diachrone Größe“101. Der Diskurs ist ein „Zeitgespräch“102, weil er den kommunikativen Raum für das Sagbare und Denkbare in einer bestimmten historischen Epoche unter bestimmten Machtverhältnissen bietet.103 Der Diskurs ist zudem auch sozial determiniert. Er ist „gesellschaftsnah“104, er wird nämlich von sozialen Gruppen getragen.105 Der Diskurs stellt den Raum für eine gesellschaftliche Kommunikation dar und spiegelt die mehr oder minder kollektiven Wahrnehmungen gesellschaftlich relevanter Themen, Konzepte und Wissenskomplexe wider. Zugleich hat der Diskurs auch eine fundamentale Auswirkung auf die Wahrnehmung und gestaltet somit die gesellschaftliche Wirklichkeit mit.106

Ein weiteres fundamentales Merkmal des Diskurses ist, dass er das kollektive oder – präziser formuliert – das für bestimmte Gruppen zugängliche Wissen organisiert. JÄGER (2001: 129) definiert den Diskurs als „Fluss von ‚Wissen‘ durch die Zeit“, an einer anderen Stelle beschreibt er ausführlicher, inwiefern der Diskurs als „Wissensvorrat“ der Gesellschaft aufgefasst werden soll:

Ich verstehe Diskurse also als soziale Wissensvorräte, die sich die Menschen erarbeitet haben und die von Menschen zu Menschen, von Generation zu Generation und im Austausch zwischen den Kulturen, also diachron und synchron in vielfältigen Gemengelagen, weitergegeben und aufgrund neuer Kämpfe untereinander und neuer Lern- und Arbeitsprozesse verändert werden. (Jäger 1997: 73)

100 Das Diskurskorpus wird in Kap. 6 beschrieben.

101 Busse/Teubert (1994: 24)

102 Hermanns (1995: 88)

103 Das Programm einer Diskursgeschichte setzt sich das Ziel, die Bedeutungs- bzw. Bezeichnungsänderungen durch die Zeit zu erforschen. Vgl. Hermanns (1995), Busse/Teubert (1994), Wengeler (2003)

104 Wichter (2005: 308)

105 Vgl. Gardt (2007: 30)

106 Vgl. Gardt (2007: 28)

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BUSCH (2004: 12) definiert den Diskurs ebenfalls als „Wissensraum“, in dem das Wissen auch vertikal – im Sinne von Experten- und Laien-Wissensniveaus – organisiert wird. Es wird also durch den bzw.

im Diskurs bestimmt, wer in einer Gesellschaft was weiß bzw. was wissen kann. Das Wissen wird dabei als eine dynamische Größe aufgefasst, die intersubjektiv durch die Sprache konstituiert und in der Gesellschaft stets umkämpft wird. Sachverhalte der öffentlichen Kommunikation, so wie die jeglicher Fachdomäne sind „Resultat[e] von agonalen Diskursen“107. Die Konkurrenz der Diskurse zeigt sich durch die Sprache, in Form von einem semantischen Kampf.108 Und letztlich wird das Wissen „vermittels der Durchsetzung von sprachlichen, genauer begrifflichen Fixierung von Erkenntnis akzeptiert“109. In diesem Sinne ist die linguistische Diskursanalyse – laut WARNKE/SPITZMÜLLER (2008b) – sowohl sprach- als auch wissensbezogen. Die Analyse der diskursiven Sprachverwendung gewährleistet nämlich einen Zugang zu transtextuellen, d.h. diskursiven Wissensstrukturen.

Zusammenfassend wird der Diskurs im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Kommunikations- und Wissensraum aufgefasst, in dem sich die sprachlichen Diskurshandlungen sowohl auf der Wort- als auch auf der Satz- und Textebene manifestieren. Durch die sprachlichen Manifestierungen von diskursiven Aussagen wird die Erforschung von Wissensstrukturen und -beständen möglich. Der Zugang zu den diskursiven Aussagen wird durch den Text gewährleistet, daher besteht das Diskurskorpus aus Texten, die jedoch nicht mit dem Gesamtdiskurs gleichzusetzen sind. Das Korpus110 stellt lediglich eine nach Forschungsinteresse ausgewählte Menge von Texten dar. Die ausgewählten Texte können aufgrund ihrer thematischen Vielfältigkeit zugleich zu mehreren diskursiven Formationssystemen oder Subsystemen gehören.

