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2 Die Faktizität

An sich ist die Thematik der Faktizität nicht originell; es handelt sich dabei um eine Wiederaufnahme jener Geworfenheit, die Heidegger zu einer der wesentlichen Strukturen der „menschlichen-Realität“ [Dasein bei Heideg-ger] gemacht hatte und die seine ersten Übersetzer mit „déréliction“

[Verlassenheit] wiederzugeben versuchten. Im übrigen anerkennt Sartre implizit diese Schuld, wenn er die Faktizität in ganz ähnlichen Begriffen wie Heidegger definiert als die Weise, in der das Für-sich „ist, insofern es in die Welt geworfen ist, insofern es einer Situation ausgeliefert ist“

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(SN 173; EN 122). Um diesen Gedanken mit Sartre näherstehenden Kate-gorien einzukreisen, kann man sagen, dass, wenn das Bewusstsein im Für-sich der Dimension des Nichts entspricht (insofern es dem Bewusstsein als Freiheit wesentlich ist, das, was ist, zu nichten, um sich zu dem hin zu entwerfen, was es nicht ist), so entspricht die Faktizität der Dimension des Seins – denn tatsächlich (und da liegt seine Faktizität) ist das Für-sich, nicht nur im Sinne, dass es existiert, sondern im Sinne, dass es immer auch etwas ist, „eine Bedingung, die es nicht gewählt hat“ (Arbeiter, Franzose, im Jahre 1942 lebend, usw.).

Es dürfte einem kaum schwerfallen zu bemerken, dass sich bei einem solchen Thema auf Umwegen die Vorstellung der Kontingenz, die die Niederschrift von Der Ekel veranlasst hatte, wiederfindet. Denn stellt man dem Für-sich die Frage, warum es so und nicht anders sei, dann gibt es in ihm immer einen Aspekt dessen, was es ist, den es nicht gewählt hat,

„etwas, von dem es nicht der Grund ist“ (SN 173; EN 122), nämlich seine Anwesenheit in der Welt; und (was mehr ist): In einer Welt, die nicht irgendeine ist, in der es sich auch nicht auf eine indifferente Weise situiert, sondern in der es sich als eher so als anders bezeichnet findet. Da liegt nun genau die Faktizität, die all das an unserer Existenz umfasst, was faktisch und nicht durch Freiheit ist.

Ist die Thematik auch nicht originell, kommt Sartre zumindest das Ver-dienst zu, hervorgehoben zu haben, was die Erkenntnis dieser zweiten wesentlichen Bestimmung des Cogito impliziert: Gegen jede illusionistische Repräsentation eines Subjekts, die reine Selbst-Gründung wäre, gelte es nun auf der Tatsache zu beharren, „auf dem Grund jedes Cogitos“ liege

„dieses Ergreifen des Seins durch sich selbst als nicht sein eigener Grund seiend“ (SN 173; EN 122). Mit anderen Worten: Ich bin dieses Wesen, das nicht sein eigener Grund ist, das aber durch die Bewusstwerdung der Di-mension der Faktizität (oder Kontingenz) diese nichtet und das als Wesen dazu bestimmt ist, jenes zu werden, was es zu sein wählt (indem es sich von dieser Faktizität, mit der seinerseits das An-sich unlösbar zusammenge-schweisst ist, losreisst): „Das Für-sich ist das An-sich, das sich als An-sich verliert, um sich als Bewusstsein zu begründen“ (SN 177; EN 124).

