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FAMILIENROMANE ALS MITTEL DER LITERARISCHEN VERARBEITUNG

Im Dokument Universität Regensburg (Seite 185-200)

Angesichts der Kritik, die Walser von verschiedensten Seiten entgegengebracht wurde, wenn er sich zur deutschen Geschichte äußerte, unabhängig davon, ob dies in Form eines Romans, einer Rede oder im Rahmen eines Interviews geschah, soll im folgenden Abschnitt darauf eingegangen werden, wie die Öffentlichkeit auf andere Erscheinungen der jüngeren deutschen Literatur, welche sich ebenfalls mit der Epoche des Kriegsendes oder der Nachkriegszeit befasst, reagierte. Dabei soll zunächst die Gattung des Familienromans kurz vorgestellt werden, um dann auf einige Vertreter dieser Gattung und deren Rezeption exemplarisch einzugehen. Der Familienroman als Subgattung der deutschen Erinnerungsliteratur entstand in den Neunzigern und lebt bis heute fort. Nach Aleida Assmann „geht es [beim Familienroman, Anm. des Verfassers] um die Integration des eigenen Ich in einen Familienzusammenhang, der andere Familienmitglieder und Generationen mit einschließt.“555 Assmann führt weiterhin an, dass der Familienroman stark „von Recherchen angetrieben und mit Materialien des Familienarchivs und anderen Dokumenten durchsetzt“

556 ist. Damit wird ihrer Meinung nach der Familienroman zu „einer hybriden Gattung, die die klaren Grenzen von Fiktion und Dokumentation unterläuft“ 557. Zu beachten ist dabei, dass in der Erinnerungsliteratur grundsätzlich eine Diskrepanz zwischen offiziellem Gedächtnis und privater Erinnerung auftritt, was die Rezeption eines Werks in oft nicht unerheblicher Weise beeinflusst. Unter diesem Aspekt ist auch die Diskussion um Walsers Roman Ein springender Brunnen anders zu bewerten.

Vergleichbare Erfahrungen wie Martin Walser musste auch der Nobelpreisträger Günter Grass nach Veröffentlichung seiner Novelle „Im Krebsgang“ machen:

„Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorenen Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ...

Flucht ... Der weiße Tod ...

Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos ...“ 558

555 Aleida Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur (Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band. 117), Wien 2006, S.17-58, hier S.27.

556 Aleida Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur (Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band. 117), Wien 2006, S.17-58, hier S.27.

557 Aleida Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur (Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band. 117), Wien 2006, S.17-58, hier S.27.

558 Günter Grass, „Im Krebsgang“ - eine Novelle, Göttingen 2002, S.99.

Der Historiker Norbert Frei wirft Günter Grass, indem er sich auf diese Stelle rekurriert, vor, sich mit diesem Roman

„in der Gestalt des ‚Alten’ sich selbst als Überwinder eines ungerechtfertigten ,Tabus’ zu feiern – nämlich der angeblichen Vernachlässigung des Leids der Vertriebenen. Fast musste man den Eindruck bekommen, als habe der Nobelpreisträger seine Blechtrommel beiseite gestellt und eifere der frivolen vergangenheitspolitischen Egozentrik seines Altersgenossen Walser nach.“559

Diese Kritik an Günter Grass und dessen Roman geht keineswegs auf die verschiedenen Nuancen und Schattierungen ein, die der Schriftsteller im Krebsgang bei der Darstellung des Unterganges der „Gustloff“ dem Rezipienten an differenzierten Zugängen vor Augen führt, und hält deswegen einer objektiven Beurteilung nicht stand. An einer Stelle nimmt Grass sogar die möglichen Einwände bezüglich seines Werkes vorweg, indem er seinen Erzähler über die Vorhaltungen referieren lässt, die bei der Beschäftigung mit dieser Thematik ans Tageslicht treten könnten. Er lässt ihn in Form der erlebten Rede über die Gründe einer Opferstilisierung der Vertriebenen nachdenken, und sieht in der Etablierung eines Feindbildes den Schlüssel zu dieser Herangehensweise. Dabei macht er die starke Gewichtung dieser Position deutlich.

