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2 Das Problem der Phänomenalität und des Seins

Modernes Denken huldigt Sartre zufolge einem Monismus des Phäno-mens. Darin liegt ein Fortschritt, sofern dieser Phänomenalismus einige unbefriedigende Dualismen überwunden hat. Aber das ist nur um den Preis einer Reduktion gelungen. Es wurde das (als seiend) Existierende auf die Erscheinungen reduziert, die es manifestieren. Diese Reduktion ist zum Scheitern verurteilt, so urteilt Sartre. Man wird durch sie das Sein nicht los.

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Im ersten Abschnitt der Einleitung trägt Sartre einige Dualismen vor und kritisiert deren Unzulänglichkeit, weil in ihnen sich immer wieder das „Sein, das nicht erscheint“, der Erscheinung entgegensetzt, so dass sich wieder Dualismen erzeugen. Aber jeder Rückgriff auf noumenales Sein ist „hinterweltlerisch“ (vgl. SN 11 f.; EN 13 f.).

Es sei einiges Inhaltliches erwähnt. Die Unterscheidungen von Innerem und Äusserem, von Vordergrund und dem Eigentlichen, das hinter ihm liegt, sind in der Moderne, z. B. in den Wissenschaften, als untauglich fallen gelas-sen worden, das Seiende in seinem Sein gegen nur Phänomenales abzugren-zen. Es gibt Zusammenhänge von Erscheinungen (z. B. den physikalischen Wirkungszusammenhang), die auf kein Sein angewiesen sind.

Lässt sich mit der Unterscheidung von Potenz und Akt in der Frage nach dem Bezug von Phänomen und Sein weiter kommen? Hinter dem aktuellen Sein (z. B. des Bewusstseins) liegt kein potenzhaftes Sein. Es geht ihm kein wesenhaftes Möglichsein voraus, dessen faktische Verwirk-lichung ein einzelhaft-aktuelles Seiendes wäre. Die bei Husserl noch wei-ter lebende Wesensphilosophie wird von Sartre abgelehnt.

Landet man mit der Ansetzung von Reihen von Erscheinungen nicht in einem neuen, noch unerwähnten Dualismus: Dem von Endlichem und Unendlichem? Einzelerscheinungen als endliche verweisen auf einen un-endlichen Erscheinungszusammenhang, der niemals erscheinen kann. Und doch ist jedes Glied der Reihe seiend. So tut sich mit dem Begriffspaar endlich – unendlich wiederum ein Dualismus auf, indem die ganze Reihe der Erscheinungen sich als transzendent dem Erscheinen entzieht. Liegt in ihr ein nicht-erscheinendes Sein? Oder ist sie, sofern in ihr nur das Wesen der Erscheinung liegt, nicht von einem Sein getragen?

Die angedeuteten Möglichkeiten, die Phänomene zu verstehen und sie evtl. auf Sein hin anzusprechen, bleiben aporetisch. Von ihnen aus lässt sich nicht zu der von Sartre intendierten phänomenologischen Ontologie gelangen. Aber: „Wenn das Wesen der Erscheinung ein ,Erscheinen‘ ist, das sich keinem Sein mehr entgegensetzt, gibt es ein legitimes Problem des Seins dieses Erscheinens“ (SN 14; EN 14). Wie muss sich das Phänomen in diesem Fall zeigen? Oder sollte besser gesagt werden: Wie muss das Phänomen in diesem Fall genommen werden? Sartre hält, wie es scheint, – in philosophischer Voreingenommenheit – daran fest, dass Phänomen schlechthin Seinsphänomen ist, so dass eine Zuwendung zum Phänome-nalen nicht von der Seinsfrage entlastet – obwohl rein monistische oder dualistische Ansichten nicht in Frage kommen.

Lässt sich behaupten, dass bei Husserl und Heidegger, den beiden Ge währsleuten Sartres, Sein im Phänomenalen „aufgeht“? In welchem Sinne?

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Im Sinne des Bedingtseins durch ein transzendentales phänomenalisie-rendes Bewusstsein? Oder im Sinne eines lichtenden Hervorgehens für ein erkenntnisfähiges Wesen? Geht bei den beiden deutschen Phänome-nologen Sein nicht so in die Offenbarkeit für […] auf, dass es sich im Erkennen in einer Entsprechung zu Bewusstsein und Dasein aufschliesst, dass es sich Sartrescher Diktion zufolge darin erschöpft, sich zum Er-scheinen zu bringen1. Dann aber würde das so aufgegangene Sein seiner dem Bewusstsein oder dem Dasein gemässen Aneignung nicht den Wi-derstand entgegensetzen, der sich darin ankündigt, dass es Nicht-Bewusst-sein ist, wie Sartre vorgreifend im ersten Abschnitt der Einleitung andeu-tet: „Die Realität dieser Tasse besteht darin, dass sie da ist und dass sie ich nicht ist“ (SN 12; EN 13).

