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„Migration should be a choice, not a necessity“ (New York Declaration for Refugees and Migrants 2016).

Mit dem Sommer der Migration und der Krise der europäischen Migrationspolitik 2015 war die Bekämp-fung von Fluchtursachen in aller Munde. Damit sollten weitere Migrationsbewegungen in Zukunft noch verstärkt im Herkunftsland unterbunden werden. Die Forderung ging mit der Feststellung einher, dass die Migrationskontrollen insbesondere an den europäischen Außengrenzen versagt hatten und die Ko-operation mit Transit- und Herkunftsländern damit weiter an Dringlichkeit gewann. Das vorherrschende Verständnis von Fluchtursachen verortet dabei die Verantwortung für Fluchtmigration maßgeblich in den

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Herkunftsländern von Geflüchteten und verweist auf dort bestehende Korruption, diktatorische Regime und grassierende Armut. Diese werden allein auf lokale Entwicklungen und Verhältnisse zurückgeführt.

Die politischen Maßnahmen zur sogenannten Fluchtursachenbekämpfung setzen daher auf europäische bzw. mitgliedstaatliche Interventionen vor Ort mittels Entwicklungshilfsgeldern und der Förderung pri-vatwirtschaftlicher Investitionen. Die vorliegende Studie zeigt auf, wie sich bereits in den Anfängen der Debatte um Fluchtursachen dieses internalistische Verständnis wiederfindet. Dabei zeichnen wir die Ur-sprünge des Diskurses in den 1980er Jahren auf UN-Ebene nach und zeigen, wie sich das skizzierte vor-herrschende Verständnis in den 1990er Jahren auch in die EU-Migrationspolitik einschreibt.

Vor diesem Hintergrund haben wir mit der vorliegenden Studie in erster Linie einen Perspektivwechsel auf das Thema Fluchtursachen vorgeschlagen und vorgenommen. Wenn von Ursachen die Rede ist, so müssen diejenigen tieferliegenden, vielfach vermittelten historischen und strukturellen Zusammen-hänge, die im postkolonialen globalen Kapitalismus und dem darin zum Ausdruck kommenden Nord-Süd-Verhältnis begründet liegen, in den Blick genommen werden. Wir beziehen uns dabei auf den Begriff der „imperialen Lebensweise“ (siehe III.1). Zunächst geht es dabei darum, die Normalität zu unterbre-chen. Denn, in den Worten Miriam Langs: „Der globalisierte Weltmarkt sorgt dafür, dass diese in Kon-sumgüter eingeschriebenen Produktionsketten und Gewaltverhältnisse abstrakt und anonym bleiben, also systematisch unsichtbar gemacht werden. Sie bilden jedoch den direkten Zusammenhang zwischen imperialer Lebensweise im Norden und Fluchtursachen im Süden“ (Lang 2017: 183). Sowohl die theoreti-schen Ausführungen als auch die inhaltlichen und regionalen Fallbeispiele haben Schlaglichter auf diese Zusammenhänge geworfen.

Neben diesem Perspektivwechsel ziehen sich zwei inhaltliche Punkte durch die Studie, die nicht zu-letzt aus der kritischen Migrationstheorie und umfassender empirischer Forschung hervorgehen: Zum ei-nen werden auch in kritischen Beiträgen zum Thema Fluchtursachen häufig isoliert einzelne Zusammen-hänge fokussiert, anstatt das Zusammenwirken verschiedener Fluchtgründe und -ursachen zu analysie-ren. Insbesondere in den regionalen Beispielen (Syrien und Nigeria) sollte diese Verwobenheit möglichst konkret illustriert werden, um vereinfachende additive Darstellungen zu vermeiden (III.3.1 und III.3.2).

Erst die Beschreibung des Zusammenwirkens globaler Naturverhältnisse wie sie sich im menschenge-machten Klimawandel ausdrücken mit lokalen Gewaltdynamiken, die beispielsweise durch Ressourcen-knappheit in Gang gesetzt werden, ermöglicht eine Annäherung an die komplexen Verhältnisse, die zu Fluchtmigration führen können. Der Fokus der vorliegenden Studie auf Verhältnisse, in denen Fluchtmig-ration nur einen Ausweg aus Schutz- und Perspektivlosigkeit darstellt und die auch zu Immobilität oder anderen widerständigen Strategien führen können, bietet außerdem ein weiteres Verständnis von Fluch-tursachen an. Es entkommt nicht zuletzt der Engführung und Verkehrung, die die „Bekämpfung von Fluchtursachen“ als gleichbedeutend mit der Verhinderung von Migration tief im vorherrschenden Dis-kurs verankert hat. Denn anzugehen und zu bekämpfen sind Verhältnisse, die Menschen ein gutes Leben in Würde absprechen – egal, ob sie fliehen, ein Aufbruch aufgrund von Entbehrungen keine Option dar-stellt, oder ob sie zum Bleiben unter widrigen Bedingungen genötigt sind.

