Z u s a m m e n f a s s u n g
Zur Untersuchung der Burg von Tartu (Ausgrabungen 1956—
1960) und der Altstadt (Ausgrabungen in der Magazinstraße 1966) wurden im J a h r e 1969 unter der Leitung des Verfassers neue Ausgrabungen auf der mittelalterlichen B e g r ä b n i s s t ä t t e bei
3 E N S V a j a l o o kü s i m u s i VIII
33
der Johanniskirche durchgeführt. Im Sommer 1970 wurden die Untersuchungen auf dem Hof eines Gebäudes Abovj a n s t r a ß e 8 fortgesetzt.
Die beiden A u s g r a b u n g s p l ä t z e befanden sich, ungefähr 200 m voneinander entfernt, im nord-westlichen Teil der T a r t u e r Altstadt (Abb. 1 ) , die landschaftlich mit der urzeitlichen Auwiese des Flusses Emajõgi verbunden ist. Jahrtausende betrug hier die Mächtigkeit der Kulturschicht 2,5—3,5 m. Obwohl die Fläche der Ausgrabungen verhältnismäßig g e r i n g ist (260 m2) , boten diese Forschungsarbeiten doch viele neue Angaben sowohl über die G e s t a l t u n g der Kulturschicht der S t a d t , a l s auch z u r E r k l ä r u n g deren Beschaffenheit.
D a s zahlreiche Fundmaterial gestattet es, mehrere frühere S t a n d p u n k t e des Verfassers über die E n t s t e h u n g der S t a d t T a r t u
zu präzisieren.
Die Untersuchungen auf dem Begräbnisplatze (sowie schrift
liche Quellen) haben gezeigt, d a ß der letztere sofort nach der E r r i c h t u n g der Johanniskirche (also um die Wende des XIII. Jh.) a n g e l e g t wurde, u n d d a ß er a l s B e g r ä b n i s s t ä t t e bis z u r E n d e d e s XVIII. J h . existiert 'hatte.
Im Fundstoff der A u s g r a b u n g e n des Begräbnisplatzes k a n n m a n 4 Fundkomplexe unterscheiden:
1) In der oberen, a u s S a n d und verschiedenen Bauresten be
stehenden Schicht der Ausgrabungen fand m a n viele miteinander vermischte Bestattungen (Skelette und S c h ä d e l ) , die wahrschein
lich a u s dem XVIII. J h . stammen.
2) Der zweite Horizont der Bestattungen (0,80—1,60 m) ent hielt eine Reihe von Gräbern — schlecht erhaltene Skelette mit verschiedenen Beigaben in Holzkisten (Abb. 2). Nach den Münzen k a n n m a n den genannten Horizont (Tab. I) mit dem XVI. und
XVII. J h . datieren.
3) Im dritten Horizont (1,60—2,80 m) waren die aus Kiefer brettern gezimmerten Kisten g a n z unversehrt geblieben (Abb. 3 ) , d a g e g e n waren aber die Skelette a m meisten zerfallen. E s fehlten auch vollständig Beigaben (Tab. I I ) . Mit Hilfe der S t r a t i g r a p h i e ist e s möglich, diesen letzten Horizont mit den christlichen Be
s t a t t u n g e n des XIV. und XV. J h . in Z u s a m m e n h a n g zu bringen.
4) Bei den Forschungsarbeiten in der Johanniskirche (in den 60er J a h r e n ) w u r d e unter den Holzflößen — auf denen die Kirche gebaut ist, eine Reihe von Bestattungen festgestellt. Die letzten gehören bei aller Wahrscheinlichkeit zu der frühen stadtähnlichen Siedlung.
Zu dieser F u n d g r u p p e gehören auch die vom Westteil d e r Ausgrabungen der Begräbnisstätte entstammenden Bruchstücke der auf der Töpferscheibe gearbeitete Keramik slawischer P r ä g u n g (Tafel VII: e, f, k) und manche Gebrauchsgegenstände a u s Stein (Tafel VII: о, p.), ein Spinnwirtel aus Lehm (Tafel X:
34
]-n) usw. Diese Funde stammen aus dem tiefsten Teil des III.
Horizonts (2,5—2,8 m), aus der von Humus und Lehm ver
mischten Schicht, die unmittelbar auf dem unberührten G r u n d (Mergel) lag. Die letztgenannte ist direkt mit derselben früh-städtlichen Siedlung des XI. und XII. J h . verbunden.
Genau derselben P r ä g u n g w a r der größte Teil des Fund
materials der Ausgrabungen der Abovjanstraße. Der obere Teil der Kulturschicht (0,50—2,20 m) zeigte verschiedene Spuren der Bautätigkeit im XVI. bis XVIII. Jh. In der Tiefe von 2,5 m wur
den die Überreste des Steinfundaments eines Ziegelgebäudes a n s Tageslicht gebracht (Abb. 4 ) , die vermutlich zum Gebäude der Kleinen Gilde (zur „Gildstube") a u s dem XIV. bis XVI. J h . ge
hören. Der g e n a n n t e A u s g r a b u n g s p l a t z befand sich nach den Quellenurkunden auf dem ehemaligen Grundstück der Kleinen Gilde. Neben den Bauresten traf m a n auch auf einige F r a g m e n t e des rheinischen Steinzeugs a u s dem XIV. Jh., sowie auf w e n i g e Bruchstücke der Keramik mit glasierter Innenfläche a u s dem XVI. und XVIII. J h .