„Warum log Konny? Warum beschwindelte der Junge sich und andere? Warum wollte er, der sonst so penible Detailkrämer, dem das Schiff seit KdF-Zeiten bis in den Wellentunnel und hintersten Winkel der Bordwäscherei begehbar war, nicht zugeben, daß weder ein Rotkreuztransporter noch ein ausschließlich mit Flüchtlingen beladener Großfrachter am Kai lag, sondern ein der Kriegsmarine unterstelltes, bewaffnetes Passagierschiff, in das unterschiedlichste Fracht gepfercht wurde? Warum leugnete er, was seit Jahren gedruckt vorlag und selbst von den Ewiggestrigen kaum mehr bestritten wurde? Wollte er ein Kriegsverbrechen konstruieren und mit der geschönten Version des tatsächlichen Geschehens den Glatzen in Deutschland und sonstwo imponieren? War sein Bedürfnis nach einer sauberen Opferbilanz so dringlich, daß auf seiner Website nicht einmal des zivilen Kapitäns Petersen militärischer Gegenspieler, Korvettenkapitän Zahn, samt seinem Schäferhund auftreten durfte?

Kann nur ahnen, was Konny zum Schummeln bewogen haben mag: der Wunsch nach einem ungetrübten Feindbild.“560

An anderer Stelle heißt es:

„Nur als er sich auf seiner Website generell über Vergewaltigungen verbreitete, schwärmte er regelrecht von ‚blutjungen Maiden, deren Unschuld auf dem Schiff vorm Zugriff der russischen Bestie geschützt werden sollte ...’

Als mir dieser Blödsinn geboten wurde, bin ich wieder einmal, ohne mich allerdings als Vater kenntlich zu machen, aktiv geworden. Ließ, als sein Chatroom offen war, meinen Einwurf los: ‚Deine hilfsbedürftigen Maiden steckten in Uniformen, in hübschen sogar. Trugen knielang graublaue Röcke und knapp sitzende Jacken. Leicht schräg saßen Feldmützen mit Hoheitsadler samt Hakenkreuz auf ihren Frisuren. Die waren alle, ob noch unschuldig oder nicht, militärisch gedrillt und auf ihren Führer vereidigt ...’“561

559 Norbert Frei, Gefühlte Geschichte – die Erinnerungsschlacht um den 60. Jahrestag des Kriegsendes 1945 hat begonnen. Deutschland steht vor einer Wende im Umgang mit seiner Vergangenheit, in : Die Zeit, 21.10.2004, S.3.

560 Günter Grass „ Im Krebsgang“ - eine Novelle, Göttingen 2002, S.103f.

561 Günter Grass „ Im Krebsgang“ - eine Novelle, Göttingen 2002, S.105.

Günter Grass lässt somit keinen Zweifel daran, dass die „Gustloff“ neben ihrem Status als Passagier- und Flüchtlingsschiff im gleichen Atemzug auch als ein Schiff angesehen werden muss, welches der Kriegsmarine unterstellt war und somit zur Etablierung eines einseitigen Geschichtsbildes, welches die Leiden der Vertriebenen in den Vordergrund stellt, nicht dienstbar gemacht werden kann. Der Untergang des Dampfers Wilhelm Gustloff kann daher nicht als Symbol für das Leiden der deutschen Bevölkerung im Krieg herangezogen, sondern nur als Beispiel für einen differenzierten Umgang mit der deutschen Geschichte angesehen werden. So wird einerseits den Verbrechen der Deutschen die angemessene Bedeutung eingeräumt, andererseits aber auch ihren Leiden Gehör geschenkt, wobei die Gewichtung der beiden Themenkreise sehr genau betrachtet werden muss, um sich nicht dem Vorwurf einer Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen auszusetzen. Einem Vergleich der beiden gegensätzlichen Strömungen soll dabei nicht das Wort geredet werden, eine integrative Herangehensweise, welche beide Extreme in einen harmonischen Einklang zu bringen vermag, wäre dagegen wünschenswert. So entbehrt auch die Feststellung Walsers im Gespräch mit Ignatz Bubis „Die Mehrheit der Deutschen - natürlich würde man kritisch sagen, das sei die schweigende Mehrheit - hat die gemeinsame Sprache noch nicht gefunden.“ nicht ihrer Berechtigung. 562

