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1.1 »Daß wir unsere Fabrike mit Aufopferung eines großen Vermögens in einen blühenden Zustand versetzt haben« 2 –

der wirtschaftliche Aufstieg einer kleinen Elite

Am 5. April 1831 wurden im großen Promotionssaal des Prager Carolinum in Anwesenheit des Oberstburggrafen und Landespräsidenten Carl Graf Chotek (1783–1868) 192 böhmische Handwerker und Fabrikanten, die sich um die heimische Industrie in besonderer Weise verdient gemacht hatten, ausgezeich-net. Unter den solchermaßen Geehrten befanden sich auch einige wenige Mit-glieder der Prager jüdischen Gemeinde, darunter die Gebrüder Moses und Juda Löw (Leopold) Porges sowie Leopold Jerusalem (1789–1842) und Aron Beer Przibram (1780–1853).3Letztere erhielten in Anbetracht ihrer offenbar

heraus-1 Bericht der Beurtheilungs-Commission über die im Jahre heraus-1829 unter der Leitung des böhmischen k. k. Landesguberniums statt gefundene öffentliche Ausstellung der Industrie-Erzeugnisse Böhmens. Von dem k. k. Landesgubernium am 5. April 1831, dem Tage des Prä-mienfestes, durch den Druck zur allgemeinen Kenntnis gebracht. Prag 1831, 109 f. [Verleihung der Silbernen Medaille an die Fabrik »Jerusalem & Przibram«].

2 NA,České Gubernium-Commerciale (im FolgendenČG-Com) 18061815, 14/72, Moses Jerusalem und Aron Beer Przibram an das böhmische Landesgubernium, Prag, 22. 2. 1814.

3 Des Weiteren wurde die Kattundruckerei »Wiener & Söhne«, deren Besitzer mit der Familie Lämel verschwägert waren, sowie die Spinnerei Aron Dormizers, eines entfernten Ver-wandten Leopold Dormizers ausgezeichnet, vgl. Bericht der Beurtheilungs-Commission, 100 sowie 94.

ragenden Leistungen sogar eine der zwölf Silbermedaillen, die die Kommission zu vergeben hatte.4 Wie im Beurteilungsbericht zu lesen stand, war der Aufbau der gemeinschaftlich geführten Kattundruckerei Jerusalem & Przibram »mühe-voll und äußerst schwierig« gewesen.5Mit dieser Äußerung spielte die Kommis-sion auf den Umstand an, dass die Fabrik nicht, wie es die zeitgenössische öko-nomische Fachliteratur als vorteilhaft propagierte, mit vergleichsweise geringen Kosten auf dem Lande errichtet worden war,6 sondern unter gesteigertem finanziellen Aufwand in den Dörfern Rosenthal7und Smichow8unmittelbar vor den Toren Prags.

Tatsächlich war die Gründung und Etablierung des Unternehmens –ebenso wie bei den Gebrüdern Porges, Leopold Dormizer (1790–1851) und Leopold Lämel (1790–1867) – von zahlreichen Schwierigkeiten begleitet gewesen, die jedoch weniger mit der topographischen Lage der Fabriken als vielmehr damit zusammenhingen, dass es sich bei den Unternehmern um Juden handelte. Unge-achtet etlicher staatlicher Restriktionen gelang es ihnen jedoch allen, im Laufe des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts florierende Produktionsstätten aufzu-bauen, die mehrere Depressionen überdauern und bis weit in die zweite Jahrhun-derthälfte hinein bestehen sollten. Dieser wirtschaftliche Erfolg, der sich nicht zuletzt in der Stabilität ihrer Unternehmen widerspiegelte, ermöglichte der klei-nen Gruppe Prager jüdischer Textilfabrikanten über mehrere Generatioklei-nen hin-weg eine großbürgerliche Lebensweise. Vor allem aber verschaffte er den Dormi-zer, Jerusalem, Lämel, Porges und Przibram eine außergewöhnlich starke Außenwahrnehmung von jüdischer wie nichtjüdischer Seite, vor deren Hinter-grund sich dieser kleinen Personengruppe ungeahnte Handlungsspielräume im

4 Ebd. 113.

5 Ebd. 108.

6 Vgl.Slokar,Johann: Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I. Mit besonderer Berücksichtigung der Großindustrie und unter Benützung archivalischer Quellen verfasst. Wien 1914, unveränderter Nachdruck Wien 2003, 18 f. Fabrik-gründungen auf dem Land galten als preiswerter, da die Unterhaltskosten hier deutlich geringer ausfielen als in den großen Städten. Aus Sicht der Behörden spielte jedoch seit der Französi-schen Revolution vermutlich auch die Furcht vor sozialen Unruhen eine große Rolle, die man von den Großstädten fernhalten wollte.

