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I.2 Überblick Studie

I.2.3 Begriffsbestimmungen

Fluchtgründe und ihre Ursachen

Der Begriff der Fluchtursachen (oder root causes) steht im Zentrum der vorliegenden Studie. Vorab wer-den wir daher eine Klärung der verwendeten Begriffe vornehmen. Auf Basis der Analyse von Kräftever-hältnissen sollen die strukturellen Faktoren und konkreten Politiken untersucht werden, die zu

7 Darunter waren Vertreter*innen der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Jour-nalismus, Papier GPA-dijp, der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft Vida und von Younion.

8 Dabei handelte es sich um Referent*innen der Organisationen Brot für die Welt, medico international, Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC), weltumspannend arbeiten sowie dem Bayrischen Flüchtlingsrat.

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tuationen führen, in denen Flucht eine Strategie des Entkommens aus gewaltsamen Verhältnissen dar-stellt. Diese gesellschaftlichen Faktoren sind die vielfach vermittelten „Fluchtursachen“. Jedoch sind häu-fig, wenn von Fluchtursachen gesprochen wird, eigentlich die unmittelbaren „Fluchtgründe“9 gemeint.

Darunter fassen wir die Folgen und Symptome eben jener zugrundeliegenden Ursachen, wie Hunger, Überschwemmungen, Dürren, kriegerische Auseinandersetzungen und Ressourcenknappheit. Insgesamt zeigt sich, dass die unmittelbaren Gründe von Flucht und Vertreibung eine erhebliche Komplexität auf-weisen, sowohl was die Vielzahl an unterschiedlichen Faktoren, als auch ihr komplexes Zusammenspiel angeht, welches schlussendlich zu der Entscheidung führen kann, aufzubrechen, um Schutz, Sicherheit und neue Lebensperspektiven zu finden.

Bei der Differenzierung zwischen Fluchtursachen und -gründen sind wir uns bewusst, dass es sich um eine idealtypische, heuristische Unterscheidung handelt. Wir gehen davon aus, dass sich zwischen den benannten Momenten ein Kontinuum vielfach vermittelter Ebenen aufspannt. Gesellschaftstheoretisch betrachtet definieren Strukturprinzipien auf der grundlegendsten Ebene bestimmte Typen von Gesell-schaften (Giddens 1992: 337). Wir verorten hier die sich im postkolonialen globalen Kapitalismus mani-festierenden Strukturprinzipien. Letztere sind von vielfachen Herrschaftsverhältnissen durchzogen (dazu zählen das Geschlechter-, das Klassen- und das Nord-Süd-Verhältnis sowie die Ausbeutung der Natur).

Auf einer nächsten Ebene befinden sich konkrete institutionelle Politiken, welche das globale kapitalisti-sche Akkumulationsregime maßgeblich über Zeit und Raum hinweg reproduzieren und stabilisieren.

Strukturprinzipien sind in jenen institutionellen Politiken eingelagert und werden von diesen aufgegrif-fen. Dazu gehören beispielsweise Handels-, Agrar- und Fischereipolitiken, die Organisierung globaler Wertschöpfungsketten, aber auch durchgesetzte Formen des Landgrabbing, die Zugriffe auf Ressourcen im globalen Süden absichern sollen. Effekte dieser Politiken schließlich stellen die unmittelbaren Flucht-gründe dar wie Hunger, kriegerische Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder Dürrefolgen. Die darauf bezogene Praxis bewegt sich innerhalb dieses strukturell-institutionellen Feldes, welches verschiedenen Akteur*innen unterschiedliche Machtressourcen zur Verfügung stellt. Wie Millionen von Menschen auf die Vielfachkrisen reagieren ist nicht determiniert, sondern eigensinnig: Die Reaktionen können von Re-signation über Protest, Streiks und Aufstände vor Ort bis hin zu Flucht und Emigration reichen (Georgi 2019a: 210). Diese Unterscheidungen sollen uns ermöglichen, das vorherrschende Verständnis von Fluch-tursachen einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Unter den Praxen haben die Alltagspraxen eine be-sondere Bedeutung. Darauf werden wir in Kapitel III.1.1 zurückkommen.