Sollte es nicht unter modernen wissenschaftsphilosophischen Ge-sichtspunkten eine Erkenntnis der Phänomene geben, die nicht an der Sartreschen Seinsfrage ausgerichtet ist? Es müsste dann ein in seinem phänomenalen Sein erkanntes Phänomen vom Seinsphänomen unter-schieden werden. Der Begriff des Phänomens wäre als doppeldeutig zu nehmen. Sich erkennend am Phänomen-sein zu orientieren wäre gleich-bedeutend damit, das Phänomen nicht als Seins-phänomen zu sichten.

Ist es z. B. für die Physik, sofern sie sich mit der gesetzmässigen Ab-hängigkeit der Erscheinungen voneinander befasst, erforderlich, auf das sich im Phänomen enthüllende Sein einzugehen? Ist, dies zu tun, nicht eine von der objektivwissenschaftlichen Erkenntnis zu trennende Aufgabe der philosophischen Ontologie, für die der Bezug der Er-kenntnis zum Sein ein Problem ist, welches die Naturwissenschaft nicht hat. Sartre visiert dagegen in einer universal ontologischen Ein-stellung das Phänomen daraufhin an, dass und wie sich in ihm Sein enthüllt. „Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es erscheint. So gelangen wir zur Idee des Phänomens, wie man sie zum Beispiel in der ‚Phänomenologie‘ Husserls oder Heideggers antreffen kann, zum Phänomen oder Relativen-Absoluten“ (SN 10; EN 12).

Orientiert man sich, wie oben angedeutet, in einer wissenschaftlichen Erkenntnis innerhalb des Phänomen-seins, so setzt man den Erscheinun-gen kein Sein entgeErscheinun-gen. Man interessiert sich gar nicht für eine solche Entgegensetzung und die ihr vorausliegende philosophische Fragestellung nach dem Bezug von Phänomen und Sein. Sartre verfährt dagegen so, als wäre das Phänomen einfachhin und schlechthin Phänomen von Sein, als

1 Sartres Vereinheitlichung und Vereinnahmung der beiden deutschen Phänomenologen, indem er sie z. B. gegen Kant ausspielt, bedarf einer ständigen Prüfung.

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wäre es das Wesen des Phänomens, Sein erscheinen zu lassen, ohne dass sein „ist“ durch Phänomenalität modifiziert wäre. Sartre traktiert die Seins-frage als eine Welt und Mensch betreffende SachSeins-frage; d. h. so, als sei sie nicht geschichtlich bedingt oder interpretativ/operativ manipulierbar, weil es für sie keinen geschichts- und interpretationsunabhängigen Referenz-und Selbigkeitsbezug gibt. Aber kann man ohne Interpretationen, Wertun-gen und EntscheidunWertun-gen von so etwas Philosophischem wie dem Sein handeln?

Seine eigene Weise, das Sein zu suchen und zu finden, bereitet Sartre im zweiten Abschnitt der Einleitung folgendermassen vor: Wenn das Erschei-nen von Erscheinungen nicht mehr einem Sein entgegengesetzt ist, so dass also für die Seinssuche kein Ort mehr ausserhalb des Erscheinens bleibt, dann muss nach dem Sein des so fixierten Erscheinens gefragt werden.

Sartre nimmt einen neuen Anlauf, um von Phänomenalem aus an das von ihm gesuchte Sein heranzukommen.

Lässt sich der Übergang von existierenden einzelnen Objekten zum Seinsphänomen vergleichen mit dem Überschritt vom einzelnen Rot auf sein Wesen hin? Zur Wesensallgemeinheit erhobene Qualitäten von ein-zelnen Objekten sind etwas, als was sich das Objekt enthüllt. Sie gehören zur Reihe seiner Erscheinungen, betreffen aber nicht sein Sein, wie wir bereits aus dem ersten Abschnitt wissen. Sein läge sonst im allen gemein-samen Wesen. „Das Objekt besitzt nicht das Sein, und seine Existenz ist weder eine Partizipation am Sein noch irgendeine andere Art von Be-ziehung. Es ist, das ist die einzige Art, seine Seinsweise zu definieren“

(SN 15; EN 15). Objekt zu sein, Eigenschaften zu haben – und so zu exi-stieren – das ist nicht diejenige Einheit von Sein und Exiexi-stieren, von der Sartre an anderen Stellen der Einleitung handelt. „Das Existierende ist Phänomen, das heisst, es zeigt sich selbst als organisierte Gesamtheit von Qualitäten an. Sich selbst und nicht sein Sein“ (SN 16; EN 15). So zu existieren gehört dem Phänomen-sein zu, von dem oben gesprochen wor-den ist. Darin liegt nicht das Sein, das die Bedingung jeder Enthüllung durch die Erkenntnis ist (vgl. SN 16; EN 15).