7 Tsch. Růžodol. Die auf einem dem Kreuzherrenorden gehörigen Rosengarten im ausge-henden 18. Jahrhundert entstandene, hauptsächlich aus Fabriken bestehende Ansiedlung wurde 1817 zur Prager Vorstadt erhoben und erhielt zu Ehren von Kaiserin Karoline Auguste, der vierten Ehefrau Kaiser FranzI. den Namen Karolinenthal (tsch. Karlín). Seit 1922 ein Stadtteil Prags (Praha 8). Zur Geschichte der industriellen Entwicklung Karolinenthals sieheMíka, Zde-něk: Průmyslové předměstí Karlín v 19. století a jeho význam pro Prahu (Die Industrievorstadt Karolinenthal im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für Prag). In: PSH 9 (1975) 78141.

8 Tsch. Smíchov. Altes, südwestlich von Prag gelegenes Dorf, 1922 eingemeindet (Praha 5).

Zu seiner Geschichte siehe Kap. 5.1.

städtischen Raum eröffneten. Wie gestaltete sich dieser ökonomische Aufstieg?

Wie lässt sich die unternehmerische Tätigkeit dieser Familien charakterisieren?

Wie reagierte das berufliche Umfeld, christliche Konkurrenten und gegebenen-falls auch Fabrikarbeiter, auf die Tatsache, dass einige der erfolgreichsten Prager Textilfabrikanten Juden waren? Wie ging die hier untersuchte Personengruppe mit eventuellen antijüdischen Ressentiments auf professioneller Ebene um?

Fragt man nach den Gründen des langanhaltenden wirtschaftlichen Erfolges Prager jüdischer Textilunternehmer, so stößt man auf Erklärungsansätze, die sich vorrangig auf Nischen- und Netzwerktheorien stützen.9 Insbesondere die erhöhte Flexibilität, die Juden aufgrund ihrer jahrhundertealten Erfahrung wirt-schaftlicher und sozialer Beschränkungen besessen hätten, habe sich vorteilhaft ausgewirkt, als sich althergebrachte ökonomische Strukturen, wie die von den Zünften dominierte handwerkliche Produktion, infolge einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik zu wandeln begannen.10In gewisser Weise seien Juden daher

»moderner« als ihr in rechtlicher Hinsicht begünstigtes nichtjüdisches Umfeld gewesen, was ihnen, wie im Falle der noch jungen böhmischen Textilindustrie im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, zugutegekommen sei, da sich die Textilerzeugung auf Dauer nicht erfolgreich nach zünftischen Prinzipien organisieren lasse: Für eine monogewerbliche Betriebsführung, wie sie die Zünfte vorschrieben, sei sie ungeeignet, da sie verschiedene Produktionsweisen, wie das Weben, Bleichen, Färben und Drucken, miteinander kombiniere.11 Darüber hinaus erfordere die Tuchherstellung die Bereitschaft, längere Wartezeiten zu überbrücken, bis die Gewinnschwelle erstmals überschritten werde, wozu kleine Handwerksbetriebe aus strukturellen Gründen in der Regel nicht in der Lage gewesen seien.12Auf diese Weise habe sich eine ökonomische Lücke aufgetan, die innovative jüdische Unternehmer erfolgreich hätten füllen konnten.