Zum anderen birgt die Analyse von Fluchtursachen und -gründen stets die Gefahr einer deterministi-schen Sichtweise auf Migrationsbewegungen. Die Herausforderung besteht darin, weder Migration als passive und unweigerliche Reaktion auf globale Ungleichheitsverhältnisse darzustellen noch Migrations-bewegungen als losgelöst zu verstehen von Ungleichheitsverhältnissen, die sich nicht zuletzt zwischen

91 globalem Norden und globalem Süden aufspannen. Migrant*innen sind, auch wenn sie ihre Migrations-entscheidung in einer Situation der Not treffen, handlungsfähige Akteur*innen mit ihren Strategien, Hoffnungen und dem Wunsch, an einem anderen Ort zu leben.

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IV Fluchtursachen-Diskurs und sozial-ökologische Transformation Europas

„Die Menschen sind in Bewegung, und die Grenzen werden sie nicht auf-halten. Wir haben also die Wahl, die Grenzen vollständig zu militarisieren und sie in Massengräber zu verwandeln. Oder wir finden eine neue Ge-dankengrundlage, die nicht mehr vom Nationalstaat abhängt“

(Mbembe, Der Spiegel v. 7. November 2016)

Die kapitalistische Krisendynamik spitzte sich im Jahr 2020 zu drei miteinander verbundenen Krisenmo-menten zu: der ökologischen Krise, der Krise der globalen Ungleichheitsverhältnisse und der Krise der Migrationspolitik. In dieser Zuspitzung, Raul Zelik (2020: 38) spricht von einem „Epochenbruch“, ist nicht mehr nur die kapitalistische Vergesellschaftung oder die ein oder andere Nationalökonomie gefährdet, sondern - nichts Geringeres als die Menschheit selbst. Dies so auszusprechen, stellt heute leider keine pathetische Übertreibung mehr dar (siehe statt vieler nur Wallace-Wells 2019). Fraglich ist vielmehr, ob eine geplante Transformation gelingt oder die Menschheit gezwungen ist, nach Naturkatastrophen und Kriegen notgedrungen anders zu leben, ob „solidarische-demokratische Regeln und universelle Rechte durchgesetzt werden können“ oder, ob sich „Komfortzonen für die oberen fünf Prozent der Weltbevöl-kerung“ durchsetzen (Zelik 2020: 38). Die Migrationspolitik ist dabei ein Seismograph der Entwicklung.

Die aktuelle Verfassung der europäischen Migrationspolitik mit ihren Lagern entlang den Grenzen und den Toten im Mittelmeer, der eingestellten Seenotrettung sowie der Kooperation mit Milizen in der Ab-schottung zeigt in die falsche Richtung. Die Frage der Fluchtmigration ist daher gerade, wie diese Studie verdeutlichen soll, geeignet, die drei miteinander verbundenen Momente der großen Krise zu themati-sieren. Dies muss der Ausgangspunkt sein, von dem aus der Fluchtursachen-Diskurs, in welchem sie zu-sammenfließen, gewendet werden kann.

Nicht ethischer Konsum - so sinnvoll und bewusstseinsbildend er auch sein kann – sei die Antwort auf die imperiale Lebens- und Produktionsweise, hatten wir weiter oben festgehalten, sondern die sozial-ökologische Transformation. Raul Zelik (2020: 199) betont, dass die bürgerliche Klimadebatte von Appel-len an das Konsumverhalten und individuelle Lebensentscheidungen dominiert werde, „während sie gleichzeitig die strukturelle Rolle von Unternehmen und materiellen Interessen hinter den heute beste-henden Naturverhältnissen ausblendet. Ein Kurswechsel wird indes nur möglich sein, wenn genau diese Zusammenhänge thematisiert werden.“

Fluchtursachen in diesem Kontext zu verorten, bedeutet, entgegen der internalistischen Perspektive festzustellen, dass die Veränderung nicht im globalen Süden beginnen muss, sondern dass die europäi-schen Staaten ihre eigenen Gesellschaften grundlegend auf eine nachhaltige Grundlage stellen müssen, sodass sie nicht länger auf Kosten anderer leben. Die Herausforderung, die es bedeutet, sich hierauf ein-zulassen, und damit eben auch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse ebenso herauszufordern wie die unmittelbarsten Alltagspraktiken der Menschen in Europa, ist enorm. Aber, wie wir mit dieser Studie ver-deutlichen wollten, ist es eben auch die realistische Antwort auf die Krise des (nicht nur) europäischen Grenzregimes.

Unser Schicksal ist mit dem der „Anderen“ verbunden. Daher profitieren von einer sozial-ökologi-schen Transformation auch die Gesellschaften des globalen Nordens. Nicht nur würden die sozialen Kon-flikte um Migration, welche diese Gesellschaften spalten, entschärft. Vielmehr würden sich sowohl die

93 Lebensverhältnisse im globalen Süden, als auch möglicher Weise in Europa (in Bezug auf Gesundheit, Arbeit, Ernährung, Wohnen etc.) verbessern.