In den tieferen Schichten (2,20—2,30) der Ausgrabungen ent
deckte m a n die Uberreste eines Fußbodens a u s dünnen Kiefer
balken (Abb. 6 ) , die wahrscheinlich von einem H a u s h a l t s g e b ä u d e a u s dem XIV. und XV. J h . stammen.
In der Tiefe von 2,5—3,5 m entdeckte man eine Kulturschicht, die in wesentlichen Zügen der durch die obenbeschriebenen Aus
g r a b u n g e n bei d e r Johanniskirche freigelegten Kulturschicht ähnelte, die a u s H u m u s und verschiedenen organischen Stoffen (Asche, Gräten, Schuppen usw.) bestand und unmittelbar auf d e r Mergel Schicht l a g .
Wie e s a u s der L a g e des F u n d m a t e r i a l s ersichtlich ist, unter
scheiden sich die Funde ihrer Herkunft nach: e s gibt 1) Grabbei
gaben und 2) mit der frühen stadtähnlichen S i e d l u n g und der mittelalterlichen S t a d t in Verbindung stehende Gebrauchsgegen
stände, insbesondere Keramik.
Von den Grabbeigaben seien hier e r s t e n s die Münzen a u s dem XI. bis XVII. J h . g e n a n n t (Tab. I I I ) . Meistens sind e s schwedische Ören, die vermutlich armen Soldaten a l s Zeichen der Subordination dem Königreich beigegeben sind. Die übrigen Killinge erzählen aber von den Handelsverbindungen von T a r t u im System der Hanse. D a s Beigeben der Münzen und Schmuck
sachen erst seit dem E n d e des XV. J h . weist darauf hin, d a ß die früheren Bestattungen (XIV.—XV. Jh.) ohne Beigaben den strengen Gebräuchen der christlichen Religion untergeordnet waren.
Die s p ä t e r e schwere Epoche des Feudalismus mit ihren Krie
gen und Feindschaften erinnerte wahrscheinlich die unteren Volksschichten wieder a n die alten B r ä u c h e d e s Heidentums. D a s kann m a n a u s den reichhaltigen Beigaben der Bestattungen d e s 35
XVI. und XVII. Jh. schließen. Unter den letzteren findet m a n verschiedenen Halsschmuck, zum Beispiel einen runden Kreuz-A n h ä n g e r m i t einer Öse a u s Silber (Tafel V I I I : e ) , der an
scheinend s o wie gewöhnliche Halsbrakteaten getragen wurde.
Am Rande des A n h ä n g e r s gibt e s eine Inschrift, deren I n h a l t e s gestattet, d a s Schmuckstück mit Dorp a t in Verbindung zu bringen. Nach seiner Symbolik ( d a s vierkantige Kreuz a l s Kirchensvmbol) und der F u n d l a g e gehört der Anhänger i n s XVI. Jh."
Ein rhombischer A n h ä n g e r a u s Bronzeblech (Taf. IX: k ) dürfte von der Halskette stammen, von der auch einige kleine gelbe Glasperlen herrühren. Die übrigen Perlen a u s blauer und weißlicher g l a s a r t i g e r M a s s e sind grob gearbeitet (Taf. IX: 1, n) und ähneln vollständig den anderen estnischen Bauernschmuck
sachen der Feudalepoche.
Neben dem Halsschmuck seien einige Fibeltypen erwähnt, die nach der Form des Bügels und d e r O r n a m e n t i k beinahe den früheren Fibeln der jüngeren Eisenzeit ähneln. Die in den Beiga
ben enthaltenen 5 Hufeisenfiblen (Taf. X: o-p) gleichen in ihrer Bügelverzierung und ihren Endknöpfen den Hufeisenfibeln des XI.
bis XIII. Jh., hier aber stellen sie eine e t w a s degenerierte Form d a r und dürften nach der F u n d l a g e a u s dem XVI. bis XVIII. J h , stammen.
Aus derselben Zeit datieren auch eine Reihe von S t a b - und Scheibefibeln a u s „Rotgolddraht" (Metallmischung a u s Kupfer und Zink), einige von ihnen sind mit punktierten Ringen und Kerben ornamentiert (Tafel V I I I : d ) . Zu einem prächtigeren Brustschmuck gehören 3 runde, leichtgewölbte, mit Pflanzen
ornament verzierte Scheibenfibeln a u s Silberblech (Tafel V I I I : a-c). Als Vorbild h a t hier offenbar d a s Barockornament a u s dem XVI. J h . gedient, d a s ähnliche Verzierungsmotive aufweist.