Trotz dieser sicherlich zutreffenden Beobachtungen wäre es jedoch irrefüh-rend, jüdische Textilunternehmer in Böhmen, wie die hier untersuchten Fami-lien der Dormizer, Jerusalem, Lämel, Porges und Przibram, als alleinige Vorreiter der noch jungen industriellen Branche zu betrachten. Obgleich im Jahre 1807, zu einer Zeit, als die böhmische Tuchproduktion infolge der von Napoleon 1806

9 Allg. zur Deutung jüdischer Wirtschaftstätigkeit in der Geschichtswissenschaft vgl. den neu erschienenen SammelbandReuveni,Gideon/Wobick-Segev,Sarah (Hg.): The Economy in Jewish History. New Perspectives on the Interrelationship between Ethnicity and Economic Life. New York, Oxford 2011.

10 Allg. beiLässig: Jüdische Wege ins Bürgertum 44.

11 Kestenberg-Gladstein: Neuere Geschichte der Juden 100.

12 Ebd. 100 f. Bei der Gewinnschwelle handelt es sich um denjenigen Punkt, an dem der Umsatz die gleiche Höhe wie die Produktionskosten erreicht hat. Jeglicher Umsatz, der diese Schwelle überschreitet, kann als Gewinn verbucht werden.

verhängten Kontinentalsperre prosperierte, in ganz Böhmen immerhin 15 jüdi-sche Baumwollfabriken gezählt wurden, befand sich die überwiegende Mehrheit, nämlich 43 Unternehmen, in christlichem Besitz.13Wie das Beispiel des 1770 gegründeten Unternehmens der Familie Leitenberger in Nordböhmen belegt, gab es eine Reihe erfolgreicher nichtjüdischer Fabrikanten.14 Zudem mussten etliche jüdische Fabrikanten, ebenso wie ihre christlichen Konkurrenten, ihre Produktionsstätten infolge wirtschaftlichen Niedergangs oder aus innerfamiliä-ren Gründen noch vor der Jahrhundertmitte schließen.15

Dennoch legt der im Vergleich zum Gesamtbevölkerungsanteil hohe Prozent-satz jüdisch geführter Textilfabriken von rund 25 Prozent nahe, dass die indust-rielle Tuchproduktion für die böhmischen Juden große Attraktivität besaß. Die Ursache lag vermutlich in der gezielten Förderung der Textilbranche von Seiten des Staates, die sich, zumindest in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung, auch auf jüdische Unternehmer erstreckte. 1773 wurde beispielsweise der Zunftzwang für das Weben und Bedrucken von Leinen und Baumwolle aufgehoben,16der bis dahin Juden an der Ausübung dieser Gewerbe gehindert hatte. Außerdem bildete sich Ende des 18. Jahrhunderts allmählich die Unterscheidung zwischen einfa-chen und förmlieinfa-chen Landesfabriksbefugnissen heraus, in deren Folge sich schließlich ein umfangreiches Privilegiensystem für die Betreiber landesbefugter Fabriken etablierte.17Zahlreiche staatliche Erhebungen, die den Stand der Tuch-produktion in Böhmen zum Zwecke notwendiger Reformen erfassten, belegen eindrücklich das starke obrigkeitliche Interesse an einer Erhöhung der

inländi-13 Zahlen nach ebd. 101.

14 Die Kattunfabrik IgnazLeitenbergers in Reichstadt, Bunzlauer Kreis, hatte bei der ein-gangs erwähnten Prämierung 1829 eine der fünf vergebenen Goldmedaillen erhalten, siehe Bericht der Beurtheilungs-Commission 115. Zur Firmengeschichte der Familie Leitenberger sieheOtruba,Gustav: Die Familie Leitenberger. In:Seibt,Ferdinand (Hg.): Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder. Bd. 4. München 1981, 91117.

15 Die 1813 gegründete Kattundruckerei Wiener & Söhne, die noch 1835 160 Drucktische und zwei Druckmaschinen betrieben hatte, wurde 1839 aufgegeben, sieheSlokar: Geschichte der österreichischen Industrie 300. Die großen Kattundruckereien der Familien Epstein und Brandeis schlossen ihre Pforten infolge der Revolution 1848, sieheStölzl: Zur Geschichte der böhmischen Juden 218. Die Karolinenthaler Fabrik von Koppelmann Porges (der in keinem näheren Verwandtschaftsverhältnis zu Moses und Juda Löw [Leopold] Porges stand) stellte ihre ehemals bedeutende Produktion in den 1830er Jahren allmählich ein, sieheSlokar: Geschichte der österreichischen Industrie 302.