4.2.3 Der Integrationsdiskurs

Der Integrationsdiskurs ist eine Menge von Aussagen zum gemeinsamen Thema Integration. Im Bezugsrahmen des Integrationsdiskurses wird das gesellschaftlich relevante, mehr oder minder kollektiv geteilte Wissen über die Integration und die Betroffenen umkämpft und ausgehandelt. Zu diesem Wissenskomplex, der historisch und sozial bestimmt ist, bietet die Sprache, d. h. die diskursive Sprachverwendung einen Zugang. Da die Integration ein dynamischer, gegenseitiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozess ist, der zeitgleich in verschiedenen sozialen Bereichen

107 Warnke (2009a: 114), vgl. Ziem (2009a)

108 Vgl. Felder (2006)

109 Warnke (2009: 114)

110 Siehe Kap. 6 Diskurskorpus

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stattfindet, baut sich auch der Integrationsdiskurs auf gewissen Themenfeldern auf. Diese sind in Anlehnung an ESSERs (2000a, 2000b) sozialwissenschaftlicher Definition Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation.111 Unter Kulturation ist in erster Linie der Teilbereich Bildung und Spracherwerb zu verstehen. Die Platzierung bezieht sich vornehmlich auf die Beschäftigung oder die etwaige Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Das Themenfeld Interaktion umfasst sowohl das gelungene soziale Handeln zwischen Mehrheitsgesellschaft und den zu integrierenden Menschen als auch deviantes Verhalten von beiden Seiten, wie z. B. Ehrenmord oder Zwangsheirat bzw.

Fremdenfeindlichkeit. Das Themenfeld Identifikation bezieht sich schließlich auf die etwaige kommunikative Vermittlung eines Wir-Gefühls, einer gemeinsamen Identität.112

Da die gänzliche Erfassung des deutschen und des ungarischen Integrationsdiskurses forschungspraktisch unmöglich ist, wird in der anschließenden Diskursanalyse nur ein Teil des Gesamtdiskurses untersucht. Die Untersuchung ist lediglich auf sprachliche Diskurshandlungen ausgerichtet113, die im Kommunikationsbereich der Printmedien analysiert werden. Außerdem wird in den zwei untersuchten Wochenzeitschriften – DER SPIEGEL und die HVG [WÖCHENTLICHE

WELTWIRTSCHAFT]– vornehmlich die Perspektive der Diskursgemeinschaft der Mehrheitsgesellschaft repräsentiert. Die Ausklammerung der nicht-sprachlichen Diskurshandlungen, der Kommunikationsbereiche der audio-visuellen Medien und des Internets sowie die der intrakulturellen diskursiven Auseinandersetzung der Minderheiten mit ihrem Integrationsprozess werden bei der Auswertung der Befunde beachtet. Im Folgenden wird darauf eingegangen, mit welcher diskurslinguistischen Methode das Wissen und die Denkgewohnheiten zur sozialen Integration in Deutschland und Ungarn untersucht werden können.

111 Siehe 4.1.2 Dimensionen der Sozialintegration

112 Die jeweiligen Themenfelder und deren Subthemen sind mit anderen Diskursen und deren Diskurssträngen eng verbunden und verflochten. So gehört ein Text, der sich auf die schulische Laufbahn von Migrantenkindern bzw. Roma bezieht, sowohl zu einem sog. allgemeinen Bildungsdiskurs als auch zum Integrationsdiskurs.

Ähnlich weisen die Texte eine doppelte oder u. U. eine mehrfache Diskurszugehörigkeit auf, wenn sie z. B. zum Thema Kriminalität oder Sozialhilfe auch Aspekte bezüglich ethnischer Minderheiten beleuchten.