Damit ist aber auch der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass eine solche Sprache im Laufe der weiteren Entwicklung noch gefunden werden könne, da mit der Zeit andere Schwerpunkte ins Blickfeld geraten, wie Martin Walsers Erfahrungen bestätigen: „Als ich ein Kind war, konservierten in Deutschland die Kriegervereine den Schmerz der Niederlage und die Wut über Versailles. Nach 1945 dann sofort das Gegenteil: Frankreich und Amerika wurden imitiert.“ 563

Unmittelbar nach dem Kriege war tatsächlich zunächst eine Aversion gegenüber der Beschäftigung mit den Verbrechen, die im Namen der Deutschen begangen wurden, festzustellen. In einer zweiten Phase dann wurden die Gräueltaten an den Juden in den Vordergrund gerückt, weil man Abbitte dafür leisten wollte, was auch notwendig war, um Deutschland wieder in den Kreis der internationalen Gemeinschaft einzugliedern. Heute jedoch haben sich angesichts der zeitlichen Distanz zu den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges die Koordinaten der Erinnerungskultur verschoben. Die Deutschen sehen sich

562 Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung - Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettende Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur, in:

FAZ, 14.12.1998, wiederabgedruckt in: Frank Schirrmacher (Hg), Die Walser-Bubis Debatte - Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999, S.438-465, hier: S.461.

563 Martin Walser, Auschwitz und kein Ende, in: Martin Walser, Deutsche Sorgen, Frankfurt am Main 1997, S.228-234, hier: S.228.

nicht mehr ausschließlich als "Tätervolk", sondern sie wollen in zunehmendem Maße auch als Gemeinschaft angesehen werden, die nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, am Krieg und seinen Folgen zu leiden hatte.

Dies mag einer der Gründe sein, warum nicht nur Grass` Krebsgang so großen Anklang fand, sondern auch das Buch Der Brand des Historikers Jörg Friedrich, welches sogar als Taschenbuch neu aufgelegt wurde.564 In seiner Darstellung der Bombardements deutscher Städte durch die Alliierten setzt er auf eine Beschreibung, welche die emotionale Kriegsführung neben der Faktenbeschreibung in den Vordergrund stellt.

„Die Amerikaner, die noch zwei Jahre zuvor ihre ‚Präzisionsangriffe’ nicht mit der britischen Brandstiftung verwechselt wissen wollten, hatten nun ein Heer im Feld. Seine Schonung ist eine Ethik für sich. Sie gebot den Luftstreitkräften, im Hinterland einer gestürmten Landfront den zivilen Widerstandswillen zu brechen. Das spart Blut, dies ist human, die Doktrin datiert zurück auf Billy Mitchell, den Schöpfer der US-Luftwaffe. General Spaatz hat daraus die Idee des Tieffliegerangriffs entwickelt. Die Zivilbevölkerung wird sich ihrer Lage schneller bewußt, wenn Jagdbomber beliebige Fußgänger, Radfahrer, Bahnreisende, Bauern auf dem Acker unter MG-Beschuß nehmen. Diese als

‚strafing’ [...] geübte Praxis [...]wurde[...]zum ständigen Brauch des späteren Luftkriegs.“565

Dieser Auszug aus Der Brand veranschaulicht, auf welche Weise der Historiker die Strategie der amerikanischen Streitkräfte schildert, wobei er seine eigene Bewertung in ironischer Form mit einfließen lässt.

Nach Ansicht der Schriftstellerin Tanja Dückers wollen sich die Deutschen mit der Fokussierung auf ihre Kriegsleiden von ihrer „schäbigen Vergangenheit“ befreien.