16 Míka,Zdeněk: Počátky průmyslové výroby v Praze. Od nejstarších manufaktur k poč át-kům strojové výroby (Die Anfänge der Industrieproduktion in Prag. Von den ältesten Manu-fakturen zu den Anfängen der maschinellen Produktion). In: PSH 12 (1980) 85164, hier 87.

17 Kopetz,W. Gustav: Allgemeine östreichische Gewerbs-Gesetzkunde. Oder systematische Darstellung der gesetzlichen Verfassung der Manufacturs- und Handelsgewerbe in den deut-schen, böhmideut-schen, galizideut-schen, italienischen und ungarischen Provinzen des östreichischen Kaiserstaates. Bd. 1. Wien 1829, § 82.Slokar: Geschichte der österreichischen Industrie 128 f.

schen Produktion.18Dies entsprach einerseits den Grundsätzen des in Österreich bis Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden Merkantilismus, der eine staatli-che Lenkung des Handels forderte, um auf diese Weise die Staatseinkünfte zu erhöhen. Andererseits stellte das Bestreben, speziell die böhmische Wirtschaft auszubauen, eine Reaktion auf den Verlust großer Teile Schlesiens 1742 an Preu-ßen dar, das vormals das wirtschaftliche Zentrum des Landes gebildet hatte.19 Unternehmensgründungen durch Juden erfuhren darüber hinaus eine gewisse positive Bewertung durch die Obrigkeit, da sie mit deren Bestrebungen koinzi-dierten, die jüdischen Untertanen zu »nützlichen« Gewerben anzuregen und so ihre als unproduktiv erachtete Handelstätigkeit einzuschränken.20

Gerade diese Erwägung offenbart jedoch die Problematik, mit der sich jüdi-sche Fabrikanten in Böhmen konfrontiert sahen: Der Staat begünstigte die Grün-dung ihrer Unternehmen ausschließlich aus utilitaristischen Motiven. Dies bedeutete, dass alle rechtlichen und sozialen Neben- und Folgeaspekte, die das verstärkte ökonomische Engagement jüdischer Unternehmer mit sich brachte, unberücksichtigt blieben. Eine wie auch immer geartete gesellschaftliche »Ein-bettung« der Wirtschaftsförderung fand von Seiten des Staates nicht statt.21Im Alltag kollidierte das Interesse des Staates an der Steigerung seiner wirtschaftli-chen Produktivität daher nicht selten mit den für Juden geltenden Sonderbestim-mungen.22Die daraus entstehenden Konflikte fanden ihren Niederschlag in den ausgedehnten Gesuchen, die jüdische Fabrikanten an die böhmischen

Landes-18 So ließ das Gubernium um Landes-1800 mehrfach die Menge der in Böhmen erzeugten Tuch-und Wollwaren sowie die Höhe des Wollverbrauchs der Tuchmanufakturen feststellen. Außer-dem wurden Vergleiche zwischen der Effektivität zünftisch organisierter Tuchmachermeister und unzünftisch organisierten Tuchfabriken angestellt, vgl. z. B. NA,ČG-Com 18061815, 8/1 5. Ähnliche Analysen sind auch aus der Zeit der Wirtschaftskrise nach Aufhebung der Konti-nentalsperre 1814 belegt, so beispielsweise ein neunundfünfzigseitiger Gubernialbericht an die Kommerzhofkommission in Wien »Uiber [sic] die Stockung des Leinwandhandels und den Verfall der Leinwandmanufakturen« vom 21. 11. 1817, NA,ČG-Com 18161825, 12/25. Allg.

zur Geschichte der Textil- bzw. Baumwollindustrie in Europa sieheRiello,Giorgio (Hg.): The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles, 12001850. Oxford 2009. Speziell zur Entwicklung in Österreich und den böhmischen Ländern: Freudenberger, Herman: Lost Momentum. Austrian Economic Development 1750s-1830s. Vienna u. a. 2003.Komlosy, An-drea: Austria and Czechoslovakia. The Habsburg Monarchy and its Successor States. In:Voss, Lex Heerma van u. a. (Hg.): The Ashgate Companion to the History of Textile Workers, 1650 2000. Farnham 2010, 4373.