113 Vgl. Warnke/Spitzmüller (2008b: 9-10)

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4.3 Kollektive Denkgewohnheiten – diskurslinguistische Wissensanalyse

Da der Diskurs den Raum für Wissenskonstituierung darstellt, stellte sich den Diskurslinguisten schon früh die berechtigte Frage, wie das Denken bzw. Wissen einer Sprachgemeinschaft in einer bestimmten Epoche mit sprachwissenschaftlichen Methoden zu erfassen sei. Die jeweiligen Perspektiven und das genaue Forschungsziel durften zwar unterschiedlich sein, eine Fülle an Begriffen wie „Denkgewohnheiten“114, „Denkfiguren“115, „Bewusstseinsstrukturen“116,

„Denkmuster“117, „Denkweisen und Denkinhalte“118, „formale, kategorial-epistemische und substanzielle Mentalitäten“119, „epistemisch-kognitive Grundausstattung der Produzenten“120,

„Schemata“121, „Elemente bzw. Formate des verstehensrelevanten Wissens“122, „Wissensrahmen oder Frames“123 deutet jedoch auf das besondere diskurslinguistische Forschungsinteresse an kollektiven epistemisch-kognitiven Strukturen und Inhalten hin.

Auffällig ist, dass mal das Denken, mal das Wissen in den Mittelpunkt gerückt wird, was auf die enge Verbundenheit der zwei Begriffe zurückzuführen ist. Das Denken scheint erst auf Basis von vorhandenen Wissenselementen möglich zu sein. Beim Denken werden neu aufgenommene Informationen verarbeitet und in die schon vorhandenen Wissensbestände eingeordnet. Das Verarbeiten neuen Wissens geschieht anhand von gewissen Regelmäßigkeiten, die nicht nur von den kognitiven Prozessen her, sondern auch gesellschaftlich bestimmt, quasi vorprogrammiert sind.

Dieser Auffassung liegt nahe, die Sprache als „ein aus dem Sozialen hervorgehendes und ins Soziale hineinwirkendes Medium der menschlichen Erkenntnis“124 zu erfassen. Dabei handelt es sich jedoch nicht lediglich um die Vermittlung, sondern auch um Konstitution und Evaluation des Wissens.

Die Wissenskonstituierung, -evaluierung, -kategorisierung und -schematisierung sind wiederum Denkprozesse. Die Sprache ist eine unumgängliche Grundbedingung für Wissen und Denken und

114 Hermanns (1995)

115 Busse (1997), Scharloth (2005)

116 Böke/Jung/Niehr/Wengeler (2000)

117 Böke (1996), Wengeler (2003)

118 Dinzelbacher (1993), vgl. Wengeler (2003), Scharloth (2005)

119 Scharloth (2005)

120 Busse (1997), Scharloth (2005)

121 Vgl. Konerding (1993), Scharloth (2005)

122 Busse (2008)

123 Nach Fillmore (1982), Ziem (2008a, 2008b), Busse (2008)

124 Felder/Müller (2009: 2)

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zugleich auch ein „Bindeglied zwischen Kognition und Gesellschaftlichkeit des Menschen“125. Demnach kann die Sprachwissenschaft – im Zusammenspiel mit den Kognitions- und Sozialwissenschaften – einen Beitrag zu Erforschung von gesellschaftlichem Wissen und kollektiven Denkmustern leisten. Sprachliche Manifestierungen von Wissen gewährleisten einen Zugang zu gesellschaftlich relevanten Wissensbeständen, somit kann eine sprachbezogene Wissensanalyse zur Erforschung der Denkgewohnheiten einer Gesellschaft beitragen.