Die in den letztgenannten F r a u e n b e s t a t t u n g e n gefundenen Fibeln zeigen von einem relativen Wohlstand der Bestatteten.
Doch sind solche Silbersachen (in Urkunden „Bauernsilber" ge
n a n n t ) von den örtlichen Meistern bäuerlicher Herkunft, die nach einigen Angaben in T a r t u außerhalb der Zunft arbeiten konnten, hergestellt worden.
Unter den Schmucksachen sind noch 3 Ex. von herzförmigen Fibeln a u s Bronze (Tafel V I I I : f) vertreten, die nach der Fund
l a g e i n s XVII. J h . gehören. Von den übrigen Beigaben seien hier noch einige silberne und bronzene F i n g e r r i n g e (Tafel X: r ) , sowie auch einige Gebrauchsgegenstände und Textilfragmente (Tafel
IX: h, i, o, m ) g e n a n n t .
Die zweite Fundgruppe — die aus den oben behandelten Aus grabungen s t a m m e n d e Keramik weist ihrer Tonbeschaffenheit, Form und Ornamentik nach sehr ähnliche Parallelen zu den Funden der früheren A u s g r a b u n g e n der B u r g und der Altstadt 36
von Tartu auf. Die Klassifizierung dieser Tartuer Keramik ist vom Verfasser schon früher in seinen beiden obenerwähnten Auf
s ä t z e n angeführt. Die letztbehandelten Keramikfunde, exkl.
weniger Ausnahmen, sind von demselben Typus.
Auf der Scheibe angefertigte Tongefäße slawischer P r ä g u n g d e s XI. J h . und des IX.—XII. Jh. (Tafel IX: a, b, с ;Tafel VII:
а, c, e, f, h) gibt es relativ wenig. Es zeugt davon, daß der be
trachtete Stadtteil im XI. J h . noch verhältnismäßig dünn be
siedelt w a r .
Die meisten F r a g m e n t e der auf d e r Scheibe hergestellten Keramik gehören ins XIII. und XIV. Jh., d. h. in die Übergans
periode von der Keramik slawischer P r ä g u n g zur Keramik ger
manischer Herkunft (Tafel IX: f, g ; X: h, i), deren Analogien a n verschiedenen Orten des germanischen Areals anzutreffen sind.
Der Großteil der Töpferproduktion der örtlichen Meister ist im XIV. und XV. J h . vertreten. S i e zeigt eine qualitative Veränderung: die Gefäße haben hochgewölbte Achseln, s i e sind a u s roter Feintonmasse und mit sehr hartem B r a n d (Tafel X:
j-k). Gleichzeitig mit dieser Keramik fand auch rheinisches Stein
zeug, dessen älteste Beispiele in T a r t u schon im XIII. J h . anzu
treffen sind, Verwendung. Die Keramik mit der glasierten Innenfläche und die Ofenkacheln, sowie verschiedene Gebrauchs
g e r ä t e waren im betrachteten Inventar in ziemlich geringem Maße vertreten.
Zusammenfassend k a n n m a n s a g e n , d a ß sich in T a r t u wegen seiner günstigen L a g e a n der Kreuzung wichtiger Wasser- und Landwege höchstens gegen Ende oder um die Wende des XI. J h . ein Handelszentrum der Oberschicht und ein traditioneller Ver
sammlungsort des Volkes entwickelte. Nach der M e i n u n g des Verfassers dürfte e s nur eine frühe Vorstufe der S t a d t sein, w a s dem Entwicklungsstand der sozialökonomischen, d . h. der früh
feudalen Verhältnisse hiesiger S t ä m m e völlig entsprach. D a s Fundmaterial der B u r g und der Altstadt des XI. und XIII. J h . überzeugt u n s davon, d a ß die Handwerksproduktion, besonders die Juvelierkunst und Metallbearbeitung die Stufe d e s städtischen Handwerks s o wie e s für Novgorod und a n d e r e frühmittelalter
liche S t ä d t e kennzeichnend w a r , noch nicht erreicht hatte. E s überstieg noch nicht d a s begrenzte Niveau der örtlichen Hand
werksmeister. E s fehlten d a m a l s auch die anderen wesentlichen Kennzeichen der entwickelten S t a d t . Im weiteren, wie e s a u s dem mittelalterlichen archäologischen Fundstoff des XIII. und XIV. J h . hervorgeht, bildete sich in T a r t u ein wirklich städtisches H a n d werks- und Handelszentrum mit vertiefter gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Auch nach Quellenberichten haben wir allen Grund zur Annahme, d a ß die Herausbildung der S t a d t von Tartu zusammen mit Befestigung der feudalen Verhältnisse n u r seit d e r Mitte des XIII. J h . s t a t t f a n d .
37
TARTU ÜLIKOOLI FINANTSIDEST XVII SAJANDIL