19 Míka: Počátky průmyslové výroby v Praze 86.

20 Vgl. die Bestimmungen des Toleranzpatents für Böhmen aus dem Jahre 1781, das »die Öffnung einiger bisher beschränkte[r] Nahrungswege« für Juden anstrebte und aus diesem Grund auch die Erlaubnis, Fabriken zu gründen, erneuerte.Leininger: Auszug aus dem Ghetto 121 f.

21 Kieval: Cautions Progress 79.

22 Leininger: Auszug aus dem Ghetto 142.

stellen richteten. Wenngleich diesen, was ihren rein betriebswirtschaftlichen Gehalt betraf, in der Regel nach einem längeren innerbehördlichen Schriftwech-sel stattgegeben wurde, erforderte das Prozedere einen deutlich erhöhten Auf-wand für die Antragsteller. Da sie in ihrer Funktion als Fabrikanten zwar von der Regierung grundsätzlich unterstützt, im Hinblick auf ihre ethnisch-religiöse Zugehörigkeit jedoch rechtlich benachteiligt wurden, nahmen die jüdischen Unternehmer Böhmens, darunter auch die hier untersuchten Prager Textilfabri-kanten, eine Sonderstellung innerhalb ihrer Berufsgruppe ein. Die Jerusalemin-sel, eine der Prager Moldauinseln, auf der sich Teile der Kattundruckerei Moses (1763–1824) bzw. Leopold Jerusalems und Aron Beer Przibrams in Karolinen-thal befanden,23scheint diese vereinzelte Position im Prager Stadtraum zu ver-sinnbildlichen. Benannt nach ihrem Eigentümer, der Familie Jerusalem, war sie den Pragern in topographischer Hinsicht zwar geläufig, von ihrer unmittelbaren Umgebung jedoch separiert.

Der Aufstieg der hier untersuchten Personengruppe fand im Wesentlichen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert statt, als die böhmische Tuchproduk-tion ihren zweiten großen Aufschwung erlebte.24 Leider lässt sich anhand der erhaltenen Akten des böhmischen Guberniums nicht mehr feststellen, wie die Fabrikgründungen finanziert wurden. Es hat jedoch den Anschein, als ob die Mehrheit der angehenden Unternehmer bereits vorher über ein gewisses, vor-wiegend aus einer Handelstätigkeit stammendes Vermögen verfügt habe, das ihr erste Investitionen deutlich erleichterte.25Salomon Przibram (gest. 1802) betrieb

23 Die Jerusaleminsel (tsch. Jerusalemský ostrov) befand sich im Norden Prags auf der Höhe Karolinenthals. Im 18. und 19. Jahrhundert war es in Prag keine Seltenheit, dass Moldau-inseln nach ihren Eigentümern benannt wurden. Abgesehen von der Familie Jerusalem traten einzelne Prager Juden jedoch anscheinend nicht als Namensgeber auf. Um 1900 wurde die Jerusaleminsel mit der benachbarten Rohaninsel, deren Name von ihrem früheren Eigentümer, dem Zimmermannmeister Josef Rohan (18121892), abgeleitet ist, zusammengelegt, vgl.Lašť -ovka,Marek (Hg.): Pražský uličník. Encyklopedie názvůpražských veřejných prostranství (Pra-ger Straßenführer. Eine Enzyklopädie der Bezeichnungen des Pra(Pra-ger öffentlichen Raums).

Bd. 2: O -Ž. Praha 1998, 147 f. Eine Übersicht über alle früheren und heutigen Moldauinseln beiČarek,Jiří u. a.: Ulicemi města od 14. století do dneška. Názvy mostů, nábřeží, náměstí, ost-rovů, sadůa ulic hlavního města Prahy, jejich změny a výklad (Auf den Straßen der Stadt vom 14. Jahrhundert bis heute. Die Bezeichnungen der Brücken, Kais, Plätze, Inseln, Parks und Stra-ßen der Hauptstadt Prag, ihr Wandel und ihre Bedeutung). Praha 1958.