Der Sprachwissenschaft kommt hier die Kompetenz zu, die Struktur und die kommunikative Hervorbringung der Sprache als Leitmedium der gesellschaftlichen Existenz von Wissen mit den im Fach erarbeiteten Methoden untersuchen und beschreiben zu können. (Felder/Müller 2009: 2) Da die an Foucault orientierte Diskurslinguistik von der Prämisse ausgeht, dass gesellschaftlich relevantes Wissen im Diskurs konstituiert, definiert und organisiert wird, erscheint eine linguistische Diskursanalyse als geeignete Methode, das gesellschaftlich relevante Wissen zur sozialen Integration zu erforschen.126 WARNKE/SPITZMÜLLER (2008b: 16) heben in Methoden der Diskurslinguistik hervor, dass in der Diskurslinguistik nach Foucault die „Sprache als Teil sozialer Praktiken der Wissensgenese und Wissensformation“ untersucht wird. Eine sprachwissenschaftliche Diskursanalyse sei dementsprechend sprach- und wissensbezogen. Ins Mehr-Ebenen-Analyse-Modell (DIMEAN)127 integrierten sie dementsprechend Konzepte, mit denen das Wissen im Diskurs zu erfassen sei. Im DIMEAN sind u. a. die Konzepte der Mentalität, der diskurssemantischen Grundfiguren und des Frames zu finden. Im Folgenden soll daher erstens auf die anfänglichen diskurslinguistischen Überlegungen zu Wissensbeständen und Denkmustern – nämlich auf das Mentalitäts-Konzept HERMANNS (1995) ergänzt durch das Mentalitäts-Konzept von SCHARLOTH (2005) und die diskursiven Grundfiguren von BUSSE (1997) – näher eingegangen werden. Zweitens wird das Konzept der Frame-Analyse nach ZIEM (2008a, 2008b, 2009a, 2009b) erläutert.

125 Felder/Müller (2009: 2)

126 Vgl. Warnke (2009a), Ziem (2009a)

127 Siehe Tabelle 3 in Kap. 5.1 Untersuchungskonzeption

46 4.3.1 Mentalitäten

Im diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse-Modell (DIMEAN) von WARNKE/SPITZMÜLLER (2008b) ist das Konzept der Mentalität als mögliches analytisches Instrument zur Erfassung des gesellschaftlichen Wissens durch seine sprachlichen Manifestierungen angegeben. Im Folgenden wird daher geprüft, ob und inwiefern Mentalität im Sinne von kollektivem Denken, Fühlen und Wollen nach HERMANNS (1995) sich für die Erforschung von Denkgewohnheiten bzw.

Wissensstrukturen eines Integrationsdiskurses operationalisieren lässt.

HERMANNS (1995) forderte schon in den Anfängen der Germanistischen Diskurslinguistik eine Diskursgeschichte als Mentalitätsgeschichte, wobei im Rahmen der historisch, d.h.

kulturgeschichtlich, sozial, ökonomisch und politisch zusammenhängenden Diskurse Denkgewohnheiten einer sozialen Gruppe erforscht werden sollten. Hermanns versteht unter Sprachgeschichte eine Gesellschafts- bzw. Sozialgeschichte und schreibt der Sprache – im Gegensatz zum strukturalistischen Ansatz – einen sozialen Charakter zu. In Anlehnung an BUSSEs (1987) Konzept plädiert HERMANNS (1995) für eine historische Semantik, die anhand des Sprachgebrauchs einer gesellschaftlichen Gruppe zu einer bestimmten Zeit auf das Denken der jeweiligen Gruppe schließen lässt und somit auch den historischen Wandel des Denkens erfassen kann. Zwischen Sprache und Denken oder genauer formuliert zwischen Sprach- und Denkgebrauch besteht eine Wechselwirkung.

HERMANNS (1995) stellt fest,

daß sich in ihrem Sprachgebrauch, in ihrer Sprache zeigt, wie Menschen in verschiedenen historischen Epochen und verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich denken, fühlen, wollen;

und wie umgekehrt der Sprachgebrauch ihr Denken wie ihr Fühlen und ihr Wollen mitprägt;

(Hermanns 1995: 71)128

Diese Kognitionen, Emotionen und Intentionen, die der Sprachgebrauch sowohl widerspiegelt als auch aktiv mitprägt, nennt Hermanns Mentalität129 im Sinne einer linguistischen Mentalitätsgeschichte130. Eine Mentalität – nämlich die „Gesamtheit von Gewohnheiten bzw.

