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3.1 Einordnung in die Tourismusforschung

3.1.4 Fazit

Die Diskussion um die Disziplin „Tourismuswissenschaft“ richtet sich derzeit noch auf

„Herangehensweisen“, „Entwicklungszustände“, „Paradigmen“ sowie „Gliederungs-ansätze“, so dass man von einer eindeutigen Positionierung noch weit entfernt ist. Vor diesem Hintergrund kann für die vorliegende Arbeit festgehalten werden:

1) Sie verfolgt eine interdisziplinäre Herangehensweise;

2) Das Vorhaben versteht sich als Beitrag zur touristischen Grundlagenforschung;

3) Die Ergebnisse können im Kontext der „Nachhaltigkeit“ interpretiert werden;

4) Gegenstand der Untersuchung ist aus systemarer Sicht das „Subsystem Tourismussubjekt“;

Es erscheint als sinnvoll, die Tourismuswissenschaft losgelöst von den vorgestellten eher theoretischen und disziplinären Überlegungen gemäß dem Marktmodell in zwei Kernfelder zu unterteilen: 1) Angebotsanalyse und 2) Nachfrageanalyse.

In dem für diese Arbeit relevanten Feld der Nachfrageanalyse kann man zwei

„Blickwinkel“ – verstanden als wissenschaftstheoretische Gesellschaftsauffassungen – unterscheiden (vgl. FREYER 1990, s. Abb. 11):

Der individualistische Ansatz erklärt das Phänomen Tourismus aus der Blickrichtung des Einzelnen, des Individuums. Die gesellschaftlichen Abläufe ergeben sich aus der Summe der individuellen Handlungen und Beiträge zum Gesamtsystem. Hier wird auf Begriffe wie Bedürfnis und Motivation eingegangen.

Der gesellschaftlich-historische Ansatz geht im Prinzip genau umgekehrt vor:

Individuelle Handlungen werden aus der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung erklärt. Das Individuum ist quasi „Produkt“ gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen. Entsprechend werden gesellschaftliche Produktions-bedingungen, Gruppen- und Klassengegensätze usw. zur Erklärung des Phänomens Tourismus fokussiert.

Einer tatsächlichen Erklärung der touristischen Nachfrage kommen dabei individualistisch-orientierte Ansätze am nächsten (vgl. FREYER 1990), was auch dem Blickwinkel dieser Arbeit entspricht.

Im individualistischen Ansatz finden sich drei große Ausrichtungen (vgl. FREYER

2004):

1) Die empirisch-induktive Ausrichtung, die geprägt ist durch einen deskriptiven Situationsaufbau sowie eher naiven kausalen Rückschlüssen auf die Verhaltensursachen. In diesem Bereich ist die (kommerzielle) Markt- und Kaufverhaltensforschung angesiedelt.

2) Die theoretisch-deduktive Ausrichtung ist vor allem Gegenstand der mikroökonomischen Haushaltstheorie. Hier stehen rationale und bewusste ökonomische Wahlakte des „homo oeconomicus“ im Mittelpunkt der Betrachtung.

3) Die verhaltenswissenschaftliche Ausrichtung, die gekennzeichnet ist durch interdisziplinäre Erklärungsansätze. Ziel ist eine theoretisch-fundierte Erklärung des menschlichen Verhaltens im Sinne von Ursache-Wirkungsketten. Typisch sind eine eigenständige Modellentwicklung und ein hypothesengeleitetes Vorgehen.

Entsprechend der Zielsetzung dieser Arbeit gehört sie zur verhaltenswissenschaftlichen Ausrichtung. Innerhalb dieser Ausrichtung können wiederum drei Modellarten unterschieden werden:

Abb. 11: Gesellschaftsauffassungen; verändert nach FREYER 1990

1) Black-Box-Modelle (S-R-Modelle des Behaviorismus), die allein von der Beobachtung der Stimuli (Reize) und den durch sie ausgelösten Reaktionen ausgehen.

Vorgänge innerhalb von Organismen/Individuen werden als Black-Box betrachtet, weil angenommen wird, dass Begriffe wie Bewusstsein, Antrieb, Erwartung, Intelligenz und auch Motivation nicht der Beobachtung zugänglich sind. Abbildung 12 verdeutlicht diesen Zusammenhang im touristischen Kontext.

2) Struktur-Ansätze (S-O-R-Modelle des Neobehaviorismus), die in die traditionellen Black-Box-Modelle zur Erklärung der Vorgänge innerhalb von Organismen/Individuen Variablen in Form von hypothetischen Konstrukten wie Wahrnehmung, Emotion, Einstellung und eben auch Motivation einfügen. Im Gegensatz zu den allein von der Beobachtung der Stimuli (Reizen) und den durch sie ausgelösten Reaktionen ausgehenden S-R-Modellen, stützen sich die S-O-R-Modelle auf zwei Klassen von Wirkvariablen: die beobachtbaren Stimuli und die nicht-beobachtbaren Variablen (hypothetische Konstrukte).39 Die beobachtbaren Reaktionen werden nicht direkt durch das Eintreten eines beobachtbaren Stimulus, sondern durch den zwischen Stimulus und Reaktion auftretenden psychischen Verarbeitungsprozess erklärt (s. Abb. 13). Die entsprechenden Variablen werden dabei mit Hilfe von Indikatoren gemessen.