„Dass im Moment in Deutschland solche Bücher publiziert werden, überrascht mich nicht. Deutschland liegt nach der Wende nicht mehr am Rande von Westeuropa, sondern in der Mitte, und es möchte sich von seiner Vergangenheit befreien. So entdeckt es das eigene Volk als leidendes Opfer. Das scheint mir dem Wunsch zu entspringen, sich der schäbigen Vergangenheit zu entledigen. Ich finde das bedenklich.“566

Mit dem Ausdruck „solche Bücher“ meint Dückers sicherlich das Genre des Familienromans, ihre Meinung aber, diese Erscheinungen entsprängen dem Wunsch, „sich der schäbigen Vergangenheit zu entledigen“, ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, doch muss an dieser Stelle genauer differenziert werden. Im Familienroman geht es nicht um eine Leugnung oder Abschwächung der Auswüchse eines Verbrechensregimes, sondern eher um den

564 Jörg Friedrich, Der Brand – Deutschland im Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2004. „Aber auch Roman- und Sachbuchautoren behandeln deutsche Geschichte und Identität nun oft frei vom Ruch ewiger nationaler Verdammnis: Bombenopfer, Kriegstote und Vertriebene sind mehr als die gerechte Strafe für Auschwitz, so heißt es nun, die Tragödien dieser Menschen bilden auch deutsche (Nach-)Kriegsgeschichte.“, Christoph Dallach (u.a.), Patriotische Bauchschmerzen - Die international abgehängten Deutschen mühen sich um eine

„normalisierte“ nationale Identität. Doch der Erfolg von Malern, Autoren und Popmusikern mit heimatstolzen Themen, das neue Interesse für die Täter-Generation und der Jubel um den Kinofilm „Der Untergang“ wecken auch Argwohn, in: Der Spiegel 49 (2004), 29.11.2004, S.184-188, hier: S.184f.

565 Jörg Friedrich, Der Brand – Deutschland im Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2004, S.149.

566

Der nüchterne Blick der Enkel – Wie begegnen junge Autoren der Kriegsgeneration? - Ein Gespräch mit Tanja Dückers, in: DIE ZEIT, 30.04.2003, S.42, Gesprächspartnerin von Tanja Dückers war Rebecca Partouche.

Versuch, auch eine andere, persönlichere Darstellung der Geschehnisse darzubieten, um damit einer gerechteren Betrachtungsweise Vorschub zu leisten. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes können in keiner Weise relativiert werden, man kann sich ihrer auch nicht „entledigen“. Andererseits dürfen auch die unter dem Deckmantel der

„Befreiung“ von den Alliierten begangenen Untaten nicht in Vergessenheit geraten.

Christoph Klessmann, geht in seiner Rezension des Buches Tag der Befreiung? - Das Kriegsende in Ostdeutschland von Hubertus Knabe in der Zeit auch auf die erwähnten Veröffentlichungen von Friedrich und Grass ein, da sich Knabes Werk über die Vertreibung der Deutschen im Osten nahtlos in die von diesen Büchern geschaffene Auseinandersetzung einfüge.

„Bei einem so sensiblen historischen Gegenstand auf einem politisch verminten Gelände hätte man sich mehr Behutsamkeit, einen kritischeren Umgang mit Zeitzeugenaussagen, genauere Belege (zum Beispiel für höchst umstrittene Opferzahlen) und insgesamt eine sorgfältigere Kontextualisierung der Befunde gewünscht, so schaurig diese auch sind und so wenig sich die wüsten Exzesse der Roten Armee rechtfertigen oder relativieren lassen. Das Buch fügt sich allzu einseitig ein in den ebenso schwierigen wie notwendigen Diskurs über die Deutschen als Opfer, der schon anlässlich der Debatte um Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang und Jörg Friedrichs Brand massiv und nicht ohne falsche Zungenschläge ins Zentrum des öffentlichen Interesses rückte“567.