128 Vgl. dazu die Indikator- und Faktorfunktion der Sprache bei Koselleck (1979)

129 Der französische, sozial-historische und Hermanns sprachwissenschaftlicher Mentalitätsbegriff sind vom alltagssprachlichen Mentalitätsverständnis strikt zu trennen. Im Gegensatz zum fachsprachlichen Begriff wird Mentalität im nicht-fachsprachlichen deutschen bzw. ungarischen Sprachgebrauch vielmehr als Gemütsart, als Temperament aufgefasst. „Wie dies hat Mentalität ganz offensichtlich die Funktion, daß damit Menschen ganz bestimmte, wohlbekannte Eigenschaften zugeschrieben werden und sie damit typologisch eingeordnet werden; und zwar durch Zuordnung zu einem Stereotyp.“ (Hermanns 1995: 73)

130 Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte zu betreiben ist – wie Hermanns (1995: 69-70) betont – nicht etwas ganz Neues. Bei der Entwicklung des Konzepts Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte lehnt sich Hermanns (1995) an die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft an, die nicht nur theoretisch sondern auch forschungspraktisch als Vorreiter unter den Geisteswissenschaften gilt. Seine Überlegungen basieren auf

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Dispositionen des Denkens des Fühlens und des Wollens oder Sollens in sozialen Gruppen“131 – ist das in der jeweiligen Sprach- bzw. Kommunikationsgemeinschaft kollektiv und habituell Gedachte, Gefühlte und Gewollte. Die Denkgewohnheiten – inklusive Emotionen und Intentionen – sind usuell, generell und seriell. Sie sind allgemein verbreitet und somit auch selbstverständlich für die Gruppe.

HERMANNS (1995) betont ausdrücklich, dass Denken von affektiven (emotiven) und volitiven Dispositionen kaum zu trennen ist, da sie zusammen einen Komplex bilden, der mit den sozialpsychologischen Begriffen Einstellung oder Attitüde vergleichbar ist132. HERMANNS (1995: 84) hebt hervor, „daß ein Wort, das scheinbar Gegenstände oder Sachverhalte einfach nur beschreibt bezüglich ihres Seins, zugleich auch dazu dienen kann, ein Sollen auszudrücken“. Bedauerlicherweise liefert HERMANNS keine eigenen Beispiele, ist aber bemüht, den präskriptiven oder deontischen Charakter eines Wortes mit einem Beispiel aus den „Geschichtlichen Grundbegriffen“133 zu präsentieren. HERMANNS (1995: 83) stuft die Koselleck´sche Begriffsgeschichte nämlich bedingt als Mentalitätsgeschichte ein, da sie „ihrem eigenen Programm zufolge Wandlungen im Denken der historischen Subjekte darstellt”. Als Beleg für die deontische (Teil-)Bedeutung gelten Begriffe134, die von KOSELLECK (1979: 111-124) als „Zukunfts-, Ziel- bzw. Erwartungsbegriffe“ klassifiziert werden. Der historische Begriff Staatsbürger z.B. galt nach KOSELLECK (1979) früher noch als Zukunfts- bzw.

Zielbegriff, als er sich noch auf ein Verfassungsmodell bezog, das zukünftig zu verwirklichen war.

Demzufolge hatte der Begriff nicht lediglich eine deskriptive Wortbedeutung, sondern drückte zugleich auch das mentalitätsgeschichtlich verstandene kollektive Sollen bzw. Wollen aus.

Demzufolge hatte der Begriff nicht lediglich eine deskriptive Wortbedeutung, sondern drückte zugleich auch das mentalitätsgeschichtlich verstandene kollektive Sollen bzw. Wollen aus.