Weiterhin unterscheidet man bei den Struktur-Ansätzen zwischen Totalmodellen und Partialmodellen. Totalmodelle bemühen sich um eine möglichst umfassende Erklärung

39 Hier ist auch der Grund zu sehen, warum die Struktur-Modelle nicht mit den empirisch-induktiven Rückschlüssen gleichgesetzt werden können (theoretische Herleitung, nicht nur Zustandserfassung, sondern Analyse, Bildung von Konstrukten usw.).

Abb. 12: S-R-Modell; verändert nach FREYER 1997

des ablaufenden Prozesses, Partialmodelle konzentrieren sich hingegen auf einen Erklärungsausschnitt.

3) Reiseentscheidungsmodelle, die die Prozesshaftigkeit der Reiseentscheidung fokussieren. Ziel der Reiseentscheidungsmodelle ist es, Kriterien zu identifizieren, nach denen Personen ihre Reiseentscheidung treffen.40 In aller Regel geht man von einer ganzen Reihe von Teilentscheidungen (z. B. Reiseziel, Verkehrsmittel, Unterkunft und Organisationsform) und einzelnen Entscheidungspfaden aus. Im Gegensatz zu den S-R- und S-O-R-Modellen ist die zentrale Frage nicht die nach dem „Warum“ einer Urlaubsreise (primäre Entscheidung), sondern die nach dem „Wie“, also den Einflussfaktoren auf die Realisierung (sekundäre Entscheidungen). Abbildung 14 zeigt ein typisches Beispiel eines Reiseentscheidungsmodells. In jüngster Zeit gewinnt der Aspekt der Informationsgewinnung große Bedeutung (Rolle des Internets bei Reiseauswahl und -buchung). Die wenigen vorliegenden empirischen Überprüfungen

40 Hinsichtlich der Reiseentscheidungsmodelle sei angemerkt, dass eine ganze Reihe entwickelt worden sind (z. B. PIVONAS 1973b, 1980, PLOG 1973, 1990, HARTMANN 1978, UM/CROMPTON 1990, SMITH

1990, BROWN 1992, WITT/WRIGHT 1992, OPPERMANN 1999). Gleichwohl konnten diese empirisch bisher nicht ausreichend bestätigt werden (vgl. WITT/WRIGHT 1992, BRAUN 1993c). Eine gute Übersicht liefern JOHNSON/ASHWORTH (1990), vgl. auch LONDON/CRANDALL/SEALS (1977), TINSLEY/KASS (1979), GUNTER/GUNTER (1980), ISO-AHOLA/ALLEN (1982), GNOTH (1997), UYSAL (1998), SIRGY/CHENTING

Abb. 13: S-O-R-Modell; ergänzt nach BÄNSCH 1998

verdeutlichen einen Umstand: Die erste Entscheidung, die über die Urlaubsreise getroffen wird, ist in der Regel nicht etwa die Auswahl des Reiseziels o. ä. Vielmehr ergibt sich diese aus den individuellen Ansprüchen, die an den Urlaub gestellt werden.

Abstrahiert man diese Erkenntnis, so kommt man zu folgendem Fazit: Die Urlaubsreise-entscheidungsforschung liefert Einblicke in den Abwägungsprozess, der bei der Realisierung des Urlaubsreisebedürfnisses abläuft. Warum es aber überhaupt zur Initiierung einer „primären Entscheidung“ und dem Ablauf eines Entscheidungspfades kommt, bleibt diesen Untersuchungen verschlossen.

An dieser Stelle sollen die einzelnen Herangehensweisen der touristischen Nachfrageanalyse nicht im Einzelnen diskutiert werden. Hierzu sei auf FREYER (1997), MUNDT (2001) und STEINBACH (2003) sowie die dort zitierte Literatur verwiesen.41 Für diesen Kontext ist festzuhalten, dass eine psychogeographische Vorgehensweise, wie sie im Rahmen dieser Arbeit vorgesehen ist, in den Bereich der Struktur-Ansätze der Nachfrageanalyse fällt.42 Durch den Fokus auf die Motivation als aktivierende

(2000), CHEN (2003) und MATZLER/SILLER (2003).

41 Für eine vertiefte Auseinandersetzung seien darüber hinaus BOURDIEU (1982, 1983), GOODALL (1988, 1991), HAHN/KAGELMANN (1993), KONIETZKA (1995) und BECKER (1998) empfohlen.

42 Die Arbeit setzt damit den Trend fort, wie in FREYER (1990, S. 62) beschreibt: „Am weitesten setzen Abb. 14: Reiseentscheidungsmodell; verändert nach MUNDT 2001

Komponente handelt es sich bei dem zu entwickelnden Modell (s. Kap. 5) um ein Partialmodell.