Einmal mehr wird deutlich, wie beharrlich sich die ethische Frage am Horizont der Ontologie des Für-sich abzeichnet, was auch durch einen anderen kritischen Bezug auf Heidegger beleuchtet wird: „Diese erste In-tuition unserer eigenen Kontingenz bietet Heidegger als erste Motivation für den Übergang vom Uneigentlichen zum Eigentlichen an“ (SN 174;

EN 122). Diese Einschätzung nimmt sich bezüglich des Wortlauts von Sein und Zeit gewiss einige Freiheiten heraus, da sie die (hier gemeinte)

Angst-94 Alain Renaut

erfahrung (sie kann laut Heidegger dem Dasein erlauben, sich von der Uneigentlichkeit loszureissen) als eine „Intuition unserer Kontingenz“ in-terpretiert – obgleich sowohl in Sein und Zeit wie auch in Was ist Meta-physik? die Angst zuerst und vor allem als eine Offenbarung des Seins auftrat. Ob nun gekünstelt oder nicht – die Bezugnahme auf Heidegger bleibt doch in einem doppelten Sinn bezeichnend:

– Auf der einen Seite wird erkennbar, wo die Ethik im Geiste Sartres zur Ontologie des Für-sich hinzukommt: Da die Unbewusstheit der Kon-tingenz mich verdinglicht (indem sie mich dahin lenkt, die Aufgabe der Nichtung des Seins zu vernachlässigen), hängt es von dieser Intuition der Kontingenz und von ihrer Übernahme durch das Bewusstsein ab, ob das Subjekt tatsächlich Subjekt, Für-sich und nicht An-sich, also authen-tisch ist. In diesem Sinn ist das Für-sich eine Aufgabe, ein Horizont, den es zu konstruieren gilt, während es gleichzeitig (als Nichtung) auch den Motor dieser Konstruktion darstellt. Diese rätselhafte Verdoppelung des Für-sich (menschliche-Realität, aber auch Aufgabe oder Ideal der Menschheit), bringt es mit sich, dass sich die Ontologie nicht nur der Ethik öffnet, sondern in ihrem Innersten selbst, als Ontologie der mora-lischen Existenz, eine ethische Dimension enthält.

– Auf der anderen Seite hat diese Bemerkung zu Heideggers Reflexion über die Passage vom Uneigentlichen zum Eigentlichen aber auch den Nutzen, durch eine kritische Beobachtung ergänzt werden zu können:

„Heideggers Beschreibung lässt jedoch allzu deutlich die Bemühung erkennen, ontologisch eine Ethik zu begründen, um die er sich an-geblich nicht kümmert“ (SN 174; EN 122).

Von dieser Feststellung mitgerissen, zögert nun Sartre nicht, Heideggers

„Humanismus“ zu evozieren – und ist somit ab 1943 (also vor dem Brief über den Humanismus) der Auffassung, dass, auch wenn der Autor von Sein und Zeit selber das Projekt einer Ethik zurückweist, sein Werk (namentlich der mit der Idee der Authentizität implizit enthaltene Hu-manismus, der eine Bestimmung dessen, was der Mensch eigentlich ist, voraussetzt) trotzdem dieses Projekt nicht nur autorisiere, sondern es geradezu herbeiwünsche. Auch scheint der Sartre jener Epoche die Arti-kulation einer Ethik aus der Ontologie des Für-sich nicht als einen Bruch (wenn nicht dem Wortlaut so doch dem Geiste nach) mit dem aufgefasst zu haben, was die heideggersche Analytik der „menschlichen-Realität“ unternommen hatte. In Anbetracht dessen, was diese Analytik als charakteristisch für eine solche „Realität“ enthüllte, konnte die mora-lische Perspektive von nun an tatsächlich in der Ontologie des Daseins

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enthalten erscheinen, und dies selbst, wenn Heidegger behauptet hätte, sein Ziel läge nicht dort. Sartres Überraschung, als der Brief über den Humanismus jede ethische Fragestellung verdammte, lässt sich gut vor-stellen – um so mehr, als die moralische Perspektive (als implizit in der Ontologie enthalten) nun einmal in Das Sein und das Nichts hervorgeho-ben war. Das Werk hatte seinerseits die Spurensuche nach den konstitu-tiven Bestimmungen der Subjektivität weiter verfolgt, indem es aus dem Für-sich die „einzige Quelle des Wertes“ machte – wie es in einer Bestimmung am Schluss des Buches heisst –, um das fortgesetzte Nach-forschen in Richtung Moralphilosophie zu rechtfertigen.