Man sieht: Es besteht die Gefahr, bei der Frage nach dem Sein des Phänomens doch wieder im Phänomen-sein hängen zu bleiben und damit die ontologische Problematik zu verfehlen. Um einem solchen Fehler vor-zubeugen, betont Sartre: „Sicher kann ich diesen Tisch oder diesen Stuhl auf sein Sein hin überschreiten und die Frage nach dem Tisch-sein oder dem Stuhl-sein stellen. Aber in diesem Augenblick wende ich die Augen von dem Phänomen-Tisch ab, um sie auf das Phänomen-sein zu richten, das nicht mehr die Bedingung jeder Enthüllung ist – sondern das selbst ein

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tes ist, eine Erscheinung, und das als solche seinerseits ein Sein benötigt, auf dessen Grundlage es sich enthüllen könnte“ (SN 16; EN 15).

Erst jetzt, nach diesen umwegigen Vorbereitungen, trägt Sartre die erste entscheidende Konsequenz seiner Gedankengänge vor. Das Sein des Phäno-mens ist nicht auf das Phänomen des Seins zu reduzieren. Das Phänomen des Seins ist ontologisch zu nehmen. Sein mag Sein-zum-Enthüllen sein;

es selber aber ist nicht-enthüllt. Es ist die (vorgelagerte) Bedingung jeder Enthüllung. Alles sich am existierenden Objekt Enthüllende – auch das existierende Objekt selber als sich enthüllendes – ist auf ein Sein ange-wiesen, auf dessen Grundlage es sich enthüllen kann. Das gilt auch für das Phänomen-sein. Man ist versucht, als Ergebnis festzuhalten, das Wort Sein bedeutet etwas, das von jedem (Abhängigkeits-)Bezug auf Enthülltsein (Phänomen-sein) unterschieden ist.

Die Phänomene können (in der ihnen eigentümlichen Weise zu sein) in Begriffen gefasst werden. Die (begrifflich verfasste) Erkenntnis kommt aber an das Sein, das sich in den Phänomenen „ankündigt“, nicht heran.

Sie bleibt im Phänomenzusammenhang stecken. Aber deswegen kann sie auch nicht die Suche nach dem Sein befriedigen. Erst im Seinsphänomen muss demnach ein Ungenügen liegen, das dazu nötigt, es zum Sein hin zu überschreiten. Sartre vergleicht diese Situation mit der des ontologischen Gottesbeweises, der von begrifflich-Gedachtem aus sich nötigt, zum Sein überzugehen, wie es von jenem begrifflich-Gedachten unterschieden ist;

allerdings so unterschieden, dass es dem Gedachten und dem Denken erst seine Möglichkeiten eröffnet – wovon bei Sartre keine Rede sein kann – so dass es zu einem dem Sein angemessenen Denken kommt, ohne dass das Sein deswegen Phänomen-sein wäre. Sartre drückt das von ihm Gemein-te, das von nun an die Basis für alle weiteren Gedankenentwicklungen sein wird, folgendermassen aus: „Als Phänomen [als Seinsphänomen] verlangt es nach einer transphänomenalen Grundlage. Das Seinsphänomen ver-langt die Transphänomenalität des Seins. Das heisst weder, dass sich das Sein hinter den Phänomenen versteckt findet […] – noch, dass das Phäno-men ein Erscheinen ist, das auf ein besonderes Sein verweist […] Die bisherigen Überlegungen implizieren, dass das Sein des Phänomens, ob-wohl dem Phänomen koextensiv, der Phänomenalität entgehen muss – nämlich nur insoweit zu existieren, als es sich offenbart – und dass es folglich über die von ihm gewonnene Erkenntnis hinausgeht und sie be-gründet“ (SN 16–17; EN 16). Wie ist transphänomenales Sein, das vom Phänomen des Seins gefordert wird, verfasst? Wenn das Sein des Phäno-mens sich so zeigt, dass es nicht nur ist, sofern es dem Bewusstsein zugäng-lich ist, dann muss es der Bedingung der Phänomenalität entgehen und als

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solches erfasst werden können. Kann das anders vonstatten gehen, als dass die in der Intentionalität verbundenen Typen von Sein sich nur in einer negierenden Abstossung aneinander gekettet finden, indem einer von ih-nen dafür aufkommt, dass der andere als Phänomen ihm sein nicht-phä-nomenales Sein „indiziert“?