Der Blick auf die Ursachen rückt eine gesellschaftstheoretische Perspektive in den Fokus, welche auf die kapitalistische Vielfachkrise (Demirović et al. 2011; Brand/Wissen 2017: 22ff.; Georgi 2019a) und ihre ver-heerenden Dynamiken verweist, die hinter den akuten Fluchtgründen liegen: Hinter Bürgerkriegen und Konflikten, in denen ethnische und religiöse Spannungen Gewaltspiralen in Gang setzen, stehen häufig

9 Im Englischen werden im Zusammenhang mit Fluchtgründen Begrifflichkeiten wie „drivers“, „determinants“, „triggers“, „moti-vations“, „push factors“ etc. verwendet (siehe Carling/Collins 2018: 919ff.). Boswell schlägt eine Unterscheidung in „root causes, proximate causes, enabling conditions, and sustaining factors“ vor (Boswell 2002: 4). Die „root causes“ wären damit die Flucht-ursachen, während die „proximate causes“ als unmittelbare Fluchtgründe verstanden werden könnten. In der vorliegenden Studie sind die als „enabling conditions” bezeichneten Bedingungen, unter denen sich Migration und Flucht vollziehen (Gesetzgebun-gen, Grenzkontrollen, Reisemöglichkeiten etc.), und die „sustaining factors“, die auf Migrationsnetzwerke verweisen, nicht Teil der Analyse.

17 willkürlich gezogene Grenzziehungen aus der Kolonialzeit oder ökonomische Verteilungskonflikte. Letz-tere können aus Ressourcenknappheit angeheizt werden, die durch das Agieren transnationaler Unter-nehmen und deren aggressiven Streben nach neuen Verwertungsmöglichkeiten verschärft wurde. Hinter Dürren, Bodendegradation und Überschwemmungen kann die globale Klimaerhitzung stehen, die in ers-ter Linie durch die Lebens- und Produktionsweise der Oberschichten im globalen Norden verursacht wird.

Der Verlust von Lebensgrundlagen (livelihoods) von Produzent*innen in kleinbäuerlicher Landwirtschaft kann in Handelsabkommen begründet liegen, durch die lokale Produkte nicht mehr konkurrenzfähig ge-genüber Billigimporten aus Europa oder anderen Weltregionen sind. Rüstungsexporte und geostrategi-sche Interessen, die in Interventionen und Stellvertreterkriegen zum Ausdruck kommen, befeuern Kriege und zerstörerische Gewalt. Die Wirkungsketten, die schließlich Zwangsmigration bzw. Flucht in Gang setzen, sind lang und entstehen nicht selten entlang globaler Wertschöpfungsketten.10 Sie lassen sich häufig nur als Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungen, struktureller Zusammenhänge und akut einsetzender Ereignisse verstehen – so dass von einem „komplexen Ursachenbündel“ (Ziai 2016a: 16) ge-sprochen werden kann. Dem Migrationsforscher Fabian Georgi zufolge besteht die analytische Heraus-forderung darin, „die Krisenprozesse der gegenwärtigen Konstellation, u.a. chronische Überakkumula-tion von Kapital, Ernährungskrisen, Klimawandel, Bürgerkriege und Prozesse des Staatszerfalls, in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Potenzierung zu verstehen als widersprüchliche Ausdrucksweisen einer globalen Formation“ (Georgi 2016: 194). Wichtig ist dabei stets, keinen Strukturzwang zu suggerieren, sondern der Handlungsfähigkeit von Migrant*innen und Geflüchteten Rechnung zu tragen, die je nach Fluchtgründen stärker oder geringer begrenzt sein kann.

Komplexität von Fluchtgründen

„[…] weil doch die laufende ‚wilde’ Globalisierung tendenziell die Zonen der Pauperisierung wiederum in Zonen des Krieges transformiert und auch umgekehrt“ (Balibar 2016: 137).

Die offiziellen Zahlen des UNHCR zu globalen Fluchtbewegungen verzeichnen seit Jahren neue Höchst-stände, während die Bereitschaft zur Aufnahme von Schutzsuchenden gesunken ist (Angenendt et al.

2019). Ende 2019 lag die Zahl derjenigen Menschen, die weltweit auf der Flucht waren, bei 79,5 Millionen (UNHCR 2020a). Erfasst werden in den Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks jedoch nur diejenigen Menschen, die vor Krieg, bewaffneten Konflikten und Verfolgung aus ihrem Land fliehen. Was häufig nicht beachtet wird: Auch hier liegen die Gründe der Flucht nicht nur in unmittelbarer physischer Gewalt und Verfolgung begründet. Fluchtgründe entstehen auch dann, wenn das komplexe Zusammenwirken von Fluchtursachen vielfältige soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Konflikte hervorbringt, deren Auswirkungen schützende Strukturen, Netzwerke und Lebensgrundlagen zerstören (Krause 2016).