Die Machtressourcen der gesellschaftlichen Akteur*innen sind sehr ungleich verteilt – entsprechend auch das Blockade-Potenzial gegen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Aber da auch die Ar-beiter*innen des globalen Nordens, ja selbst die Geflüchteten, die inzwischen nach Europa gelangt sind, über ihre Alltagspraxen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – in die imperiale Lebensweise ver-strickt sind, haben auch sie ein Veränderungspotenzial. Wenn Strukturen geronnene Alltagspraxen sind, dann lassen sie sich auch verändern. Denn diese Praxen müssen nicht unendlich wiederholt werden. Und selbst die mächtigsten Akteure sind bei drohendem Untergang darauf angewiesen, die Stabilität von Ge-sellschaften nicht zu ruinieren, sowohl indem gesellschaftliche Kohäsion aufrechterhalten wird, als auch durch die Abwendung der Klimakatastrophe. Die Covid-19-Pandemie, die ebenfalls als Resultat der Inter-aktionen zwischen Gesellschaften und ihrer nicht-menschlichen Natur ein sozial-ökologisches Krisenphä-nomen ist (Görg 2020), hat dies allen eindrücklich vor Augen geführt. In den letzten Jahren sind sowohl im umweltpolitischen als auch im migrationspolitischen Feld viele neue Akteur*innen entstanden, die eine Praxis eint: Solidarität. Dies gilt etwa für die Willkommensbewegung, die private Seenotrettung, die solidarischen Städte, „Fridays for Future“ oder „Solidarisch trotz Corona“. Sie haben verdeutlicht, dass sie bereit sind für grundlegende, solidarische Veränderungen. Als gemeinsame Perspektive schlagen Brand und Wissen (2017: 165ff.) daher den Begriff der „solidarischen Lebensweise“ vor. Es gibt zur glei-chen Zeit auch Gegenbewegungen, die auf Wohlstandschauvinismus, Rassismus und die „Festung Eu-ropa“, also auf Ent-Solidarisierung setzen. Gerade in dieser Auseinandersetzung kommt den Gewerkschaf-ten des globalen Nordens, welche Millionen von Arbeitnehmer*innen organisieren, eine immense Bedeutung zu. Sie haben das Potenzial, den Fluchtursachen-Diskurs in Richtung einer sozial-ökologischen Transfor-mation zu verschieben und damit auch die Forderungen selbstorganisierter Migrant*innen und Geflüch-teter zu verstärken.

Als Gewerkschafter*innen, kritische Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche oder politische Akteur*innen in Europa gilt es in erster Linie die europäische und jeweilige mitgliedstaatliche Ebene zu adressieren. Aus dieser Perspektive müssen nicht zuletzt die europäische Rohstoff-, Waffenexport-, Ag-rar-, Klima- und Außenhandelspolitiken so gestaltet werden, dass sie die postkoloniale Konstellation nicht mehr fortschreiben und Lebensgrundlagen von Menschen im globalen Süden nicht mehr zerstören.

Unverzichtbare Verbündete dabei sind Akteur*innen sozialer Bewegungen, der breiteren Zivilgesell-schaft und Vertretungen von Arbeitnehmer*innen im globalen Süden, die über die sie betreffenden Aus-wirkungen globaler Prozesse berichten und mit denen Analysen geteilt und gemeinsame Strategien ent-wickelt werden können.

Die von uns vorgeschlagene Perspektive bedeutet also, dass es bei der Bekämpfung von Fluchtursa-chen nicht um Migrationspolitiken im engeren Sinne gehen kann. Wie der Migrationsforscher Stephen Castles bereits in seinem Artikel von 2005, „Warum Migrationspolitiken scheitern“, festgehalten hat, wer-den Migrationskontrollen genau dann erfolgreich als auch überflüssig sein, wenn das zentrale politische Ziel in einer Verminderung globaler Ungleichheit und veränderten Nord-Süd-Beziehungen verwirklicht wird (Castles 2005: 31). Er kommt in einem Beitrag von 2017 daher zu dem Schluss: „Migrationspolitiken sind problematisch – weil sie sich auf Migration beziehen“ (2017, eigene Übersetzung). Fluchtmigration erscheint dann als ein möglicher Ausdruck von Verhältnissen, die über das Thema Migration weit hinaus-weisen. Denn Flucht ist nur für manche eine Option, Elend, Unterdrückung und Gewalt zu entkommen.

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Zugleich können Geflüchtete als Zeug*innen dieser globalen Verhältnisse angesehen werden. Denn sie

„verkörpern das universelle Leiden an der imperialen Lebensweise. Und sie erinnern die Aufnahmegesell-schaften an die Möglichkeit des Lernens, der Einsicht in und des Engagements für die Veränderung der ei-genen Lebensverhältnisse im Lichte dramatischer Umbrüche in der Welt” (Brand/Wissen 2017: 174).