24 Vgl.Komlosy: Austria and Czechoslovakia 4858.

25 DagegenLeininger: Auszug aus dem Ghetto 300. Die Beobachtung, dass ein Großteil der später erfolgreichen Prager jüdischen Textilunternehmer bereits vor der Unternehmensgrün-dung über Kapital verfügte, das vorwiegend aus einer erfolgreichen Handelstätigkeit stammte, deckt sich indessen mit Kockas These von der »außerordentlich starke[n], wenn nicht gar füh-rende[n] Rolle von Kaufleuten in der deutschen Industriellen Revolution«, vgl.Kocka,Jürgen:

Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1975, 47.

viele Jahrzehnte Wollhandel größeren Stils,26 bevor er in vorgerücktem Alter 1798 die Lizenz zur Errichtung einer Zitz27-, Cotton- und Leinwanddruckfabrik mit zugehöriger Bleiche in Rosenthal bei Prag erhielt. Den dafür notwendigen Grund durfte er käuflich erwerben, gemäß den für Juden geltenden Bestimmun-gen musste er sich jedoch verpflichten, denselben an einen Christen zu verkau-fen, »im Falle über kurz oder lang diese Fabrik in Verfall gerathe, oder freywillig aufgelassen würde«.28Zwei Jahre später, am 16. August 1800, wurde sein Schwie-gersohn Moses Jerusalem eingetragener Teilhaber des Unternehmens. Bald darauf, am 20. Januar 1802, übertrug Salomon Przibram seinen Fabrikanteil auf seinen Sohn Aron Beer.29

Leopold Dormizer wiederum stammte aus einer weitverzweigten Familie, die in der Prager Judenstadt hohes Ansehen genoss und dort über mehrere Genera-tionen hinweg wichtige administrative PosiGenera-tionen besetzt hatte. Leopolds Vater Markus (Meir) stand der Direktion des jüdischen Steuergefälles vor,30das für die Eintreibung der sogenannten Judensteuer in Böhmen zuständig war.31Er oder einer seiner Verwandten unterhielt gemeinsam mit dem christlichen Fabrikanten Johann Baptist Durazin eine seit 1803 konzessionierte Kattundruckerei in Smi-chow,32die 1814 aufgrund der beginnenden wirtschaftlichen Depression aufge-geben und mit Bewilligung des böhmischen Landesguberniums von Aron Beer Przibram und Moses Jerusalem aufgekauft wurde.331822 eröffnete Leopold Dor-mizer ein eigenes Unternehmen in Holleschowitz bei Prag,34das rasch expan-dierte.

26 Dies belegt mittelbar ein Schreiben Christian Philipp Graf Clam-Gallas(gest. 1805), datiert Prag 25. 11. 1799 an den Magistrat der Stadt Reichenberg, in dem der Graf als Besitzer der Herrschaft Reichenberg anmahnt, dass der Magistrat keine Juden für längere Zeit in der Stadt dulden dürfe. Eine Ausnahme sei aus wirtschaftspolitischen Gründen nur bei 14 Handels-leuten, darunter »Salomon Przybram« und »Simon Lamel« aus Prag bzw. deren Bevollmächtig-ten zu machen. NA,ČG-COM 18061815, 14/53. Der Schematismus für das Königreich Böheim 1789. Prag 1789, 281 verzeichnet Salomon Przibram außerdem als einen der wenigen offiziell zugelassenen »jüdischen Kauf- und Handelsleute«.

27 Zitz = feiner Kattun.

28 NA,ČG-COM 18061815, 14/72, Moses Jerusalem und Aron Beer Przibram an das böhmische Landesgubernium, Prag, 22. 2. 1814.

29 Ebd.

30 Vgl. den Grabstein von Markus (Meir) Dormizer auf dem Prager jüdischen Friedhof an der Fibichová (siehe dazu Kap. 5.4.) sowieGaugusch: Wer einmal war 413.

31 Zur Institution der böhmischen Judensteuer siehe Kap. 4.2.

32 1806 ersuchte die Fabrik »Durazin & Dormitzer« um die förmliche Fabriksbefugnis, die ihr vom Gubernium schließlich zugestanden wurde. NA,ČG-COM 18061815, 14/5.