Etliche weitere Gründe, aus denen sich Menschen gezwungen sehen, ihr Lebensumfeld zu verlassen, tau-chen in den Statistiken kaum auf – dazu gehören zerstörerische Umweltveränderungen oder armutsbe-dingte Perspektivlosigkeit. Auch auf der Flucht und in Transitländern sind Geflüchtete Gewalt ausgesetzt – neue Fluchtgründe können damit auf den Fluchtrouten, in Flüchtlingslagern, durch Grenzbehörden oder

10 Mit „Wertschöpfungskette“ ist die „gesamte Produktionskette von der Rohstoffversorgung über die Entwicklung, Herstellung, Verarbeitung und Vermarktung eines Produktes gemeint“ (Ludwig/Simon 2019: 198).

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willkürliche Inhaftierung dazu kommen. So beschrieb die Publizistin Charlotte Wiedemann mit Blick auf die aus Libyen auf Lampedusa ankommenden Geflüchteten: „Sie werden eigentlich zu Flüchtlingen ge-macht durch die Art und Weise des Reisens, zu der wir sie zwingen“ (Deutschlandfunk v. 2. August 2015).

Was als Fluchtmigration aus ökonomischen Motiven begonnen hat, kann sich im weiteren Verlauf in in-terne Vertreibung oder Flucht wandeln und umgekehrt (Nyberg Sørensen et al. 2003: 14). So kann man von einem Gewaltkontinuum in Konflikt-, Flucht- und Flüchtlingssituationen sprechen (Krause 2018: 16).

Nach wie vor beziehen sich einige wissenschaftliche Studien auf mehr oder weniger vereinfachende Push-Pull-Modelle, in denen Migrant*innen und Geflüchtete als passiv von Anziehungs- und Abstoßungs-kräften bewegt verstanden werden. Diese Modelle wurden jedoch immer wieder kritisiert (De Haas 2011:

8f.; De Haas 2020: 22; Etzold 2019: 11f.; Glick-Schiller 2020: 32ff.; Bojadžijev/Karakayalı 2007: 204f.;

Schwenken 2018: 73ff.), da sie verkürzt funktionalistisch argumentieren und die Realität der Eigensinnig-keit von Migrationsbewegungen sowie die HandlungsfähigEigensinnig-keit von Migrant*innen nicht berücksichtigen.

Außerdem müsse stets das komplexe Zusammenwirken mehrerer Faktoren analysiert werden. So wird die isolierte Untersuchung bestimmter Fluchtgründe problematisiert und stattdessen ihre Verwobenheit betont sowie die Dynamiken, in denen sich unterschiedliche Faktoren gegenseitig verstärken (De Haas 2011: 10; Schraven et al. 2016: 2; Nyberg Sørensen et al. 2002; Scheffran 2017: 9). Aussagen zu trenn-scharfen Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Fluchtgründen ließen sich daher nicht treffen.

Anstatt von einzelnen und isoliert betrachteten Fluchtgründen auszugehen, könne ein „Problemgeflecht“

(Scheffran 2017: 8) unterstellt werden, in dem Fluchtmigration als eine Strategie des Entkommens aus widrigen Bedingungen darstellt. Beispielsweise die Effekte von Umweltveränderungen machten deutlich, dass es unmöglich sei, einen kausalen Zusammenhang zwischen nur einem Faktor und Fluchtmigration zu behaupten (Carling/Collins 2018: 920). Im Hinblick auf Fluchtmigration infolge der Klimakatastrophe und Umweltschäden müssten diese Faktoren stets im Zusammenhang mit anderen Gründen wie wirt-schaftlichen Möglichkeiten, Lebensbedingungen oder dem politischen Kontext verstanden werden (siehe III.2.1).