Die Angehörigen der Kriegsgeneration wurden jahrzehntelang mit den Schuldzuweisungen ihrer Nachkommen konfrontiert, die ihnen vorwarfen, dem Unrecht der nationalsozialistischen Diktatur nicht entschieden genug entgegengetreten zu sein, da sie es aus ihrem Bewusstsein verdrängt, und stattdessen das Regime tatenlos oder gar willentlich unterstützt hätten. Diese Vorhaltung paraphrasiert Uwe Timm in seinem Buch Am Beispiel meines Bruders in folgender Textsequenz:

„ich, der einer Generation angehört, der man das Weinen verboten hatte – ein Junge weint nicht-, weine, als müßte ich all die unterdrückten Tränen nachweinen auch über das Nichtwissen, das Nichtwissenwollen, der Mutter, des Vaters, des Bruders, was sie hätten wissen können, wissen müssen, in der Bedeutung von wissen, nach der althochdeutschen Wurzel, wizzan: erblicken , sehen. Sie haben nicht gewußt, weil sie nicht sehen wollten, weil sie wegsahen. Daher bekommt das immer wieder Behauptete seine Berechtigung: Das haben wir nicht gewußt – man hatte es nicht sehen wollen, man hatte weggesehen.“568

Diese Passage ist eingebettet in einen in der Ich-Form gehaltenen reflexionshaften Diskurs über Uwe Timms eigene Empfindungen beim Lesen verschiedener Werke über die Kriegszeit.

Er exzerpiert dabei die für ihn zentralen Erkenntnisse, die er bei der Lektüre gewonnen hat.

Diese lassen ihn zu der Auffassung gelangen, die Deutschen hätten die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes nicht sehen wollen. Er belegt diesen Umstand mit der

567 Christoph Klessmann, Schrecken ohne Ende - Hubertus Knabes Buch über die Exzesse der Roten Armee 1945 fügt sich ein in die neue Sicht der Deutschen als Opfer, in: Die Zeit, 21.04.2005, S.55.

568 Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S.147.

etymologischen Herkunft des Wortes „wissen“, das sich vom althochdeutschen „wizzan“

ableiten lässt. Daher kommt er zu dem Ergebnis, die Deutschen hätten die Verbrechen der Nationalsozialisten aus ihrem Bewusstsein getilgt und nicht sehen wollen. Diese These legt er dem Leser mittels einer personalen Erzählstruktur vor. Uwe Timm vertritt an dieser Stelle unbequeme Wahrheiten über die Tätergeneration.

„Und darin, in dieser durch nichts als den Stammbaum verschworenen Gemeinschaft, die sich elitär über alle anderen Völker erhaben fühlte, war die SS, die Sturm - Staffel, das Vorbild, ihren Mitgliedern wurde die Blutgruppe in den linken Oberarm eintätowiert. Was einerseits einer eher nüchternen Überlegung entsprang, nämlich bei Verwundungen sogleich die Blutgruppe zu erfahren, war in seiner tieferen Bedeutung Ausdruck einer Blutsbrüderschaft, einer Ideologie, die ständig und immer wieder mit dem Blut argumentierte, dem Stammbaum, der Zucht. Und sie war die reziproke Handlung zu der, die den Häftlingen in dem KZ eine Nummer auf den Unterarm tätowierte, zur Kenntlichmachung der aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgestoßenen. Opfer und Täter waren gleichermaßen durch Nummern gezeichnet.“569

Für den Sozialpsychologen Harald Welzer ist diese Textsequenz ein prägnantes Beispiel für die sogenannte Wechselrahmung.570 Darunter versteht er das Einbauen von Versatzstücken aus dem Themenkreis des Zweiten Weltkrieges, besonders des Holocaust und der Konzentrationslager, in andere geschichtliche Gegebenheiten, beispielsweise, um das Leiden der Deutschen im und nach dem Kriege zu illustrieren. Dabei wird „ein Rahmenschema, das ursprünglich die Beschreibung eines ganz anderen Geschehens kontextualisiert, genommen und einem anderen Geschehen umschrieben“571 Obwohl die Passage auf den ersten Blick nicht Welzers eigener Definition von Wechselrahmung entspricht, handelt es sich bei den Tätowierungen der beiden von Timm geschilderten Fraktionen sicherlich um grundverschiedene und nicht miteinander vergleichbare Gruppierungen. Auch die Einsamkeit eines Frontsoldaten ist mit der eines KZ-Häftlings inkomparabel. So werbe Timm um Empathie für seinen Bruder, indem er Merkmale aus der Judenverfolgung entlehne. Jedoch löse Timm die aufgeworfenen Schuldfragen nicht auf und behielte die ganze Erzählung hindurch ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Bruder bei, was, so Welzer, zeige, dass er nicht versuche, die Täter zu entschulden. 572