33 NA,ČG-COM 18061815, 14/72, Böhmisches Landesgubernium an den Prager Magist-rat, Prag, 26. 3. 1814.

34 Tsch. Holešovice, 1884 eingemeindet, heute Praha 7. In zeitgenössischen Dokumenten teilweise auch als Kleinbubna bezeichnet.

Auch Simon Lämel (1766–1845) stammte aus einer wohlhabenden Familie.

Seine Eltern hatten im westböhmischen Tuschkau35 ein prosperierendes Han-delshaus betrieben, so dass er bei seinem Eintritt in das Prager Geschäftsleben bereits über ausreichendes Kapital verfügte.36Darüber hinaus heiratete er 1787 in die geachtete Prager Familie Duschenes ein. Simon Lämel war maßgeblich am böhmischen Handel mit Schafwolle beteiligt,37 gründete jedoch keine eigene Fabrik. Dies tat erst sein Sohn Leopold, der 1836 nach dreimaligem Ansuchen die kaiserliche Genehmigung erhielt, Realitäten »zum Betriebe seines Wollsorti-rungs-, Wollwäsche- und Kammwollgarnspinnerey-Landesfabriks-Befugnißes«

zu erwerben.38 Seine Kammgarnspinnerei bei Prag, die jährlich 500 Zentner Garn produzierte, war eine der ersten ihrer Art in Böhmen.39

Aus ärmlichen Verhältnissen stammten lediglich die Gebrüder Porges. Ihr Vater Gabriel Porges (1738–1824) produzierte zwar Rosoglio, eine Art Fruchtli-kör, doch handelte es sich dabei nicht um ein großes Unternehmen, sondern lediglich um einen Ein-Mann-Betrieb.40Ähnlich wie der bereits erwähnte christ-liche Fabrikant Johann Josef Leitenberger arbeiteten sich Moses und Juda Löw (Leopold) Porges daher buchstäblich von einfachen Druckern zu Fabrikbesitzern empor. Auf finanzielle Unterstützung in Form einer großzügigen Mitgift ihrer zukünftigen Ehefrauen konnten sie dabei nicht hoffen, da ihre Familie in der Judenstadt aufgrund ihrer früheren Zugehörigkeit zur Sekte der Frankisten lange Zeit diskreditiert war.411808 eröffneten die Gebrüder Porges eine kleine Kat-tundruckwerkstatt, die offenbar so florierte, dass sie zehn Jahre später mit einem Vermögen von immerhin 20 000 Gulden eine Fabrik in der Prager Neustadt

35 Tsch. Město Touškov, Kleinstadt ca. 12 km nordwestlich von Pilsen.

36 Wachstein,Bernhard: Die Wiener Juden in Handel und Industrie nach den Protokollen des Niederösterreichischen Merkantil- u. Wechselgerichtes. In:Goldmann,Arthur (Hg.): Nach-träge zu den zehn bisher erschienenen Bänden der Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich. Wien 1936, 265360, hier 337.

37 Vgl. Anm. 26. Simon Lämels wichtige Rolle im böhmischen Wollhandel ist mehrfach belegt, nicht zuletzt in dem Bericht, den das Böhmische Gubernium an die Hofkanzlei am 25. 10. 1811 im Vorfeld von Lämels Nobilitierung sandte, Österreichisches Staatsarchiv (im Fol-genden OeStA)/Allgemeines Verwaltungsarchiv (im FolFol-genden AVA), Adelsakt des Ministe-riums des Innern, Laemel, Simon, jüdischer Großhändler in Prag, Adelstand 5. 12. 1811.

37 Vgl. Anm. 26. Simon Lämels wichtige Rolle im böhmischen Wollhandel ist mehrfach belegt, nicht zuletzt in dem Bericht, den das Böhmische Gubernium an die Hofkanzlei am 25. 10. 1811 im Vorfeld von Lämels Nobilitierung sandte, Österreichisches Staatsarchiv (im Fol-genden OeStA)/Allgemeines Verwaltungsarchiv (im FolFol-genden AVA), Adelsakt des Ministe-riums des Innern, Laemel, Simon, jüdischer Großhändler in Prag, Adelstand 5. 12. 1811.