Um dieser komplexen Dynamik rund um Migrationsbewegungen stärker Rechnung zu tragen, sei der Begriff der root causes in englischsprachigen wissenschaftlichen Publikationen – anders als im politischen Diskurs – in den letzten Jahren eher von dem der „drivers“ zurückgedrängt worden, so Carling und Collins (2018: 920).11 Damit wird jedoch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen unmittelbaren Fluchtgrün-den und deren zugrundeliegenFluchtgrün-den Ursachen vermieFluchtgrün-den, die für unsere Studie zentral ist.

Kategorien und Rechtsansprüche

Die Verwobenheit und Komplexität von Fluchtgründen und -ursachen verweisen auf die begrenzte empi-rische Aussagekraft bestehender Kategorien (Migrant*in, Geflüchtete, Zwangsmigrant*in, Flüchtling etc.) sowie auf die Unmöglichkeit, eine abschließende Aufzählung klar unterscheidbarer Gründe und Ur-sachen vorzunehmen. Daher sollen in der vorliegenden Studie anhand konkreter Beispiele dieser Kom-plexität Rechnung getragen und Kategorien, die Migrant*innen in klar unterscheidbare Gruppen unter-teilen, hinterfragt werden. Die Schwierigkeit einer angemessenen Bezeichnung drückt sich in

11 Als „drivers“ werden allgemein externe materielle Kräfte verstanden, die Mobilität beeinflussen (Van Hear et al. 2017: 2).

19 denen Begriffen aus, die in der Forschung und im öffentlichen Diskurs Verwendung finden: Gewaltmigra-tion (Oltmer 2020), ZwangsmigraGewaltmigra-tion (Scherr/Scherschel 2019; medico internaGewaltmigra-tional/Pro Asyl 2008), Fluchtmigration, survival migration (Betts 2013), complex mixed migration (u.a. Williams 2015; Van Hear 2014), distress migration (Deotti/Estruch 2016) etc. Vor dem Hintergrund der komplexen Verwobenheit verschiedener Faktoren, sei eine pauschale Unterscheidung zwischen „Flüchtlingen“ und Wirtschaftsmig-rant*innen nicht möglich, betonen Migrationswissenschaftler*innen (Crawley/Skleparis 2018; Nyberg Sørensen et al. 2003: 14).

Dennoch wird im politischen Diskurs und in der öffentlichen Debatte an der Unterscheidung zwischen

„ökonomischen“ Beweggründen (Migration) und „politischen“ bzw. rechtlich anerkannten Motiven wie Krieg und Verfolgung (Flucht) festgehalten (Carling/Talleraas 2016: 11), was nicht zuletzt mit den damit verbundenen Rechtsansprüchen zusammenhängt. Fluchtbewegungen, die keinen direkten Zusammen-hang mit bewaffneten Konflikten und Verfolgung aufweisen, finden nicht nur keinen Eingang in die offi-ziellen Statistiken des UN-Flüchtlingshochkommissariats. Sie werden auch im globalen Flüchtlings-schutzregime nicht abgebildet. Es komme zu einem immer deutlicheren Auseinanderfallen zwischen dem rechtlichen und normativen Rahmen des Flüchtlingsschutzes – insbesondere der Genfer Flüchtlings-konvention (GFK) von 1951 und des Protokolls von 196712 – und aktuellen Formen erzwungener Migration und Vertreibungen, so Zetter (2015). Als Flüchtling gilt der GFK zufolge nur, wer sich außerhalb des Lan-des seiner/ihrer Staatsangehörigkeit befindet (oder als Staatenloser außerhalb Lan-des LanLan-des seines ge-wöhnlichen Aufenthaltes) und die oder der aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund von ‚Rasse’, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Schutz sucht. Die Forderung nach einer Weiterentwicklung der GFK, sodass die Konvention durch die Er-fassung neuer Fluchtgründe als völkerrechtliches Instrument ergänzt wird, bleibt daher virulent. Weiter-führende Vorschläge umfassen zusätzliche internationale Schutzregime und -konventionen. Eine Diskus-sion, die insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung von Klima- und Umweltschäden als Fluchtgründe und einen Schutzanspruch für sogenannte „Klimaflüchtlinge“ rege geführt wird (siehe III.2.1).