Schon in den fünfziger Jahren bildete sich eine Tradition der Ianspruchnahme von narrativen und visuellen Merkmalen, die dem Themenkomplex der Konzentrations- und Vernichtungslager entstammten. Nach Erkenntnissen von Robert G. Moeller war kurz nach dem Kriege eine Bildsprache verbreitet, die deutsche Kriegsgefangene als kahlrasierte

569 Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S.61f.

570 Es gibt eine starke Tendenz, die Täter zu entschulden, Susie Reinhardt im Gespräch mit Harald Welzer, in:

Psychologie heute 10 (2004), S.29-31, hier: S.30.

571 Harald Welzer (u. a.), unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch, Opa war kein Nazi – Nationalismus im Holocaust und Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, S.90.

572 Es gibt eine starke Tendenz, die Täter zu entschulden, Susie Reinhardt im Gespräch mit Harald Welzer, in:

Psychologie heute 10 (2004), S.29-31, hier: S.30.

hohlwangige Häftlinge hinter Stacheldraht ikonifizierte.573 Anhand weiterer Beispiele belegt Welzer aber auch, dass es sich bei der Wechselrahmung nicht um freie Erfindungen handele, nur um den Deutschen die Leiden zuzusprechen, die diese den Juden zugefügt hätten, sondern durchaus ebenfalls ihre faktische Grundlage besäßen. Die Problematik bestehe daher hauptsächlich darin, dass die von ihm befragten Probanden offensichtlich filmische Dokumente über die Judenverfolgung unterbewusst mit ihren eigenen Erinnerungen verknüpft hatten, so dass deren Authentizität zumindest zweifelhaft erscheint.

Uwe Timm findet offene Worte für die Schwierigkeiten, die dramatischen Ereignisse des Krieges zu verarbeiten. Seine Gedanken und Reflexionen über die Tätergeneration, die er dem Leser in einem personalen Erzählstil darbietet, zeugen von den widerstreitenden Gefühlen, welche charakteristisch gewesen waren für die Menschen, die den Krieg unmittelbar am eigenen Leibe miterlebt hatten. Einerseits sahen sie die Notwendigkeit, der nachfolgenden Generation von den Geschehnissen des Krieges zu berichten, andererseits war das Bedürfnis groß, das eigene Wirken im nationalsozialistischen Regime zu verschweigen, zu bagatellisieren oder zu beschönigen.

„Die Vätergeneration, die Tätergeneration, lebt vom Erzählen oder vom Verschweigen. Nur diese zwei Möglichkeiten schien es zu geben, entweder ständig davon zu reden oder gar nicht. Je nachdem, wie bedrückend, wie verstörend die Erinnerung empfunden wurde. Die Frauen und Alten erzählen von den Bombennächten in der Heimat. Das Fürchterliche wurde damit in Details aufgelöst, wurde verständlich gemacht, domestiziert.“ 574

Um die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration geht es auch im Familienroman Meines Vaters Land - Geschichte einer deutschen Familie von Wibke Bruhns. In diesem Werk erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte. Dabei steht vor allem ihr Vater Hans Georg

Um die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration geht es auch im Familienroman Meines Vaters Land - Geschichte einer deutschen Familie von Wibke Bruhns. In diesem Werk erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte. Dabei steht vor allem ihr Vater Hans Georg

Im Dokument Universität Regensburg (Seite 185-200)