Während Migration aus wirtschaftlichen Gründen mit „Freiwilligkeit“ in Verbindung gebracht wird, er-folge die Mobilität von Flüchtlingen aus Zwang und somit „unfreiwillig“, so die Annahme (McKeon 2018:

2). Dies, obwohl in der Migrationsforschung immer wieder betont wurde, dass die Grenze zwischen „frei-williger“ und „unfrei„frei-williger“ Migration kaum zu ziehen sei (siehe u.a. Carling 2002: 8), sondern Flucht-gründe bestenfalls entlang einer Achse von “mehr bzw. weniger Optionen und Wahl” erfasst werden könnten (Van Hear 1998 in: Schwenken 2018: 43). Mit der Unterscheidung würden „kumulative Effekte“

langfristiger struktureller Gewalt unsichtbar gemacht, verglichen mit Aufsehen erregenden Schlagzeilen bei Katastrophen (McKeon 2018: 2). Die Migrationsforscherin Raia Apostolova betont: Die Unterschei-dung zwischen Wirtschaftsmigrant*innen und politischen Flüchtlingen zurückzuweisen, ziele auch darauf die doppelte – politische und ökonomische – Bedeutung von Migration hervorzuheben: „Flüchtlinge sind nicht nur so gut wie immer Opfer von schwachen Volkswirtschaften in einem ungleichen globalen Sys-tem, sondern ‚ökonomische Migration‘ ist selber, als Folge des globalen Kapitalismus, ein inhärent politi-sches Problem, das als solches anerkannt werden muss“ (Apostolova 2015, eigene Übersetzung).

12 Die GFK und das Protokoll von 1967 sind internationale Flüchtlingsschutz-Abkommen, die von den meisten Staaten der Welt – insgesamt 145 – unterzeichnet wurden. Mit dem Protokoll von 1967 wurde der Wirkungsbereich der Genfer Flüchtlingskonven-tion, die zunächst darauf ausgelegt war, Schutzbestimmungen für europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg bereit-zustellen, sowohl zeitlich als auch geographisch ausgeweitet.

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Da im Folgenden das Hauptaugenmerk auf den Gründen und Ursachen von Flucht und Migration liegt, sind die Rechtskategorien aus dem internationalen Flüchtlingsrecht sowie die asylrechtlichen Bestim-mungen für die vorliegende Studie nicht die entscheidenden Konzepte. Gleichwohl sind in den Auseinan-dersetzungen um Migration und Flucht das Flüchtlingsrecht und die Potenziale von Rechtskämpfen von zentraler Bedeutung. Unverzichtbare Errungenschaften des internationalen Flüchtlingsschutzes, die auf klar definierten Schutzansprüchen beruhen, gilt es insbesondere angesichts der erneuten Angriffe auf das Asylrecht in Europa mit aller Entschiedenheit zu verteidigen. Gleichzeitig sind Rechtskategorien jedoch selbst Ausdruck symbolischer Macht und bringen das erst hervor, was sie nur zu bezeichnen vorgeben (im Fall des Flüchtlingsrechts z.B. nicht schutzberechtigte Migrant*innen). Sie sind zudem stets gesellschaft-lich umkämpft und veränderbar. Die Auseinandersetzung um die Kategorien des Flüchtlingsschutzes wird in der vorliegenden Studie nur am Rande aufgegriffen und stattdessen ein breiterer soziologischer Begriff von Flucht verwendet, der verschiedene von Zwang geprägte Formen von Mobilität umfasst. Häufig wer-den wir die übergeordnete Bezeichnung der Fluchtmigration verwenwer-den, aber sowohl von Migrant*innen, Menschen auf der Flucht, als auch von Geflüchteten schreiben. Die Bewegungen der Fluchtmigration, die wir hier berücksichtigen, beschränken sich nicht auf internationale Wanderungsbewegungen. Da es im Kern um die Frage geht, welchen Kontexten Menschen entfliehen, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört wurden, sind regionale Vertreibungen oder Land-Stadt-Migration nicht weniger bedeutend.

Immobilisierung und Flucht

Gewalt, Elend und Ausbeutung führen nicht notwendig zu Flucht. Strategien des Entkommens aus le-bensgefährdenden Situationen setzen ein bestimmtes Maß an Ressourcen und Möglichkeiten voraus.

Und genauso wie exit kann auch voice, also der Kampf um Teilhabe und Gerechtigkeit vor Ort eine Option sein, existenziellen Notlagen zu begegnen (Hirschman 1970). Wenn die Bedrohungslage zu groß und die sozialen Verhältnisse zu bedrängend sind und zudem die Ressourcen dafür zur Verfügung stehen, kann Flucht eine Strategie des Entkommens sein.

Häufig ist jedoch auch diese Option versperrt: Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, wonach Leid unmittelbar zu Flucht führt, hat empirische Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass Ar-mut, gewaltsame Lebensumstände und ökologische Verwüstung zu Immobilisierung führen und nur un-ter bestimmten Bedingungen escape-Strategien eine Option für die Betroffenen darstellen (Carling 2002;

Black/Collyer 2014 u.a.). Der Begriff der trapped populations (festgesetzte/gefangene Bevölkerungsgrup-pen) wurde in diesem Zusammenhang in wissenschaftlichen Publikationen geprägt, nicht zuletzt durch den von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Foresight-Bericht zum Thema umweltbedingter Migration (Becker 2020: 166f.; Foresight 2011: 11; Klepp 2017: 4). An dieser Stelle lässt sich verdeutlichen, wie sich Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus verschränken (vgl. Buckel 2015). Neben den Naturver-hältnissen spielen das Nord-Süd-Verhältnis, Klasse und Geschlecht eine zentrale Rolle: Zygmunt Bauman bestimmte Ende der 1990er Jahre die Frage globaler Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Mobilität als einen bedeutenden Gradmesser globaler Ungleichheit (Bauman 1998: 2). Während es einer globalen Elite möglich sei, mobil zu sein und transnationale Beziehungen zu unterhalten, sei der Großteil der Weltbe-völkerung von einer gefahrenfreien Mobilität ausgeschlossen. Die Mobilität aus dem globalen Süden wird

21 migrantisiert und ist in sich wiederum differenziert: „Da sich die Kosten für die Migrationsroute in Rich-tung Norden vervielfältigen, wird es für die Ärmsten der Armen so gut wie unmöglich, diese Reise zu un-ternehmen. Die Klassenherkunft scheint demgemäß die Ausreise der unteren Schichten zu begrenzen“, so Marcelino und Farahi (2011: 890, eigene Übersetzung). Die Ärmsten der Armen sind weltweit wiede-rum vor allem Frauen und Kinder. Große Bevölkerungsgruppen sind gar nicht in der Lage zu fliehen, „zu ihnen gehören sogar die meisten Gruppen von Ureinwohnern außerhalb ‚Euramerikas‘“, nämlich „dieje-nigen, die seit mehr als 30.000 Jahren am selben Ort geblieben sind” (Spivak 2009: 20). Ihren Raum cha-rakterisiere gerade das Abgeschnittensein von jeglichen Möglichkeiten zur Mobilität – vertikal und hori-zontal (Castro Varela/Dhawan 2005: 130). Carling spricht in diesem Zusammenhang von „unfreiwilliger Immobilität“, welche neben den Flucht- und Migrationsbewegungen genauso charakteristisch für eine durch Globalisierung geprägten Zeit sei: „Das massive Ausmaß unfreiwilliger Immobilität steht nicht im Widerspruch zur Globalisierung. Stattdessen ist es eine Begleiterscheinung der Globalisierung, ein Symp-tom ihres widersprüchlichen Wesens“ (Carling 2002: 37, eigene Übersetzung). Er fordert daher, Migrati-onswünsche (aspirations) und die Möglichkeiten zu migrieren (abilities) in der Analyse zu unterscheiden.13

Es ist daher zentral, auch die Immobilisierung gefährdeter Gruppen zu berücksichtigen, denen es an Mitteln fehlt, um aufzubrechen, sich in Sicherheit zu bringen und neue Lebensperspektiven an anderen Orten zu entwickeln. Für das hier zugrunde gelegte Verständnis von Fluchtursachen sind damit auch Um-stände von Relevanz, unter denen Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, aber diesen aufgrund von Repression oder mangels Ressourcen nicht entfliehen können. Denn auch verhinderte Flucht verweist auf die Ursachen von Flucht und Vertreibung. In diesem Fall sind Migration und Immobilität zwei Seiten der gleichen Medaille (Carling 2002: 8).

13 Siehe auch die Unterscheidung von Hein de Haas zwischen aspirations und capabilities (De Haas 2011) oder die Konzepte von aspirations und desire bei Carling/Collins (2018: 915ff).

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II Fluchtursachen: Diskurs und Politiken

II.1 Geschichte der Debatte um Fluchtursachen: Konjunkturen und